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"Wir haben keine Heimat mehr...."
Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine
Geschichte kulturellen Antisemitismus im
Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts
Ein Essay von Rainer Hauptmann
Mit einem Vorwort von Herrn Dr. Gottfried Wagner
Für Gundula, Sandra, Natalie, Uwe, Tina,
Daniel +, Georg, Petra, Paul
und mein liebes Mom,
Frau Anita Hauptmann, + 2008,
Felix Mendelssohn Bartholdy in der Jetzt-Zeit, die „causa Mendelssohn“ – von der
Aktualität eines verdrängten Komponisten – Gedanken zu Rainer Hauptmanns Essay
„Wir haben keine Heimat mehr …“ Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte
kulturellen Antisemitismus in Deutschland des 19.und 20.Jahrhunderts
Der Verbleib von Person und Werk Felix Mendelssohns ist im Bewusstsein des heutigen
Publikums eher fragwürdig, denn man war, wie der hier vorgelegte Essay von Rainer
Hauptmann im Einzelnen darlegt, nach Kräften bemüht ihn und seine Musik zu
verdrängen und zu verfälschen.
Die „Causa Mendelssohn „ war die Vernichtung Mendelssohns, die Verdrängung und
Zerstörung des gesamten Oeuvres und Lebens eines einstmals angesehenen
Komponisten. Sie war ein Verbrechen kultureller Art und reiht sich nahtlos in allgemeine
antisemitische Bestrebungen und Geschehnisse ein, welche sich in letzter Konsequenz
bis zur Vollführung des Holocaust entwickeln sollten. Wer sind die Schuldigen an
diesem Verbrechen, wer waren die Täter? Und wo sind die Zeugen?
Die Zeugen werden hier der Reihe nach zu Worte kommen, einer nach dem Anderen.
Der Name Richard Wagner wird im Verlaufe dieses fiktiven Verfahrens genannt. Viele
fragen sich: Richard Wagner hat doch wundervolle Opern geschrieben und ist doch
somit eine Säule des heutigen Musiklebens. Was hat Richard Wagner mit
Antisemitismus und Felix Mendelssohn zu tun? Wie sich im Verlaufe des fiktiven
Gerichtsverfahrens herausstellen wird, verkörpert die Person Richard Wagners eine
Hauptrolle im Bestreben, Mendelssohn zu vernichten, ja, er muss dabei als ein
Haupttäter gelten.
Richard Wagner ist schuldig an einer Stigmatisierung der Person und des Angedenkens
Felix Mendelssohns, seine Schriften stellten eine Art führend wirksame Sprachregelung
im negativen antisemitischen Umgang mit Mendelssohn dar, welche in ihrer
Verunglimpfung, aber auch in ihrer Mechanik, in ihrem Automatismus bis in unsere Zeit
wirksam bleibt. Richard Wagner war ein antisemitischer Titan, dessen Schriften in
Deutschland und in Gesamteuropa und weltweit exzeptionell gelesen wurden. Sein
musikalisches Werk ist in prominenter Art und Weise von antisemitischen, inhumanen
Gedanken und Empfindungen durchzogen. Ungebrochen widmet man ihm bis in unsere
Zeit weihevolle Festspiele, welche von der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und
kulturellen Elite zur Selbsterhöhung rauschhaft frequentiert werden.
Welches Anrecht hat man sein Werk auf deutschen und europäischen Bühnen
bedenkenlos bis heute aufzuführen, besonders an der Bayreuther Wagner Kultstätte?
Die Bayreuther Festspielbühne müsste Aufführungen der Mendelssohnschen Oratorien
und jene der Opern des, gleichfalls von Wagner bis ins Mark geschädigten jüdischen
Komponisten Giacomo Meyerbeer, erfahren, somit eine Konfrontation von Täter und
Opfer auf gleicher Augenhöhe stattfinden. Ohne eine klare Absage von der
antisemitischen Aura stellen die Aufführungen unkommentierter Opern Wagner eine
Beleidigung jener Opfer dar, welche vom Wagnerschen Antisemitismus unmittelbar oder
im weiteren Verlaufe geschädigt wurde.
Das offene Publikum wird im Verlaufe des fiktiven Verfahrens auf die Schönheit der
Mendelssohnschen Musik aufmerksam und die Anhörung ideeller Zeugen bewirken die
Erkenntnis, dass Wagner Unrecht hatte in seiner Behauptung, die Musik Mendelssohns
habe keinen Wert , denn sie beweist, sagt uns damals wie heute das Gegenteil.
Ohne Mendelssohn ist die Musikgeschichte des 19.Jahrhunderts undenkbar. Der
vorgelegte Text in Form eines fiktiven Prozesses gegen Verunglimpfung des
Komponisten ist ein mutiges Engagement für Mendelssohn und andere Verfolgte.
Hauptmann zeigt leidenschaftlich den aktuellen Wert, die Zeitlosigkeit der Gefühle und
Bewegungen dieser Musik für uns heute auf.
Er gibt so seine ehrliche Erkenntnis über die einzigartige musikgeschichtliche
Bedeutung Mendelssohn weiter. Ich wünsche seinem Essay daher viele sensible Leser
und Leserinnen.
Gottfried Wagner, Cerro Maggiore, den 27.Juni 2012
Inhalt
Vorrede (S. 1)
1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne einKünstler würde (S. 3)
2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude (S. 7)
Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden! (S. 16)
3. Der größte lebende Komponist (S. 17)
4. Antisemitismus (S. 19)
5. Das Judenthum in der Musik (S. 20)
6. Ein antisemitischer Eklektizist (S. 27)
7. Eine exzeptionell exclusive Menschen-Race (S. 29)
8. Von der Neudeutschen Schule (S. 33)
9. Von der musikalischen Wahrheit (S. 36)
10. Der letzte Deutsche (S. 43
11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemerenleben... (S. 49)
Intermezzo II: "Felix, thust du nichts?!" (S. 50)
12. Von der E-Musik und der U-Musik (S. 51)
13. Der schönste Zwischenfall der Deutschen Musik (S. 55)
14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette (S. 57)
15. Denkmäler (S. 57)
16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier... (S. 61)
17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut... (S. 61)
18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn (S. 66)
19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur (S. 67)
Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre" im Gewandhaus (S. 69)
20. Nur in einem Abstand zu nennen (S. 71)
21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten! (S. 73)
22. Eine grosse Lösung (S. 78)
23. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen (S. 88)
24. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen (S. 98)
Intermezzo IV: die "Hohe Schule" I: Kulturelle Neuordnung nicht nur fürEuropa, sondern für die Welt (S. 102)
25. Das Lexikon der Juden in der Musik (S. 103)
26. und das Benehmen Mendelssohns, das er als Director angesehen werdenwolle (S. 105)
Intermezzo V: Juden bleiben Juden oder von den Ehetagebüchern des RobertSchumann (S. 106)
27. Denkmalspflege; nationalsozialistisch (S. 108)
28. Ein nordischer "Sommernachtstraum" (S. 113)
29. Von bajuwarischen "Sommernachtsträumen" (S. 123)
Intermezzo VI: Die "Hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart" (S. 128)
30. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette... (S. 134)
Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche (S. 141)
31. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeitoder vom Ende der "zeitlosen" Zeit (S. 142)
Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind (S. 146)
32. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik (S. 151)
33. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug (S. 152)
34. Diese Musik wurde ermordet I (S. 153)
35. Das erreichbare Höchstmaß an Glätte und Ausgeglichenheit... (S. 154)
36. Philosoph. Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn (S. 155)
37. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten (S. 159)
38. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem dochbedeutenden Komponisten überhaupt möglich? (S. 160)
39./ 40. Diese Musik wurde ermordet II/ Die Mendelssohn-Falle (S. 163/165)
Vorrede
Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November 1847 unerwartet starb, hielt das
öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne.
Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher
Verlust empfunden. Nun ist das Lebensgefühl der Menschen, welche vor mehr als 150
Jahren lebten, nicht per se auf die heutige Zeit zu übertragen. Somit muss uns Musik,
welche die Empfindungen unserer Vorfahren aufs trefflichste reflektierte, nicht
zwangsläufig bewegen.
Andererseits erhebt sich die Frage: Auch Schubert, Beethoven, Mozart lebten vor 150 –
200 Jahren, und verliehen den Zeitläuften in politischer, kultureller und emotionaler
Hinsicht musikalisch Ausdruck. Auch sie wurden von der Öffentlichkeit oder dem
unmittelbaren persönlichen Wirkungskreis als Herolde zeitnah humanen Empfindens
gewürdigt. Das ist im Falle der letztgenannten auch so geblieben.
Im Falle Felix Mendelssohn Bartholdys hingegen muss plädiert werden, muss im
Zweifelsfalle eine Verbindung der 40ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu unserer Zeit
und unserer Sichtweise nachträglich, quasi synthetisch wiederhergestellt werden. Allein,
die publizistische Darlegung der Gegenwartsrelevanz von Musik, der Musik Felix
Mendelssohns beispielsweise, ist wiederum ein schwieriges, möglicherweise
vergebliches Geschäft. Das Plädoyer sollte auf musikalischem Wege erfolgen.
Um aber zum Mindesten Nachweis zu führen, was einstmals unzweifelhaft bestanden,
allzu lange verschüttet und nachhaltiger zurückzugewinnen wäre: die Einschätzung
Mendelssohns als bedeutenden Meisters der europäischen Musikgeschichte, mögen
zu Beginn der Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach der Komponist Robert
Schumann zu Worte kommen:
“Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten
Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch
seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. (...) Man
kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger
Wirken, nicht nur die Strukturen unseres heutigen Musiklebens festgelegt wurden,
sondern daß es erst durch ihn (...) auch für uns heutige möglich wurde, die Musik und
die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu
interpretieren. Auch die Musikgeschichte ist nicht denkbar ohne Leipzig und Johann
Sebastian Bach, ohne Mendelssohn und Philipp Spitta". (Hans Mayer "Der Widerruf"
Frankfurt 1994)
Im Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort
über sich ergehen lassen:
„Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn, letzterer ein Künstler, der nicht nur in
Leipzig, sondern für die ganze Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen
Meister wie Mendelssohn so reden dürfen!“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert
Schumann)
1
In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauf folgenden Jahre
begütigend nach:
„Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren –
Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. – mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir
es ebenfalls auch aufnehmen.“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)
Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet,
bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:
"Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album
legtest. Ein unschätzbares Andenken! Leb wohl. Du Liebe! Dein Robert". (zitiert nach
Walter Dahms, Robert Schumann)
Sprachliche Präzision, Schlichtheit des Ausdrucks und feinsinniger Intellekt prägen die
Ausführungen des Geisteswissenschaftlers; Engagement, ja Hingabe die Worte des
Künstlers. Beide kommen jedoch zum gleichen Resümee: Bekenntnis der originären
Stellung Felix Mendelssohn Bartholdys innerhalb der Musik des 19. Jahrhunderts. Den
Musikfreunden unserer Zeit erscheint dieselbe ja sicher auch unzweifelhaft
festgeschrieben, in der eigentlichen musikalischen Wortmeldung aber ist sie abseits
weniger hochpopulärer Zugstücke des klassischen Repertoires bislang eher
schemenhaft wahrzunehmen.
Das literarische Engagement Schumanns, Mayers, Heinrich Eduard Jacobs, Georg
Kneplers, Karl-Heinz Köhlers, Eric Werners, Arnd Richters; das explizite Engagement
der Dirigenten Otto Klemperer, Kurt Masur, Peter Gülke u. a. galten auch der
Rückbesinnung auf eine zentrale Epoche der bürgerlichen Musikgeschichte: den Jahren
1835 – 47. In jenen Jahren wirkte Mendelssohn am Gewandhaus als Komponist und
Dirigent und reformierte die deutsche Musik nachhaltig.
Mendelssohn etablierte im Gewandhaus zu Leipzig die grosse Philharmonische
Gesellschaft, das eigenständig zelebrierte symphonische Konzert, als wichtigste
Institution wachsenden bürgerlichen Kulturbewusstseins. Darüber hinaus wirkte er
maßgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz des Orchestermusikers als Repräsentanten
neuerstehenden philharmonischen Berufsstandes hin.
Er öffnete das Gewandhaus, ästhetischer Vorbehalte eigenen musikalischen
Empfindens gegenüber den Avantgardismen mancher Partitur ungeachtet, den
Komponisten Berlioz, Cherubini, Chopin, David, Gade, Hiller, Liszt, Moscheles, Rossini,
Schumann, Spohr, Wagner und sorgte somit durch Aufbau und Pflege zeitgenössischen
Repertoires für eingehendere Beachtung neuer Musik.
Das gewaltige Instrumental-und Sakralwerk des Komponisten und Thomaskantors
Johann Sebastian Bach galt Fachleuten im frühen 19. Jahrhundert als Studienobjekt
musikalischer Formvollendung, aber hoffnungslos antiquiert, "unmelodisch, berechnend,
trocken und unverständlich im Publicum bekannt" (Ludwig Devrient, Meine
Erinnerungen an F. M. B. und seine Briefe an mich, Leipzig 1869); ja als unaufführbar.
2
Die Musik Bachs und anderer Meister der Barockzeit und Klassik wurde durch
Mendelssohns Initiative Aufsehen erregender Neueinstudierungen der
"Matthäuspassion" nach beinahe 100 Jahren des Vergessens und "Historischer
Konzerte" im Gewandhaus dem zeitgenössischen Musikleben nachdrücklich ins
Bewusstsein gerufen.
Der zeitgenössische Musikbetrieb war vor Mendelssohns Wirken in Leipzig ja vorrangig
auf Präsentation von Neuschöpfungen interpretierender Komponisten ausgerichtet. Die
Wiederaufführungen der Bachschen "Matthäus-Passion" und die "Historischen
Konzerte" fungierten somit als Synonym historischen Gewissens, als Exempel
progressiven Übergangs zu "stetiger Produktion neuer und Reproduktion nicht mehr
"neuer" Musik" (fr. n. Mayer)
Felix Mendelssohn engagierte sich beharrlich für das Vorhaben, dem musikalischen
Nachwuchs über traditionelle Angebote von Singschulen und Ratsmusiken hinaus an
einer, den Instituten europäischer Musikzentren vergleichbaren Musikbildungsstätte ein
umfassendes Studium zu ermöglichen. 1843 vermochte er es, unterstützt von
Musikverlegern, Gelehrten und Komponisten, in Leipzig das erste deutsche
Konservatorium im Hochschulrange ins Leben zu rufen. Persönlichkeiten der
Musikgeschichte -darunter die Komponisten Albeniz, Bruch, Delius, Eduard Grieg, Leos
Janacek, Svendsen und Miklos Rozsa -erwarben dort die Grundlagen späteren
Ruhms.
Diese Initiative der "Begründung eines neuen (...) gemeinnützigen vaterländischen
Institutes" (Testat Dr. Heinrich Blümners 1839) der Tonkunst lebt fort in der "Hochschule
für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig, welche weiterhin jungen
Menschen aller Nationalität zum Studium von Musik und darstellender Kunst in Theorie
und Praxis offen steht.
1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstlerwürde
“Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung
seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre
wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler
würde.” Mit solchen Worten irritierenden Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist
Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in
Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12 jährigen
musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor. Die rhetorisch mit allen
Attributen von Aussergewöhnlichkeit beladene, letztendlich aber ergebnislos
verbliebene Gleichung der Konstanten Jude, Taufe, Judensohn und Künstler verrät
nicht, ob es sich um den Ausdruck einer ehrlich empfundenen Hoffnung oder um
Anmaßung handelt.
Dessen ungeachtet erlag Zelter jedoch der Versuchung, mit der Feststellung vom
Künstlertum aus jüdischem Hause als einer Causa von wahrhaft eppes rorer Art, die
jüdische Sprechweise dezidiert zu karikieren.
3
“Hepp-hepp-hepp! Judenjunge!” rief ein debiles preußisches Fürstenkind den 10jährigen
Felix Mendelssohn und die 14jährige Fanny auf den Strassen Berlins an, bevor er ihm
ins Gesicht spie. „Hepp-Hepp! Judenjung! schrieen Straßenkinder in dem Küstenort
Dobberan an der Ostsee den beiden entgegen, bevor sie sich aufs sie warfen.
Heldenhaft und gleichmütig befreite er die Schwester aus der bedrohlichen Situation;
sicher geleitete er sie heim – erst dort trieben Zorn und Scham ihm die Tränen heraus.
Im Jahre 1812 erließ König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten des
Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es sollte Juden
die preussische Staatsbürgerschaft gewähren und den lediglich vereinzelt an
herausragende Persönlichkeiten öffentlichen Lebens vergebenen würdelosen Status
der “Schutzjudenschaft” ersetzten.
“Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam
auszurotten!” (zitiert nach Arndt Richter, Felix Mendelssohn) empfahl indessen der
Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs im Jahre
1814. Er reflektiert so die wahrhaftig vorherrschende öffentliche Meinung gegenüber
gleichgestellten jüdischen Bürgern.
Auf volkstümlicherer Ebene erregte zeitgleich die Aufführung der antisemitischen Posse
"Unser Verkehr" auf einer Berliner Bühne Aufsehen, welche die jüdische Lebensweise
zum Gespött zu machen suchte. Die Posse agitierte somit gegen das Hardenbergsche
Unterfangen, Juden zu preußischen Staatsbürgern zu machen. Autor war der Breslauer
Augenarzt Karl Sessa. Die Aufführungen von "Unser Verkehr" lösten Unruhen unter den
Zuschauern aus; als der Berliner Komödiant A. A. Ferdinand Wurm sich auf der Bühne
über die jüdischen Speisegesetze und den jüdischen Widerwillen Schweinefleisch
gegenüber mokierte, wurde das Publikum gar handgreiflich gegen ihn. Flugblätter mit
Aufrufen wie "Dass du in "Unserm Verkehr" die Juden verspottest, die Ursach, sie
begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein" straften Autor und Akteure ab.
Dennoch verfehlte die Populär-Komödie nicht ihre Wirkung auf breitere Schichten
"gesunden Volksempfindens". In der Berliner Bevölkerung wurde somit die Forderung
erhoben, jüdischen Freiwilligen im Preußischen Abwehrkampf gegen Napoleon künftig
den Erhalt des Eisernen Kreuzes zu verweigern und ihnen vielmehr ein großes
Geldstück an die Kopfbedeckung zu heften.
Nicht zuletzt die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominante
romantische Bewegung, altdeutschen, ja mittelalterlich paraphrasierten sowie
christlichen Idealen huldigend, zählte zu den erklärten Gegnern staatsbürgerlicher
Judenemanzipation. Berüchtigt in diesem Zusammenhang waren „Christlich-Deutsche“,
oder „Christlich-Germanische-Tischgesellschaften“, welche die hochrangigen Literaten
Achim von Arnim und Clemens Brentano, sowie der Publizist Adam Müller in Berlin
unterhielten.
4
Während Rang und Namen gesellschaftlichen Lebens in Berlin, Persönlichkeiten wie
Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Savigny, Heinrich von Kleist, der
preussische Staatsrat Sägemann, Karl Friedrich Zelter sowie die Fürsten von
Lichnowsky und Radziwill, den Salon des Hauses von Arnim/ Brentano regulär
frequentierten, war Juden nebst Franzosen und Philistern die Teilnahme an den
"Tischgeselligkeiten" und "deutschen Fressgesellschaften" satzungsgemäß verwehrt....)
Die Romantiker lehnten jedwede Bestrebung zur Realisierung moderner Ökonomie strikt
ab und sahen die Juden als treibende Kraft derselben an. Daher standen letztere im
Zentrum übler Satiren und „Judenscherze“ der „Tischgesellschaften“. Bettina von Arnim
schliesslich wandte sich vom Treiben Ihres Bruders und Ehemannes angewidert ab.
Allein für den Zeitraum des Jahres 1815 bis 1850 lassen sich 2500 Manifeste, welche
die vermeintliche Judenfrage im Für und Wieder thematisierten, nachweisen.
Letztere eröffnen bereits den ganzen Katalog vertrauter antisemitischer Demagogie
des Kaiserreichs und des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von der
Zwangsassimilierung durch christliche Taufe, der „Veredelung“ und Bekehrung mithilfe
religiös-moralischer Vereine, über Seuchen-und Ungeziefermetaphorik, Betrachtungen
hinsichtlich Sexualamputation, Ausweisung, Austreibung, Deportation nach Palästina bis
hin zu Völkermordphantasien.
Der seinerzeit viel rezipierte nationalistische Publizist und Dichter Ernst Moritz Arndt,
der im 20. Jahrhundert vom rassebiologisch grundiertem Wahn des deutschen
Nationalsozialismus als dessen "Vordenker" gefeiert wurde, konstatierte im Jahre 1814,
das dass Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht habe, nicht zu
"verbastarde(n), keine Mischlinge geworden" zu sein. Über Jahrtausende hinweg sei es
vielmehr auf seiner "Urerde" rassisch "rein" geblieben. Nunmehr allerdings, führt Arndt
des weiteren aus, sei das "germanische Wesen im höchsten Maße durch das
Voranrücken der Franzosen und der Juden bedroht, welche letztere mit dem
Prosperieren von "Ungeziefer" zu vergleichen sei. “Verflucht aber seien die Humanität
und der Kosmopolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns
preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung." schliesst Arndt.
Der berühmte Zeitgenosse Freiherr vom Stein attestierte Arndt denn auch eine
"Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". Arndt forderte die
Unterbindung der Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln sowie die
Verwehrung des vollen Bürgerrechtes für die deutschen Juden und "getauften
Judengenossen“. Arndt plädiert im Gegenzug vielmehr für das "Aufgehen"
alteingesessener deutscher Juden vermittels vollständiger Aufgabe der jüdischen
Religion und Kultur und Amalgamierung mit der christlich-germanischen Umwelt. Das
Verschwinden des "verdorbenen und entarteten" jüdischen Idioms wäre, Arndt zufolge,
durch Konvertierung zum Christentum nach 3 Generationen somit möglich.
Neben Friedrich Rühs trat auch der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob
Friedrich Fries als Demagoge antisemitischer Vernichtungsphantasien hervor. In einem
1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der
Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten Pamphlet erging sich Fries in
übersteigerten Gewaltmetaphern. In einem 1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung
des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten
Pamphlet erging sich Fries in übersteigerten Gewaltmetaphern
5
Er und forderte: „Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien, wie es dort allem Volke zur
Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen brennen zu sehen, wie sie dort
die Regierung (...) samt und sonders zum Lande hinausjagen musste. Fragt doch
einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber
und Brotdiebe hasst und verflucht“
Im Zenit fremdenfeindlich-menschenverachtender Ereiferungen aber stehen die
Gewaltpathologien des Radikaldemagogen Hartwig von Hundt-Radowsky: Im
"Judenspiegel -ein Schand-und Sittengemälde alter und neuer Zeit" aus dem Jahre
1819 regte er u. a. dazu an, die deutschen Juden den Engländern als Arbeitssklaven für
die indischen Kolonien anzudienen. Neben der Zwangsarbeit auf den weitläufigen
Pflanzungen, erböte sich des weitern die Deportation in die Erzminen. Von Natur aus
über „ein herrliches Spürorgan für alle edeln Metalle und Steine“ verfügend, wäre eine
Tätigkeit dort, - sicherheitsverwahrt von „geheimen Polizeispionen" - gewinnträchtig.
Die männlichen Juden wären sämtlich zu kastrieren, die Frauen hingegen in „gewisse
weibliche Erziehungsinstitutionen“ genannte Bordelle zu verbringen um dort den
Machthabern gefügig zu sein. Hundt-Radowsky stellt in Schriften wie dem
"Judenspiegel" oder der 1822/23 in der Schweiz erschienen "Judenschule" des weiteren
hanebüchen-menschenverachtende Behauptungen über das Wesen der jüdischen
"Rasse" auf:
"Der Teufel ist barmherziger als ein Jude". Von Geburt an eigen sei den Juden auch
"ihr specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen
gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben." (...) "Eine...Annäherung oder
Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und
sittliches Verderben zur Folge haben. (...) Was Grosses, Erhabenes und Göttliches an
seinem (Jesu Christi) Leben und seinen Handlungen war, das können die Juden,
welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für sich anführen."
Des Weiteren ergeht sich Hundt-Radowsky in Gewaltphantasien und -forderungen
hinsichtlich der vollständigen Austreibung und Vernichtung des jüdischen Volkes. Seine
Schriften zählen somit zu den unmittelbaren Anfängen eines eliminatorischen
Antisemitismus und nehmen dabei die deutsche Rassenpolitik und Judenvernichtung im
20. Jahrhundert; die Geschehnisse des "III. Reiches" rhetorisch nahezu deckungsgleich
vorweg. Der Historiker Peter Fasel schreibt bzw. zitiert dazu in der Wochenzeitung "Die
Zeit" vom 22. Januar 2004" in seinem Aufsatz "Vordenker des Holocaust":
"Die Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert werden. (...)
Am besten wäre es jedoch, (anstelle eines Verkaufs an die Engländer, welche Hundt-
Radowsky wenig später als missliebige "weiße Juden" brandmarken sollte, Anmk. d.
Verf.) man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer".
Die Juden sollten, das wäre Hund-Radovsky offenbar am liebsten gewesen, nach
Abhaltung eines Tribunals ("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber,
man verfrachte sie, vollständig enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in
unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen "vielleicht ganz (...) von der Erde vertilgt
würden", ohne dass man sich selber die Finger schmutzig machen müsse!
Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "Weißen" Juden (im Gegensatz zum
"echten", "schwarzen" Juden, zu welchem Hundt-Radowsky auch die Zigeuner zählte,
also einem, Hundt-Radowsky und seiner deutschen Leserschaft missliebiger Europäer,
Anm. d. Verf.) wird das antisemitische Wahnsystem komplett."
6
Hundt-Radowsky verneint in seinen Schriften vehement die Möglichkeit, die Juden
vermittels Taufe "verbessern" zu können. "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau
nur ein anderes Zeichen auf den Hintern" schreibt der Demagoge. Die jüdischen
"Schädlinge" blieben, Hundt-Radowsky zufolge, ihrem "zutiefst verderbten Charakter ewig
und unwandelbar gleich, was auch passiert, (...) bis sie endlich durch ein
furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden". " (zit. n.
Fasel
Der Judenspiegel wurde im Herbst des Jahres 1819 in Schwarzburg-Sonderhausen,
einem damaligen thüringischen Kleinstaat, vom Verleger Bernhard Friedrich Voigt
herausgegeben. Anstelle des waren Namens Joachim Hartwig von Hundt-Radowsky
firmierte das Pseudonym Christian Schlagehart als Autor des Werkes. Das Buch erfuhr
innerhalb von 3 Wochen zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren.
Der "Judenspiegel" wurde in Bayern und Preussen mit der Begründung einer Störung
konfessionellen Friedens indiziert; Hundt-Radowsky sah sich als Volksverhetzer
polizeilicher Verfolgung ausgesetzt. In Baden-Württemberg hingegen stand die Presse-
und Meinungsfreiheit konstitutionell über dem Verfassungsrang konfessioneller
Unversehrtheit, so daß die Schriften Hundt-Radowskys dort weiterhin publiziert wurden
und wo der Judenspiegel in Reutlingen, Cannstadt und, gekürzt, in Ulm Neuauflagen
erfuhr. Noch im Jahre 1848 erlebte das Pamphlet eine Wiederauflage unter dem Titel
"Die Naturgeschichte der Juden", welche in Wien herausgebracht wurde.
Die 3bändigen Folgeschriften "Die Judenschule oder gründliche Anleitung, in kurzer
Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden", welche mit 1160 Seiten
zu den umfangreichsten antisemitischen Pamphleten überhaupt zählt, erschien im Jahre
1822/23 in Aarau im Schweizer Exil Hundt-Radowskys. Auch dieses Werk erfuhr eine im
Jahre 1830 wiederum in Reutlingen herausgegebene Wiederauflage, welche unter dem
Titel "Die Juden wie sie waren, wie sie sind und wie sie seyn werden" erschien.
2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude
Zahlreiche jüdische Familien in Deutschland konvertierten zu Beginn des 19.
Jahrhunderts zum Christentum. Sie folgten darin einer weithin verbreiteten Interpretation
von Lehren der Aufklärer Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, religiöse
Fragen dem Prinzip der reinen Vernunft; die Orthodoxie der Vorstellung eines
konfessionsübergreifenden Deismus anheimzugeben und erklärten sich somit bereit, an
der bestehenden christlichen Mehrheitsgesellschaft teilzunehmen.
(Dieser zeitgenössischen Interpretation der Schriften Moses Mendelssohns entgegen,
weigerte sich der Philosoph entschieden, selbst zum Christentum zu konvertieren und
wandte sich öffentlich gegen eine derartige Auslegung seiner Lehren, Anmk. d. Verf.)
Andere entschlossen sich zu diesem Schritt, um sich vor den bedrohlichen
Folgeerscheinungen eines National-Fanatismus, zu schützen, den der Kantschüler
Johann Gottlieb Fichte ab etwa 1790 propagierte.
7
“Germanomanie”; eine Philosophie elaborierten Nationalbewusstseins. Diese griff, in
Ermangelung der Realität geeinter deutscher Nation auf Elemente wie “teutsches
Volkstum” und “germanisches Christentum” als alleingültige Fundamente imaginierten
deutschen Vaterlandes zurück. Die Hepp-Hepp-Unruhen, (nach der populären
Strassen-und Gewaltparole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben! Ihr
müsst fliehen oder sterben!", Anmk. d. Verf.) welche im Jahre 1819, von der
fränkischen Residenzstadt Würzburg ausgehend, in Deutschland und europäischen
Nachbarstaaten Gewaltakte gegen jüdische Ansiedlungen und Bürger bedingten,
nahmen zahlreiche jüdische Familienvorstände denn auch als eindringliche Warnung
auf.
“Man kann einer gedrückten, verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen
Kindern als eine Anwartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium
aufzwingen -solange man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies
nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei. -Ich würde rathen, daß Du den Namen
Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst.”
Die Worte Jacob Salomons, Felix Onkel väterlicherseits, bestärkten die Eltern in dem
Schritt, ihre Kinder Fanny und Rebekka, Felix und Paul im Jahre 1816 protestantisch
taufen zu lassen. Lea und Abraham Mendelssohn folgten den Kindern erst im Jahre
1822 darin.
Im Jahre 1830 gemahnte der Vater, welcher sich hellsichtig gegenüber eines
zunehmend judenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas, nurmehr Abraham M. Bartholdy
nannte, eindringlichst:
„Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen. Du musst Dich also Felix
Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen
Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nicht,
schon allein, weil es nicht wahr ist.“
Der bereits zu Berühmtheit gelangte Felix folgte dem Rat Abrahams dennoch nicht. Der
Sohn, dem Vater in allem übrigen ehrerbietig gehorsam, widersetze sich dies eine Mal.
Obgleich ein tiefgläubiger Protestant, war es ihm ausgeschlossen, die familiäre
Tradition und Identität zu negieren. Es kam schliesslich zu der Übereinkunft, künftig
beide Namen, parallel, gleichberechtigt einander gegenüberstehend; unverbunden zu
nennen. Als Synonym einerseits für das familiäre Erbe und den Schritt in die von
Abraham imaginierte Gewissheit potentieller bourgeoiser Geborgenheit andererseits. Im
übrigen hatten die gepflegte Diffamie Carl Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-
Judenjung! -Geschrei, welches Felix und Fanny allenthalben entgegenschlug, also die
beharrliche Ansprache eines Stigmas jüdischer Geburt Felix hinlänglich bewiesen: die
bürgerlich-christliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beabsichtigte keineswegs,
Juden, ob getauft oder nicht, dauerhaft und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.
Die falsche Schreibweise Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeugt somit die
Ahnungslosigkeit oder gar Bedenkenlosigkeit bezüglich diffiziler jüdisch-deutscher
Befindlichkeiten. Oder schlimmer noch: es verbürgt das allgemein gepflogene
antisemitisch bedingte Bestreben, den Schritt der Mendelssohns in die protestantisch
geprägte Bürgerlichkeit nachhaltig zu negieren. Oder vielmehr, einen auch nicht durch
den Versuch der Namensangleichung überbrückbaren Makel jüdischer Geburt, die
Zugehörigkeit Mendelssohns zur jüdischen "Rasse" als untilgbares Stigma ein für
allemal festzuschreiben.
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Dennoch bekannte sich Felix Mendelssohn Bartholdy uneingeschränkt zu den
kulturellen und historischen Traditionen, der anthropologischen Bewusstheit seines
deutschen Heimatlandes.
Abraham Mendelssohn ließ seine Kinder durchaus im Geiste kosmopolitischer Bildung
erziehen und gestattete dem musikalisch bewunderten Jüngling Felix ausgedehnte
Bildungsreisen durch die Kulturnationen Europas. Dieser ging, nachdem Cherubini am
Conservatoire de Paris die Begabung des Jungen geprüft und dem Vater die unbedingte
Befähigung zu zukünftiger musikalischer Profession attestierte, daran, zu prüfen, ob ihm
die europäischen Kulturzentren möglicherweise ebenfalls eine musikalische Heimat zu
finden ermöglichten.
Das Ergebnis stand im Jahre 1832 endgültig fest. Noch aus Paris teilt er es zu
Jahresbeginn seinem Mentor Carl-Friedrich Zelter mit:
"Wenn ich...nur von den Hauptpuncten meiner Reise Ihnen hätte schreiben wollen, so
hätte ich es eigentlich aus Deutschland thun müssen. Denn wie ich jetzt nach alle den
Schönheiten, die ich in Italien und der Schweiz genossen hatte,...wieder nach
Deutschland kam, und namentlich bei der Reise über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt,
den Rhein herunter nach Düsseldorf, da merkte ich, daß ich ein Deutscher sey und in
Deutschland wohnen wolle...."
Einerseits beharrte er auf seinem jüdischen Geburtsnamen und der Bewusstheit seines
jüdischen Großvaters, andererseits aber registrierte er die allgemein um sich greifende
Verketzerung staatsbürgerlicher Habilitation deutscher Juden wachsam.
Somit erfüllte ihn das Bekenntnis zu diesem seinem Heimatlande unausgesetzt mit
Befürchtungen. Und so schliesst besagtes Schreiben mit der Erwägung, zukünftig ja
immer noch von den Möglichkeiten europäischer Musikzentren Gebrauch machen zu
können, wenn denn: „die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen,
dann bleibt mir die Fremde immer noch, wo es dem Fremden leichter wird, aber ich
hoffe, ich werde es nicht brauchen.“
Dieser Wunsch zumindest wurde Felix Mendelssohn in Persona erfüllt. Wie es mit der
Verankerung des Felix Mendelssohn Bartholdy in Heimat und Fremde insgesamt; der
Ein-oder Ausbürgerung des „historischen Augenblicks“ Felix Mendelssohn (Hans
Mayer) bestellt bliebe, an dieser Stelle zu resümieren, hieße vorzugreifen.
Bereits zu Lebzeiten fiel der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister Kritik
anheim, welche sich nicht an der musikalischen Leistung, sondern an der jüdischen
Abstammung Mendelssohns entzündete.
Als im Jahre 1833 nach dem Tode Carl Friedrich Zelters die Nachfolge in der Leitung
der Berliner Singakademie zur Wahl stand, votierten 152 Mitglieder für den musikalisch
als farblos überlieferten Kandidaten Carl Friedrich Rungenhagen und 88 für den
Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser im Jahre 1829 die Akademie mit der
Wiederaufführung der Matthäuspassion zu einem Musikereignis höchsten Ranges
führte, erhoben sich innerhalb derselben Rumor wie: "...die Singakademie sei, durch
ihre fast ausschließliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es
sei darum unerhört, daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle".
(zitiert nach Eduard Devrient) "Sie wollten ihn halt nicht haben, den Judenjungen!"
konstatiert Hans Mayer im Rückblick auf die Vorgänge der Berliner Chorwahl und
Mendelssohns Demission vom Amte des Musikdirektors der Stadt Düsseldorf.
9
Das Votum gegen einen Chordirektor Felix Mendelssohn kann auch als gezielter, sublim
antisemitisch motivierter Affront gegen die Familie Mendelssohn interpretiert werden.
Diese war personell innerhalb des Chores zahlreich vertreten und trat darüber hinaus
als Mäzen der Akademie auf; nach der Brüskierung Felix zogen sich die Mendelssohns
vollständig von der Singakademie zurück.
Manfred Blumner, der Direktor späterer Jahre, führt hingegen zur Rechtfertigung des
damaligen Wahlgeschehens heran: "...daß es vielen, namentlich älteren Mitgliedern
Bedenken erregen musste, einem 23 jährigen Jünglinge an eine soviel persönliches
Ansehen erfordernde Stelle (...) zu berufen" und "ahnten doch viele noch nicht seine
ganze nachhaltige Größe und Bedeutung." (Berlin 1891) Auch von Intrigen, einer
"unappetitlichen Rolle" der "raffgierigen" Doris Zelter (die Tochter Carl-Friedrich Zelters)
und erheblichen Kabalen um die Direktionsnachfolge ist die Rede.
In Rückerinnerung an die Tage sensationell wiedererweckter Matthäuspassion im
Frühjahr des Jahres 1829 berichtet Devrient weiter, das Felix nächtens mitten auf dem
Opernplatz stehen bleibend, übermütig rief "daß es ein Komödiant und ein Judenjunge
sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!"
Es verweist auf die immens zutagetretende Fähigkeit des Jünglings, sowohl die
unausgesetzt diffuse staatsbürgerliche und soziale Situation als auch das vertraut-
inkriminierende „Judenjungen! Attribut zeitweilig ironisch zu kommentieren.
Die literarisch-politisch agierende "Jungdeutsche Bewegung" der 30ssiger und 40ziger
Jahre des 19. Jahrhunderts; dieser gehörten u. a. die Literaten Heinrich Laube, Georg
Büchner, Karl Gutzkow, Theodor Mundt, Ludwig Börne und Heinrich Heine an,
kultivierte neben liberalen, föderalistischen und revolutionären Forderungen auch
erhebliche antisemitische Ressentiments. So sahen sich studentische und publizistische
Aktivisten in den eigenen Reihen wie die Konvertiten Heinrich Heine und Ludwig Börne
stetiger Diffamierung ausgesetzt; wurden beispielsweise als „jungpalästinensich“
verhöhnt.
In den Jahren 1835 und 1841 wurde die Familie Mendelssohn zum unmittelbaren Objekt
antisemitisch intendierter Intrigen. Diese hätten in der Folgewirkung beinahe zu
Handgreiflichkeiten Felix Mendelssohns gegen den nachrangigen, den Kreisen der
Zelter-Familie zugehörigen Publizisten Riemer, und somit zu einem Eklat geführt.
Prof. Friedrich Wilhelm Riemer, ein Studienrat und Adept Johann Wolfgang von
Goethes veröffentlichte im Jahre 1841 Reminiszenzen an den Dichterfürsten unter dem
Titel: „Mitteilungen über Goethe“. Als Herausgeber des Goetheschen Nachlasses
provozierte Riemer aber bereits im Jahre 1835 mit der indiskreten Publikation der
unzensierten, die Belange zahlreicher lebender Personen wie die Mendelssohns
nunmehr der Öffentlichkeit preisgebenden Korrespondenz des Goethe-Altersfreundes
Zelter.
Darunter befand sich auch jenes berüchtigte, bereits Eingangs zitierte Schreiben vom
Judensohne und den Künstlern. Fanny und Felix Mendelssohn brachen, quasi als sie
erfuhren, wie Zelter in Wahrheit über die Mendelssohns, die Juden oder beides im
Zusammenhang dachte, daraufhin auch in der Erinnerung mit dem einstmals verehrten
und geliebten Lehrer. Die innerfamiliäre Erregung angesichts der Affäre,
Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen Riemer das
Haus Mendelssohn überzog, führten möglicherweise zum unerwarteten Tod Abraham
Mendelssohns durch einen Schlaganfall am 19. November 1835.
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Doris Zelter, die einstmals unter der Protektion Abraham Mendelssohns stehende
Tochter C. F. Zelters, wurde als intrigant, altjüngferlich und verbittert überliefert. Als Co-
Initiatorin der Publikation des Goethe-Zelterschen Nachlasses, kommentierte sie den
Vorgang in einem an Riemer gerichteten Schreiben verständnislos, aber mit abfälligem
Unterton:
„Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf
den Hals geladen, und ich glaube kaum, daß der alte Tempel das Klagegeschrei und
Gequatsche aushält (...) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug“
In seinen nunmehr im Jahre 1841 herausgegebenen „Mitteilungen über Goethe“ nutzte
Riemer indes das potentielle öffentliche Interesse am Sujet offenkundig zur Rhetorik in
eigener Sache sowie zu aggressiver antijudaischer Agitation. In Kapiteln wie jenem,
„Juden“ übertitelten, sind Ausfälle gegen assimilierte ehemalige Juden wie Abraham,
Fanny und Felix Mendelssohn zu lesen:
"Das Prinzip, aus dem die ganze (jüdische) Nation hervorgegangen, aus dem sie
gehandelt hat...ist indelibel; man denke also nicht Mohren Weiß zu waschen, auch dank
der christlichen Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus (den
Judengestank) dadurch zu tilgen glaubte...“
Des Weiteren griff Riemer demonstrativ auch die Abraham-Mendelssohn-Affäre des
Jahres 1835 wieder auf. Eingangs verhöhnte er das Angedenken des Verstorbenen mit
Phrasen, welche im Geiste dezidierter persönlicher Entwürdigung auf den Assimilierten-
Status anspielten:
"Möge indessen der gute Schwiegerpapa (d. i.: Abraham Mendelssohn) sich durch das,
was Börne und Heine (sic!) über Goethe vor den Augen des ganzen Deutschlands
ausgegossen, zu seiner Satisfaktion mitgerächt, oder, wie man sagt, mitgerochen
haben!“
Schwerwiegender erwiesen sich die erneut vorgebrachten Vorwürfe semitischer
Zensurbestrebungen seitens der Familie Mendelssohn. Riemer behauptete in den
„Mitteilungen“ Abraham Mendelssohn habe ihn seinerzeit als Herausgeber der Zelter-
Goetheschen Korrespondenz vermittels anonymen Schreibens unter Druck setzen
wollen, unvorteilhafte Äußerungen des Dichterfürsten über die künstlerischen
Fähigkeiten Wilhelm Hensels; Fannys Bräutigam, zu unterschlagen.
Wie wir aus einem Schreiben des Komponisten vom 3. Juli 1841 an den Bruder Paul
Mendelssohn wissen, erregte sich Felix Mendelssohn über „eine so lieblose, mich
empörende Weise“, in welcher Riemer „über Vater gespöttelt und hergezogen“ sei in
hohem Maße.
Er erwog allem Anschein nach ernstlich, dem Angedenken des Vaters durch einen
öffentlichkeitswirksamen Ohrfeigenauftritt Riemer gegenüber, Genugtuung zu
verschaffen. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gewandhauskonzerte, Conrad
Schleinitz, brachte den bereits zu hohem Ruhme und Ansehen gelangten Kapellmeister
seines Hauses aber „ernstlich und besorgt“ von diesem Unterfangen ab.
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Mendelssohn schrieb dem Bruder des Weiteren:
„Lies übrigens das ganze Capitel „Juden“ aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen.
Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise
von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen...aber dass einer den Namen unseres
verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und
darf ich nicht ungeahndet lassen.“
In einer Rezension der Ballade Ahasver des Dresdner Dramatikers Julius Mosen (dieser
hatte sich vor allem durch ein Rienzi-Drama namhaft gemacht, welches parallel zur 5aktigen
Erfolgsoper Richard Wagners entstand) aus dem Jahre 1838 dozierte Karl
Gutzkow u. a. über vermeintlich semitische Grundwesenszüge der Titelfigur. Des
Weiteren sprach er sich vehement gegen Bestrebungen staatsbürgerlicher Habilitation
von Juden aus:
„Ahasver ist der Jude in seinem nichtigen Materialismus (...), ist der Jude in alledem,
was ihn von dem Berufe, an der Geschichte teilzunehmen, ausgeschlossen hat, der
Jude gerade in seiner Missionsunfähigkeit. Er ist das Schlechte am Judentum, das
Lieblose, Parteiische, Hämische, Zersetzende, er ist gerade alles das, was noch immer
die Emanzipation am meisten verhindert.“
Im gleichen Zeitraum artikulierte sich erhebliches antisemitisches Ressentiment seitens
junghegelianischer Philosophen und Frühsozialisten. Letztere vor allem stellten die
Juden ins Zentrum radikalökonomischer Kapitalismuskritik und bezogen sich dabei auf
das tradierte Klischee des Schacherers. Wortführer sozialistischen Antisemitismus
waren Bruno Bauer, Arnold Ruge und Karl Marx. In der Publikation Judenfrage stellt
Bruno Bauer im Jahre 1842 dem Programm staatsbürgerlicher Habilitation die
Forderung entgegen, das die Juden sich vor dem Vollzug bürgerlicher Emanzipation
erst zu „Menschen“ zu emanzipieren, also ihr konfessionelles Bekenntnis aufzugeben
hätten. Karl Marx paraphrasierte die Bauerschen Thesen im Herbst des Jahres 1843
bereits im Titel des Essays "Zur Judenfrage" und wiederholt darin sowohl die
einschlägigen Stereotypen des berechnenden Finanz-und Machtjuden als auch die
frühsozialistische These der Emanzipation, der Erlösung des Menschen aller
Konfessionen von der Macht und Faszination des Geldes. Marx schrieb also:
„Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (...) der "Eigennutz". Welches ist der
weltliche Kultus des Juden ? Der "Schacher". (...) sein weltlicher Gott? Das "Geld". (...)
Die Emanzipation vom "Schacher "und vom "Geld", also vom praktischen, realen
Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (...) Die "Judenemanzipation" in
ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom "Judentum".
Eine Gegnerschaft ganz eigener Art erwuchs den Mendelssohns indes in der Person
und Lehre des in jenen Tagen im Pariser Exil lebenden und wirkenden Dichters
Heinrich Heine. Jener, welcher bereits im Jahre 1825 vom Judentum zum Christentum
konvertiert war; sich somit das „Entréebilllet“ zu der, den Juden seinerzeit
verschlossenen europäischen Kultur verschaffte hatte, bereute diesen Schritt ein Leben
lang, gab sich somit zwiespältigen, zwischen Judentum und Christentum
widerstreitenden Empfindungen und allgemeinen Vorwürfen hin.
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Umso schärfer als er selbst unter diesem Zustande leiden sollte, beobachtete er von
Paris aus das Walten und Gebaren anderer Konvertiten wie Ludwig Börne und Felix
Mendelssohn. Eifersüchtig gewahrte er die erklärte, ihm selbst verwehrte, vollgültige
Hingabe und Hinwendung Mendelssohns zum protestantischen Glauben. In einem Akt
von Selbsthass beargwöhnte Heine dabei eine, Mendelssohn unterstellte,
hyperkritische evangelische Christianisierung des Konvertiten, welche sich auch beredt
im Werk (Vertonung biblischer Texte und Psalmen) Ausdruck verschaffte.
In jener episch-satirischen Dichtung, welche Heine dem verlorenen, aus politischen
Gründen zwangsweise gemiedenen Vaterlande widmete und welche eben darum
„Deutschland – ein Wintermärchen“ heißt, führt Heine einen deftigen, spöttischen
Seitenhieb auf den gefeierten, zeitgenössischen Komponisten, Es heißt also darum in
Caput XVI, Vers21-24: „
„Der Abraham hat mit Lea erzeugt; ein Bübchen, Felix heißt er, er hatte es weit im
Christentum, Ist schon Kapellmeister...“
Im Jahre 1842 schreibt Heinrich Heine über Mendelssohn und beschwört einen Konflikt
heraus zwischen dem praktisch-musikalisch angewandten Christentum von Felix
Mendelssohn und jenes Giaccino Rossinis, welche sich doch bei einem Treffen in
Frankfurt am Main im Jahre 1836 persönlich, sehr gut verstanden hatten. Dabei
vergleicht Heine das in der „Stabat Mater“ zum Ausdruck gebrachte Christentum
Rossinis als symbolisches, machtvolles Apeninnengebirge mit jenem in Mendelssohn
Oratorium „Paulus“, welches lediglich die Ausmaße eines kümmerlichen Hügels bei
Berlin annähme.
Und so steht in der Pariser Zeitschrift „Lutetia“, erschienen in der Mitte des Monats
April 1842: (Erstveröffentlichung in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, in englisch
zitiert in dem und entnommen dem Aufsatz „1848, anti-Semitism, and the Mendelssohn
Reception“ von Donald Mintz) anlässlich einer religiösen Prozession in dem Ort Sète
südlich von Montpellier:
Accordingly, the greatest artists in music as in painting have sought to decorate the
overhelming horrors of the Passion with as many flowers as possible and to ameliorate
the bloody seriousness with playfull tenderness – and this is what Rossini did, when he
composed his “Stabat Mater”. (...) I find the „Stabat „ by Rossini more truly Christian
than „St. Paul“, the Oratorio by Felix Mendelssohn-Bartholdy that is praised by Rossinis
opponents as a model of Christianity. (...) I wish to civil about the christianity of the
aforementioned oratorio, because Felix Mendelssohn-Bartholdy is by birth a Jew. But I
cannot avoid indicating that at the age at wich Herr Mendelssohn adopted Christianity –
he was baptised in his thirteenth year – Rossini had already left it and had plunged into
the Secularity of the operatic world. (...) In the same series of concerts we heard the „St.
Paul” of Herr Felix Mendelssohn-Bartholdy, who by this propinquity drew our attention to
him and himself called forth the comparison with Rossini. In the view of the great public,
this comparison in no way come out to the advantage of our young countryman. It is as
if compared the Apennines with the Templower Hill in Berlin. (..)
Dabei behauptet Heine hartnäckig, dass Felix Mendelssohn im 13. Lebensjahre
evangelisch getauft wurde. In Wahrheit fand die Taufe Felix Mendelssohns bereits im
Jahre 1816, also in einem Alter von 7 Jahren statt.
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In der Zeitung “Lutetia”, im Anhang: Musikalische Saison von 1844 – Erster Bericht;
Paris, vom 25. April 1844 referiert Heine über Mendelssohns Stil und seine Ästhetik,
spricht dem Komponisten aber die Fähigkeit zu dramatischer Komposition und zu
musikalischer Ergriffenheit durch sein Wirken vollständig ab. Dies Vorurteil sollte in
wenigen späteren Jahren wieder aufgegriffen und publiziert werden. Heinrich Heine
nimmt also eine Vorreiterfunktion der später um sich greifenden Mendelssohn-Ächtung
an.
Es steht also in der „Lutetia, 1844“:
“Mendelssohn always offers us the occasion to consider the highest Problems of
aesthetics, that is, he always brings up the great question: What is the difference art and
falsehood? In the case of this master, we admire especially his great talent for forms, for
stylistics, his talent for making the most extraordinary his own, his charmingly beautiful
writing, his tenderly filing horns and his serious – I might almost say passionate –
indifference. If we look for a parallel phenomena in a sister art we shall find it in literature
and it is called Ludwig Tieck. This master too knew how to reproduce the most
advantageous qualities, whether in writing or declaiming, and he even understood how
to manufacture the naive; yet he never produced anything that moved the masses and
remained lively in their hearts. The more talented Mendelssohn would more likely
succeed in creating something lasting, but not on the territory where truth, in spite of his
most intense wishes never brought off a real dramatic contribution”.
In der Ausgabe der "Neuen Zeitung für Musik" ("NZfM") in Leipzig vom 1. März 1846
agitierte die Meissner Schriftstellerin Louise Otto (1819-95) in einem Artikel namens
"Parteien -Cliquen" gegen den Gewandhausdirektor und Komponisten Felix
Mendelssohn. Ohne ihn namentlich zu nennen, stellte sie in anspielungsreicher
Beschreibung dessen umfangreiches lokales und überregionales Musikengagement als
reaktionäre Egomanen-, Cliquen-und Adeptenwirtschaft dar. Obgleich sich Louise Otto
in der Attacke auf Felix Mendelssohn offenkundiger judenfeindlichen Attribute enthielt,
umriss sie beispielhaft einen zentralen Aspekt antisemitischen Demagogie. Es sollte
wenig später ganz unmittelbar zum Ausdruck kommen und bis in die rassenbiologisch
ausgeprägte Rhetorik des Nationalsozialismus unverändert gebräuchlich sein: der
vermeintliche Hang und die Fähigkeit "des Juden", sich vermittels Cliquenwesens
Vorteile, Einfluss, Beherrschung und Vormacht gar in Kultur und Gesellschaft zu
verschaffen. In der "NZfM" behauptet Luise Otto also:
" (...) die einen halten eigensinnig fest an dem Bestehenden, und möchten, daß immer
Alles so bliebe, wie es gerade ist -so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche
nur am Vergangenen sich erfreuen...und denen, welche das Dagewesene nur als
Grundlage wollen gelten lassen, darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören
soll. (...)
Da ist z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisiert sich aus den
Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Kompositionen,
sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur was
diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen. (...)
Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn,
daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fußstapfen ihm nachtreten,
ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen (...)
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Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht...gar nichts anderes übrig, als irgend einer
solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken
sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine
Parteien. (...)
Der somit als eigensüchtig und reaktionär dargestellten "Clique" stellt die Autorin in der
Folge die Idealvereinigung einer "Partei" hochherzig Gleichgesinnter gegenüber. In
eindeutiger Bezugnahme auf Mendelssohns Bemühungen um nachhaltigen Rückgewinn
des Bachschen Werkes umreißt sie vorab die Entwicklung eines zielstrebig geschürten
"Parteienstreites". Dieser sollte wenige Jahre darauf zum Ausbruch kommen und die
deutsche Musikwelt bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bewegen. Wie sich noch zu
zeigen wird, hatte die "Neue Zeitung für Musik" im Benehmen eines maßgeblich tätigen
publizistischen Aggressors an den künftigen Geschehnissen erheblich Anteil und
bereitete demselben in Pamphleten wie diesem offenkundig die ideologische Grundlage.
Luise Otto führt also des Weiteren aus:
"Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewusstsein huldigen, welche an den Fortschritt,
an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben, welche nicht in die Redensart der
Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was zu erreichen möglich ist, erreicht durch die
grossen Leistungen der alten Meister(...)“
Alle diejenigen sollten sich durch festeres Zusammenhalten mit den Gleichgesinnten
sich gewissermaßen als Fortschrittspartei organisieren, "um so leichter der ungleich
stärkeren Schar derer entgegenzutreten, welche von keinem Vorwärts etwas wissen
wollen (...) Diese Leute, welche nie von der Stelle wegzubringen sind, (...) halten (...),
weil sie an gar kein Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege
einschlagen können, weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschritts, da
es viele Wege gibt, welche weiterführen".
Im November des Jahres 1846 unterstellte das "Leipziger Tagblatt" Mendelssohn als
Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym
verfassten Rezension diffuse ”mosaische” Interessen. Er habe im Verlaufe des
Premierenkonzertes -dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend -seine
fulminante Interpretation der vorangestellten Rossini-Ouvertüre "Wilhelm-Tell"
demonstrativ wiederholt, bestrebt, die Uraufführung des Werkes eines deutschen
Komponisten zu diskreditieren.
Der Anwurf verleugnet gezielt 2 wesentliche Umstände: die gängige zeitgenössische
Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Akklamation hin; des weiteren
die freundschaftlich kollegiale Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.
Wenige Abhandlungen Schumanns/ Mendelssohns erwähnen diese anonym
veröffentlichte, mit antisemitischem Affekt aufgeladene Rezension im Leipziger
Tagblatt. Er findet sich mehr oder weniger ausführlich dargestellt lediglich bei Eric
Werner, Walter Dahms und dem neuen Clara & Robert Schumann-Buch von Wolfgang
Held.
Die Zielgenauigkeit solcherart Infamie, beweist die heftige Erregtheit Mendelssohns in
Kenntnisnahme des Anwurfs. Er verweigerte inständig die musikalische Leitung der B-
Premiere des Werkes und künftig jedweder Aufführung einer Schumann-Komposition.
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Nur dem gütlichen Einwirken Cécile Mendelssohns und der als Gast im Hause
Mendelssohn weilenden Clara Schumann war es geschuldet, daß das B-Konzert am
16.11.1846 planmäßig durchgeführt wurde.
Genannter Anwurf bezeugt vielmehr nachhaltigen publizistischen Einfluss
Jungdeutscher Aktivisten im Vorfeld der Revolution von 1848. Studentische
Männerbünde als maßgebliche Träger des Revolutionsgedanken, geschult an Fichte,
von Hetzschriften Constantin Frantz und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn
angeleitet, formierten das Nationalideal zunehmend in fanatischer Abgrenzung allem
vermeintlich undeutschem Einfluss gegenüber. Aber nicht die Präsenz europäischer
Nachbarstaaten, des romanischen oder slawischen Kulturraums etwa stand im Zentrum
„germanomanischen“ Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im
eigenen Lande: den Juden.
Hochrangige Persönlichkeiten des öffentliche Lebens – exemplarisch für das
Hardenbergsche Ideal vollendeter staatsbürgerlicher Judenemanzipation stehend –
gezielt als „mosaisch“ herabzusetzen, galt demnach als das nationale Gebot.
Im Todesjahr Felix Mendelssohns beschwor der Literat Heinrich Laube in einer von
Konkurrenzneid motivierten Polemik gegen Giacomo Meyerbeer und dessen
vermeintliche „Berliner Juden-und Cliquenwirtschaft“ eine Gefahr kultureller
„Überjudung“ Deutschlands herauf. Im Vorwort der Erstauflage seines auf der Bühne
erfolglos gebliebenen Dramas "Struensee" argumentierte er folgendermaßen:
"Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die der
Literatur. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn
die Juden sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch, wie sie
es vor zweitausend Jahren waren (...). Ein solches Etwas des fremden Judentums liegt
hier vor und schiebt sich zudringlich in die deutsche literarische Welt, wie denn jeder
Schriftsteller (...) mit Leichtigkeit (...) nachweisen könnte und (...) nachweisen sollte,
da(ß) der Überdrang des jüdischen Moments bedenklich wird für unsere nationalen
Eigenschaften. Dies Etwas ist hier eine bereits tief verzweigte Maxime des Berliner
Judentums (...) aus diesem Elemente des (...) Berliner Judentums im Besonderen
stammt die Taktik Herrn Meyerbeers.“
Die Parallelen zu der wenige Jahre später einsetzenden Debatte um eine
vermeintliche semitische Dominanz Mendelssohnscher und Meyerbeerscher
Kompositionen innerhalb der deutschen Musik sind unübersehbar. Der Zeitgeist
zunehmender Propaganda nachhaltiger Entfernung „semitischer Elaborate“ aus dem
kulturellen Kontext, der Bereinigung desselben vom Fremdelement wohnt den Worten
Laubes exemplarisch inne.
Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!
Wenige Stunden vor Mendelssohns Tod, schrieb Ignaz Moscheles am Morgen des 4.
November 1847 im Hause Mendelssohn folgende Zeilen und lässt uns somit an einem
meditativen Moment intimster, gleichwohl vergeblicher Betrachtungen teilnehmen:
"Dir, o Schöpfer, ist es bewusst, warum Du in dieser Seele des Gemüts angehäuft hast,
die die zarte Hülle seines Körpers nur eine beschränkte Zeit zu tragen fähig ist (...). Kann
unser Flehen nicht diesen Menschen uns erhalten? - Dein Werk ist vollbracht. (...)
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-Keiner ist Dir näher gekommen als er, für dessen Dasein wir zittern. -Laß ihm auch
den irdischen Lohn werden! Laß ihn die Liebe zu seiner Lebensgefährtin, die
Entwicklung seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt
genießen!"
3. Der größte, lebende Komponist
Die New York Tribune vermeldete am 13. Dezember 1847 der musikinteressierten
Öffentlichkeit: "Am 4. November verschied Dr. Felix Mendelssohn Bartholdy – der
größte lebende Komponist – in seinem 38. Lebensjahr; (...) Dieser vorzeitige Tod, der
für die ganze musikalische Welt ein nicht wieder gut zu machender Verlust ist, wurde
durch eine Gehirnerkrankung verursacht und ohne Zweifel durch schwere geistige
Arbeit herbeigeführt. Seit 1835 lebte er in Leipzig, wo er (...) ein so lebhaftes und
vornehmes Verhalten in sich vereinigte, daß er die Herzen aller gewann... Wahrlich – in
ihm war ein hervorragender Geist...“
In jenen Zeiten war der Telegraph gerade erst erfunden, beschränkte sich dessen
Anwendung noch auf Kurzstreckenverbindungen von Landeshauptstädten.
Interkontinentale Informationen konnten also ausschließlich auf dem Seewege
weitervermittelt werden; so nahm der Postweg London – Neu Delhi noch 30 Tage in
Anspruch. Somit zeugt die Veröffentlichung eines Nachrufes auf Felix Mendelssohn
Bartholdy in einem führenden amerikanischen Presseorgan, nur 5 Wochen nach dessen
Tode veröffentlicht, von der grossen Wertschätzung des Genannten auch in den
Städten der Neuen Welt.
Eigentümlich im Vergleich dazu bzw. geradezu medioker nahmen sich die Umstände
aus, unter welchen die „Neue Zeitung für Musik“ ihre Leserschaft vom Tode des
Komponisten in Kenntnis setzte. Im Jahre 1835 von der Davidsbündlerschaft Robert
Schumanns in Leipzig gegründet, hatte sich diese über das Ausscheiden des Initiators
aus der Redaktion hinaus, zu einem führenden Organ des deutschen Musiklebens
entwickelt.
Die „NZFM“ erschien aktualitätsnah etwa alle 4 Tage und wurde den deutschlandweit
zeichnenden Abonnenten über örtliche Buchhändler zugestellt. Obwohl örtlich
unmittelbar präsent, schwieg sich das Musikorgan über 2 Nummern – die Ausgaben Nr.
38 vom 8.11.1847 und 39 vom 11.11.1847 -hinweg über den Verlust eines
hochrangigen zeitgenössischen Tonschöpfers aus. Erst 11 Tage später, nunmehr in der
Ausgabe Nr. 40 vom 15.11.1847 vermeldete die „NZFM“ den Tod Mendelssohn
Bartholdys unter Vermischtes.
Der etwa 1-spältige Artikel wird mit der lakonischen Verweis eingeleitet, daß ja: „der
grosse Verlust, den Leipzig und die Tonkunst der Gegenwart betroffen hat, (...) schon
allgemein bekannt geworden“ sei. Ohne sich -in welcher Weise auch immer -ästhetisch
wertend auf das Lebenswerk des Verstorbenen einzulassen, erschöpft sich die Meldung
in penibel vorgenommener Darstellung der Todesumstände und des
Leichenbegängnisses. Offenkundig am Gegenstande desinteressiert klingt der Artikel
folgendermaßen aus: Was die Kunst an ihm verloren, das brauchen wir hier, die wir ihm
stets mit wahrhaftem Interesse gefolgt sind, nicht auseinanderzusetzen.“
Ernst Kossacks Nachruf auf Mendelssohn – erschienen in der Neuen Berliner
Musikzeitung 1/45 (1847) listet befremdlicherweise die "Sommernachtstraum -Musik",
die Bühnenmusik für Antigone, und die Oratorien Paulus und Elias als Mendelssohns
bedeutsamste Werke auf.
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Dese Listung als Vorrangigste Meisterwerke des Komponisten trägt der Bedeutung als
notwendige Gebrauchswerke jener tage Rechnung. Die beiden Schauspielmusiken
exklusive der "Sommernachtstraum"-Ouverture entstanden gar auf Bestellung also im
Auftrag des königlichen Preussischen Hofes. (Mendelssohns Bühnenmusiken und
Oratorien waren zu jener zeit bei Bühnen und den zahllosen Liebhaberchören der
Liedertafeln sehr begehrt. Das Publikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts indes
betrachtete die Oper als höchste musikalische Kunstform. Kossack bezieht sich auf jene
Tatsache, indem er bedauernd schreibt, dass Mendelssohn nur gerade an seinem
Lebensende in der „höchsten Kunstform, der grossen tragischen Oper“ begonnen habe
zu wirken.
In den Nummern 45, 47 und 49 des Bandes 27 der „Neuen Zeitschrift für Musik“ aus
Leipzig vom Dezember des Jahres 1847 verübte Dr. Eduard Krüger einen
publizistischen Anschlag auf Mendelssohns Oratorium „Elias“ (Der Herausgeber des
Organs, Franz Brendel sah sich dabei genötigt, anhänglich sein bedauern darüber zum
Ausdruck zu bringen, dass jene Attacken so nahe am Tode des Komponisten geführt
wurden.) Krüger setzt sich dabei verbissen mit der originär-kritisch einhergehenden
Spekulation darüber auseinander, dass das Libretto indifferent in der dramaturgischen
Entwicklung sei Des Weiteren gibt der Publizist seine Behauptung zu bedenken, dass
die musikalische Charakterisierung es nicht ermögliche, zu erkennen, ob man jeweils
einem Engel, Propheten, König, einer Königin, Witwe, einem Baals-Chor oder einem
Fischer Gehör schenkt.
Wenige Monate nach Mendelssohns Tode bereits nahm die Wertschätzung des
Komponisten unter den musikalisch gebildeten Bürgern Leipzigs rapide ab, schwand der
öffentliche Zuspruch an Darbietungen seiner Musik im Gewandhause nachweislich.
Am 3. Februar 1848, zur Wiederkehr von Mendelssohns 39. Geburtstage, fand
daselbst – nunmehr unter Gades Leitung -die Leipziger Erstaufführung von
Mendelssohns letztem grossen vollendeten Vokalwerk, des Oratoriums "Elias" statt. In
Birmingham erlebte das Werk am 26. August 1846 die Uraufführung unter begeisterter
Anteilnahme von 2000 Zuhörern. Anders als in Gedächtniskonzerten des Werkes,
welche dem Gewandhausmemorial zeitgleich unter würdigeren Bedingungen in Berlin
stattfanden, stieß das Werk in der sächsischen Musikstadt auf vergleichsweise wenig
Interesse und Verständnis. Die örtliche Presse, ja bereits mehrfach im Benehmen
hervorgetreten, eine Abkehr öffentlicher Wertschätzung Mendelssohns herbeizuführen,
nahm den Vorgang sogleich als Bestätigung einer publizistisch konstatierter
Überschätzung und folgerichtiger allgemeiner Abkehr des Publikums vom ehemaligen
musikalischen Idol auf. Mendelssohns Freund, Weggenosse und Nachfolger in
Konservatoriumsdiensten, der Komponist Ignaz Moscheles berichtet darüber:
"Das Konzert, zum Besten des Pensionsfonds gegeben, konnte sich
unbegreiflicherweise nur eines zwei Drittel gefüllten Saales rühmen, die ehrfurchtsvolle
Stille, mit der das Werk aufgenommen wurde, ließ einige Blätter behaupten, das
Publikum sei nicht davon ergriffen gewesen. Die ganze Sache rief bei uns und einigen
Gleichgesinnten viel Entrüstung hervor".
Es ist schwer, die Ursachen des rapid vonstattengehenden, noch zu anderer
Gelegenheit ersichtlichen Desinteresses der Leipziger Bildungsbürgerschaft zu
räsonieren, ohne gleichsam in Spekulation zu verfallen. Immerhin erwies dieselbe dem
Verstorbenen gerade 3 Monate zuvor beim Hochamt und Leichenzug noch zu
tausenden posthume Reverenz.
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Hatte der zunehmend aggressive Stil, welchen die „NZFM“ im Bestreben dezidierter
Propaganda musikalischer Avantgarde an den Tag legte, das unter den Musikfreunden
Leipzigs vorherrschende Klima mittlerweile vollständig zugunsten aktueller deutscher
Komponisten wie Schumann, Liszt und Wagner beeinflusst?
Diese wirkten seinerzeit ja alle dominant in einem, von den Musikzentren Dresden,
Leipzig und Weimar gebildeten, sächsischen Kulturgrossraum.
Angemerkt sei, daß, unausgesetzter persönlicher Bewunderung Mendelssohns durch
Schumann zum Trotze, in Mendelssohns letzten Lebensjahre die Beziehungen
zwischen den genannten, mehr noch: zwischen deren Anhängerschaften von
„Mendelssohnianern“ und „Schumannianern“ merklich abkühlten. Irritationen unter den
„Schumannianern“, welche um die Uraufführung der 2 C-Dur Symphonie herum
entstanden, teilweise von der Presse gezielt lanciert wurde, konnten durch den Einsatz
Clara Schumanns und Cecile Mendelssohns ja noch bereinigt werden. Mendelssohn
wiederum erklärte ein halbes Jahr später unmissverständlich im Freundeskreis, daß er,
verbittert über nicht näher überlieferte, unerträgliche, abfällige Bemerkungen des
Kollegen, mit Schumann und seiner Musik endgültig nichts mehr zu schaffen haben
wünsche.
Hans von Bülow, von ihm an anderer Stelle mehr, kam im Jahre 1851 in dem Essay
"Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner" im Rückblick auf die
Wesensarten kulturellen Leipziger Lebens der späten 40ziger Jahre denn auch zu
folgendem unrühmlichen Ergebnis:
"Das musikalische Leipzig hatte sich indessen nach Mendelssohns Tode in
verschiedene Fraktionen gespalten. Schumann ward der Abgott der Einen und bestieg
den durch seines Vorgängers Tod erledigten Thron. Wir sind weit entfernt, dies nicht in
der Ordnung zu finden,; doch wurde diese Erhebung von einer mindestens sehr
überflüssigen Herabsetzung der Verdienste Mendelssohns begleitet., welche dem
Leipziger Lokalpatriotismus , der wie schon den periodisch Abwesenden (wir erinnern
an Gade) , in noch höherem Grade den auf immer Entfernten, den Todten, Unrecht
gibt."
Die im März des Jahres 1848 ausbrechenden Revolutionsunruhen bedingten möglicherweise
die Abkehr eines Großteils bildungsbürgerlicher Bevölkerungsschichten von
Überkommenem und deren Zuwendung zu radikalen Positionen auch in den Künsten.
4. Antisemitismus
Die unmittelbaren Revolutionsjahre 1848/49 brachten erneut judenfeindliche Exzesse
hervor, welche von nahezu allen ins Revolutionsgeschehen eingebundenen
Gesellschaftsschichten ausgingen. So sind Plünderungen, Misshandlungen,
Enteignungen und Erpressungen aus den Deutschlanden Baden, Bayern, Hessen,
Württemberg, Schlesien und Westpreußen sowie den Städten Berlin, Köln und Wien
dokumentiert.
Ungeachtet des jeweiligen Standpunktes, wurden die Juden als verantwortlich für den
Ausbruch der Unruhen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, das Gedeihen oder
Scheitern von Revolution und Demokratie betrachtet. Die Progressive beschuldigte die
Juden, als Großbürger und Finanziers das Feudalsystem zu unterstützen oder als
Polizeiagenten und –spitzel einer Rothschildschen Weltverschwörung zuzuarbeiten.
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Die Konservative wiederum sah die Revolution als Werk „rothe(r) jüdische(r) Wühlerei“
und der „Judenverschwörung“ an. Das Kleinbürgertum und die Landstände sahen die
Juden hingegen als revolutionäre Förderer und Urheber, bestrebt, der gemeinhin
verhaßten staatsbürgerlichen Judenemanzipation endgültig zum Durchbruch zu
verhelfen. Das publizistische Zentrum des revolutionären Antisemitismus befand sich in
den Städten Wien und Berlin. Während die Agitatoren der in Berlin publizierten
judenfeindlichen Pamphlete einen vergleichsweise gemäßigten Ton anschlugen, gaben
sich die Publizisten Wiens zunehmend einschlägigen rhetorischen Vernichtungsorgien
hin.
Der Korrespondent Paul Eduard Müller-Tellering gelobte in der Broschüre: "Freiheit
und Juden", sich „wie jeder Volks-und Freiheitsmann“ über die „Mittel“ und den „Zweck
(...) Vernichtung des Judentums – in Österreich (...) ohne Schädeleinschlagen“ zu
bedenken und gemahnte des revolutionären Auftrags, das Deutschlands Freiheit nicht
nur den Sturz der 34 Throne“, sondern vielmehr die Beseitigung des Judentums
voraussetzte, denn: „die Tyrannei steckt im Gelde und das Geld gehört den Juden".
Flugblätter, wie jenes nachfolgend zitierte anonym publizierte oder letzteres von
„Schmidt“ autorisierte, suchten im Wien des Jahres 1848 hingegen, unmittelbaren
„Volkszorn gegen die Juden“ zu entfesseln. Der Anonymus prophezeite in "Die Juden,
wie sie waren, sind – und bleiben werden":
„Judenblut wird in Strömen fließen“ und verdeutlichte somit den potentiellen Opfern,
daß ihre Hoffnung hinsichtlich „völliger Gleichstellung der Confessionen“ auf
„Jahrhunderte weit hinaus gerückt werden“ würde.
„Schmidt“ indessen verstieg sich in der „Bittschrift“ unverhohlen zu
Genozidvorstellungen: "Wenn das Christenvolk kein Christenthum und kein Geld mehr
hat", und beides durch eure unablässige Bemühung so gekommen ist, dann, ihr Juden!
lasst euch eiserne Schädel machen, mit den "beinernen" werdet ihr die Geschichte nicht
überleben!“
Das erste demokratisch konstituierte Parlament Deutschlands, welches in den Jahren
1848/49 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, sah erklärte
Antisemiten wie den fanatischen Männerbündler und Chauvinisten Friedrich Ludwig
Jahn in den Reihen der Abgeordneten.
5. Das Judenthum in der Musik
Im Januar 1850 erkannte auch die musikalische Rezension Mendelssohns erstmals
dezidiert auf einen vermeintlich semitischen Aspekt in dessen Musik. Dr. Eduard Krüger
bemängelte in der "Neuen Berliner Musikzeitung" (NBMZ) in seiner Beurteilung der
aktuell herausgegebenen Drei Psalmen Op. 78, Nr. 6 posthum „sangreiche(n)
Weiberstimmen" welche in Mendelssohns Vokalwerk "rabbinisch belehrend unisonieren"
bzw. eine "in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe
Rhythmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert" („NBMZ“
v. 2.1.1850). Der zeitgenössisch-musikalischen Resonanz der Psalmen und Oratorien
biblischen Charakters Mendelssohns ungeachtet, spricht Krüger des Weiteren dem
Komponisten die Berechtigung zu sakralem Schaffen generell ab. Die pauschale
Herabsetzung der Kirchenmusik Mendelssohns ging Meinungen zahlreicher
Musikpublizisten jener Tage konform.
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Diese erregten sich u. a. bereits über die „Judaisierung“ christlichen Kulturgutes oder die
Dreistigkeit der Autorisierung einer Reformationssymphony durch den Enkel des
ursprünglich ja Mausche-ni Dessau gerufenen Moses Mendelssohn.
Am 5. Februar des gleichen Jahres erschien in der „NZfM“ der erste Beitrag polemischer
Auseinandersetzungen um Werk und musikalische Ästhetik des bedeutenden
zeitgenössischen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Für die Artikel, insgesamt
den neuesten grossen Bühnenerfolg des Komponisten "Der Prophet" thematisierend,
zeichnete stets der Musiker und Publizist Theodor Uhlig verantwortlich.
Hervorstechendstes Merkmal der partiell in Rezensionsform vorgebrachten Pamphlete
ist eine Begrifflichkeit, welche wenig darauf den Basiswortschatz jener, das Werk Felix
Mendelssohns als spezifisch jüdisch und somit pauschal wertloses Musikschaffen,
indizierenden Publizistik darstellte.
In dem genannten Beitrag "Der Prophet von Meyerbeer" verweist Uhlig in
mehrdeutigen Worten auf mögliche Ursachen vermeintlicher rhythmischer und
harmonischer "Eigenthümlichkeiten" in der Opernpartitur, deren "Ursache" er weder
offen zu legen noch anhand des vorgegebenen Material musikdramaturgisch zu
verdeutlichen bereit ist.
"(...) Der Marsch nämlich, der sich sonst - wie sich von selbst versteht -in der schönsten
Symmetrie 4-und 2-tactiger Rhythmen fortbewegt, beginnt mit folgendem Fünfer: (es
folgt ein 5-taktiges Notenbeispiel vom Beginn des "Krönungsmarsches")
Der Demonstration eines Casus Lapsus folgt lediglich der Verweis auf eine kryptisch
anmutende Ursächlichkeit absonderlicher Meyerbeerscher Tonsprache:
"Ohne sich in eigene Untersuchungen über eine Erscheinung einzulassen, die wie
jede andere Ungewöhnlichkeit bei Meyerbeer zuverlässig eine tiefe Bedeutung hat,
glaubte der Beurtheiler den Nachahmern des alleinseligmachenden Operncomponisten
das vorliegende rhythmische Rätsel mit der nahe liegenden Aufforderung zur Lösung
nicht vorenthalten zu dürfen."
Für sich genommen könnte das Beispiel als ironische Abstrafung angemuteter Wirrheit
im musikalischen Entwurf eines missliebigen Zeitgenossen gelten. Im Zusammenhang
mit den Folgeartikeln und ähnlichen, einmal mehr, einmal weniger zweideutig
vorgebrachten Charakterisierungen besehen, erschließt sich angesichts von Begriffen
wie "tiefer Bedeutung", "Rätsel" und "Lösung" die Perfidität sublim vorgenommener
antisemitisch-dramaturgischer Steigerung in der publizistischen Inszenierung eines
fatalen Niederganges der Musik jüdischer Komponisten.
Im weiteren Verlaufe des Artikels verlagert sich das demonstrativ geäußerte Unbehagen
eines deutschen Rezensenten an der Musik Meyerbeers immer offenkundiger auf eine
Schiene amusikalischer Mediokrität. So mit dem ominös vorgebrachten Hinweis auf eine
"natürliche Erklärung" des monierten Sachverhaltes.
Im weiteren Verlaufe dieser Serie von Polemiken gegen Meyerbeers „Le Prophete“
verdichtete Uhlig in der „NZFM“ sein Ressentiment gegen das Werk auf ein als das
zentrale Problem anzusehende Argument von „ Gesangsweisen.“ welche „(...) einem
guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen“
und erkannte auf eine „(...) mit solchen Mitteln betriebenen Propaganda des
hebräischen Kunstgeschmacks“.
21
Er pauschalisiert des Weiteren hinsichtlich „ (...) der Musik vieler jüdischer Komponisten“
welche „alle nichtjüdischen Musiker (...) mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte
jüdische Sprechweise (...) als ein Gemauschele“ empfinden.
Hans von Bülow, in späteren Jahren ein Dirigent von Weltruf, begann den von
gravierenden Wechselwirkungen gezeichneten künstlerischen Lebensweg als
jugendlicher Musikrezensent Berliner und Leipziger Publikationen.
Nicht von ungefähr sekundierte er im gleichen Monat in der Berliner „Abendpost,
democratische Zeitung“ den Bestrebungen Krügers und Uhligs. Er übertraf dieselben
noch in einem signifikanten Akt entschiedenen vorgenommener publizistischer
Demontage des Komponisten Felix Mendelssohn .
In der Besprechung der „Zweiten Symphonischen Soiree der königl. Kapelle im Saale
der Singakademie“ vom 23. Februar 1850 ist also anlässlich einer Darbietung der ADur-
Symphony zu lesen:
„Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler ist je alles so
von Statten gegangen; keiner hat je bei seinen Lebzeiten so viel Zeichen der Verehrung
und des Enthusiasmusses von allen Seiten erhalten (...) und er hat seinen Namen
(Felix) im Superlativ getragen.
(...) Mendelssohn war kein Mann der Zukunft, er schuf für seine Zeit, für die Gegenwart;
(...) (er) hat nie dem herrschenden Modegeschmack Concessionen gemacht, er hat ihn
sogar geläutert und erhoben.
Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein außerordentliches Talent, dem
Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines
Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen. Der Unterschied
zwischen Talent und Genie liegt (...) darin, daß (...) Talent stets bei seinem Auftreten
mehr Beifall und wirkliche Sympathie antreffen (wird), als das Genie, das zuweilen
abstößt und befremdet. (...)
Dafür ist aber dem Genie auch die Unsterblichkeit, d. h. die Popularität gewiss. Doch
diese Entwicklung würde uns zu weit führen, und wir wollen nur noch bemerken, daß die
genannte Symphonie von Mendelssohn (...) weniger Anklang im Publikum zu finden
vermochte, als wir ihr gewünscht hätten (...); im letzten Satze ist jenes neckische,
elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität
Mendelssohns besteht."
Von Bülow komprimiert somit zweifelsohne kursierende zeitgenössische Vorurteile
gegen Erfolgsautoren, Privilegierte und Erfolgsjuden erstmalig zu einem analytisch
präzise umrissenen Bild des zur Kunst letztlich unberufenen, sich die Kunst lediglich
vermittels diverser biographisch bedingter Privilegien anmaßenden Compositeurs.
Er legt gleichsam in Teilen den Katalog einschlägiger, stereotyp referierter
Subjektivismen einer, in der Musikgeschichte wohl einzigartig bestehenden, rein
biografisch hergeleiteten, rhetorischen Zersetzung der Substanz und Intention von
Musik, der Musik Felix Mendelssohns vor. Weitere Publikationen, welche den Katalog
entwertender Mendelssohn-Invektiven abrundeten und vervollkommneten sollten
zeitnah folgen.
Da dieser Katalog sich über 150 Jahre hinweg bis in unsere Zeit hinein als wirksam
erweisen und in Publikationen jüngeren, stellenweise jüngsten Datums ihren
Niederschlag finden, seien hier die wesentlichen Stereotypen zusammengefasst:
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Felix = Glück; lebenslanger Erfolg, einziger Siegeszug, lebenslange Sorgenlosigkeit,
grosser Reichtum des Vaters, familiäre Geborgenheit, allseits geliebt, Jude, musikalisch
empfindungslos und artfremd, Glätte, Kälte, perfektionistische Formelhaftigkeit,
mangelnde Dramatik und Verweichlichung, Sentimentalität in der Musik.
Das die Polemik Uhligs in der „NZfM“ gegen eine vermeintlich vorherrschende
„musikalische Judenschule“ und „Judenmusik“ von Anbeginn auch eine Relativierung
der Musik Felix Mendelssohns intendierte, offenbarte sich wenig später. Uhlig
konstatierte, das das semitisch-musikalische Idiom sich durchaus in unterschiedlicher
Intensität artikuliere, „je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort des
Gemeinen überwiegt“ oder „Eigentümlichkeiten (...) der metrischen Gestaltung, (...) in
einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase (...) hier nur ganz wenig,
dort ganz auffallend (...), bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in
höchster Schärfe, namentlich in seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem
Propheten“ zum Tragen kämen.
Die Rezension schliesst mit dem Verweis: „...Ebenso wenig wie die Ihnen analogen
Sprechweisen (...) diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden zu können, wo
sie (...) ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als „Judenschule“
zu bezeichnen weiss.“
Uhlig ließ es nicht dabei bewenden, Felix Mendelssohn lediglich im Anhang einer
Diffamierung Giacomo Meyerbeers pauschal herabzusetzen. In einer Rezension der im
Jahre 1843 in Berlin uraufgeführten „Sommernachtstraum“-Schauspielmusik stellt er
bereits die dramatische Wirksamkeit und musikalische Qualität des Werkes dezidiert in
Frage: „(Mendelssohn) mutet dem Zuhörer nicht zu, aus einer Dichtung die
Hauptwesenheiten herauszulesen...Als Mendelssohn die übrige Musik zum
Sommernachtstraum noch nicht geschrieben hatte, wussten die kunstverständigen
Leute bloß für das eine Tonbild der Ouvertüre die allerdings nahe liegende Erklärung
aufzufinden und gaben die Musik desselben für „Elfengeflüster aus. Der Komponist hat
diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem
Tonstücke gewollt und – nicht gekonnt hat...“ (Th. Uhlig, Musikalische Schriften,
Regensburg 1913; da der Autor bereits im Jahre 1853 im Alter von nur 30 Jahren an
einer Lungenentzündung verstarb, handelt es sich wahrscheinlich um eine
zeitgenössisch liegende Rezension der Schauspielmusik).
Die Autoren Dr. Eduard Krüger, Theodor Uhlig und Hans von Bülow betätigten sich
neben der Erfüllung ihrer publizistischen Verpflichtungen in Berlin und Dresden in den
Jahren 1850ff auch maßgeblich als Polemiker in der „NzfM“ in Leipzig. Sie zeigten sich
somit dem Umkreis der Weimarer Liszt-„Schule“ und den daraus erwachsenden
Fanatismen zugehörig. Dies lässt folgende Vermutung als legitim erscheinen: Die
Publikation aggressiv oder verhalten antisemitisch agitierender Texte, zum Auftakt einer
Pressekampagne gegen herausragende zeitgenössische Komponisten nahezu
zeitgleich in mehreren Städten und Presseorganen erfolgend, war womöglich das
Ergebnis einer konzertierten, auf Absprachen beruhenden Aktion.
Die Kampagne der „NZfM“ gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der
Veröffentlichung eines halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes, welcher die
bislang vereinzelt ausgestreuten Polemiken unter der Losung "Das Judenthum in der
Musik" zusammenfasste.
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Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligenÖffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als
Pseudonym eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem
Imageverlust vorzubeugen beabsichtigte.
Das Pamphlet verbreitet u. a. folgende Thesen:
1. Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische
Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.
2. Im Bemühen, sich in der harten, zischenden Sprechweise seines Volkes des Idioms
deutscher Sprache zu bedienen, könne der Jude als Fremder lediglich Abstoßendes
und Lächerliches hervorbringen. Vollends unerträglich sei der Versuch im
Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Der Artikulation im Idiom der
Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage zu stellen, ob er in
diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.
3. Der Jude sei von unangenehm fremdartiger Erscheinung und erfülle daher den
Europäer mit instinktivem Widerwillen gegen das jüdische Wesen. Daher habe sich der
Jude, als Individuum sowie allgemeinhin seiner Gattung nach, als Objekt künstlerischer
Darstellung in Malerei, der Musik und auf der Bühne von jeher als ungeeignet erwiesen.
Wer es aber innerhalb der deutschen Kunst niemals zu objektiver Relevanz gebracht
habe; also der künstlerischen Darstellung enthoben blieb, dem könne man
diesbezüglich auch keine subjektive Einbindung zugestehen; ist also zu kompetenter
künstlerischer Betätigung nicht befähigt.
4. Der Jude suche sich vermittels Imitation in Kleidung, Bildung und Sprache der
abendländischen Kultur zu amalgamieren. Der wahren Identität dennoch stets
eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseligung des Gastlandes ausgeschlossen.
Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch künstlerischer
Artikulation, emotional nicht erreichbar. Der Rückschluss auf formal perfekte, aber von
seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge somit auf der Hand.
5. Der Jude habe niemals autonom Kunst betrieben, daher stünde dem jüdischen
Tonsetzer einzig das Idiom synagogaler Vokalisen zu Gebote. Dies habe sich
ursprünglichen Adels, Reinheit und Erhabenheit längst enthoben und sei auf den
Zeitgenossen nurmehr in allerwiderwärtigster Trübung überkommen. Daher bediene
sich der Jude bevorzugt jener Elemente musikalischer Diaspora, welche er dem
vertrauten Synagogenton missverständlich als verwandt erachte. Sich von jeher im
Oberflächenbereich abendländischer Musik bewegend, zur Unkenntnis innerster
Beseligung des deutschen Kunstwesens nahezu verdammt, nähme der Jude gewissegefälligste Äußerlichkeiten der Musik als deren Wesen hin und versuche sich nunmehr
in vollendeter Kopie funkelnder Äußerlichkeiten des Originals. Die musikalischen
Reproduktionen aus der Hand des jüdischen Tonsetzers erschienen dem
abendländischen Hörer zweifelsohne fremdartig, kalt, gleichgültig, unnatürlich und
verdreht.
Der Autor beließ es natürlich nicht bei allgemeingefasster Darstellung des
heraufbeschworenen jüdisch-musikalischen Dilemmas.
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Er befleißigt sich vielmehr, es am konkreten, fassbaren, nahe liegenden „Objekt“ zu
veranschaulichen. Daher lesen wir am Ende des Traktates vom „Judenthum in der
Musik" eine Einschätzung von Person und Musik Felix Mendelssohns, welche sich als
folgenschwer herausstellen sollte.
Hier im Wortlaut: “An welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer, ja an welcher
konnten wir es einzig fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer
Abkunft, der von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet
war, wie nur wenige Musiker (...) vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer
Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, (...) alle Unfähigkeit
desselben, außerhalb unsres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns
verkehren (...) zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur,
dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die
feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste (...) Ehrgefühl besitzen kann, ohne es
(...) je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele
ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir (...) der Kunst (...) fähig
wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer
Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.
Freigedank bemüht sich, eine naturgegebene musikalische Apathie des Juden
Mendelssohn aus dessen Werken, genauer, deren spezifischen musikalischen Idioms
heraus zu präzisieren.
Er konstatiert daher gemeinverbindlich eine diffuse allgemeine Empfindung von
Oberflächlichkeit beim Anhören Mendelssohnscher, also dezidiert "jüdischer" Werke und
sucht dabei den Rückhalt analytischen Sachverstandes bei "Kritikern vom Fach", ohne
freilich solche konkreter benennen zu können:
"Kritikern von Fach, welche hierüber zu gleichem Bewusstsein mit uns gelangt sein
sollten, möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den
Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen: uns
genüge es hier, zur Verdeutlichung unserer allgemeinen Empfindung uns zu
gegenwärtigen, daß beim Anhören eines Tonstückes dieses Komponisten wir uns nur
dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes als unsre, mehr oder weniger nur
unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung, und Verschlingung der
feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben-und
Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die
Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt
waren (...) Für diesen letzteren Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle
Produktionsvermögen auf, weshalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im
Oratorium, zum Drama anlässt, ganz offen nach jeder Einzelheit, welche diesem oder
jenem zum Stilmuster gewählten Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal
besonders zu eigen war, greifen musste. Bei diesem Verfahren ist es noch
bezeichnend, dass der Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache
besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte.“.
Nicht allein, daß Freigedank mit den Schlagworten "unterhaltungssüchtige Phantasie auf
Seiten des Publikums" sowie "Vorführung, Reihung von feinsten, glättesten und
kunstfertigsten Figuren zum Erlebnis eines Farb-und Formenreizes eines Kaleidoskops
vergleichbar"
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die Musik Mendelssohns und anderer Komponisten jüdischer Abstammung
unmissverständlich zu Elaboraten kunstgewerblicher Manufaktur deklariert, ja dieselben
quasi dem Bereich der Jahrmarktsattraktionen zuordnet. Im Zusammenhang mit der im
allgemeintheoretischen Part des Traktates getroffenen, nachfolgend wiedergegebenen,
Charakterisierung allgemeinjüdischer Kulturproduktion betrachtet, legte Freigedank
somit eine folgenschwere Systematik negativer Schlagworte vor. Diese schlugen sich
vor allem in Begriffen wie perfektionistischer Glätte, Kälte, seelenloser Formenhaftigkeit
der vermeintlich in Kopie von Stil und Kompositionsmustern nationaler Vorbilder
entstandenen Werke, mangelnder emotionaler Tiefe aber auch jenem übermäßig
trivialer Sentimentalität mendelssohnscher Musik.
Diese sollte – wie sich noch erweisen wird -in schematischer und wortwörtlicher
Repetition die publizistische Rezeption des Gesamtbildes mendelssohnscher Musik bis
in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominieren. Die entsprechenden
Invektive sind leicht erkenntlich: "Was so der Vornahme der Juden, Kunst zu machen,
entspricht, muss daher notwendig die Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur
Trivialität und Lächerlichkeit an sich haben".
Wulf Konold brachte das – kulturhistorisch wohl einzigartig dastehende – Phänomen
im Jahre 1984 mit der Einschätzung treffenst zu Punkte, daß die Rede vom Judenthum
in der Musik für einschlägig gesinnte Musikpublizisten, „aber auch Autoren, die den
Verdacht jeglichen Antisemitismus zu Recht von sich gewiesen hätten...eine Art
„Sprachregelung“ hinsichtlich musikgeschichtlicher Mendelssohnrezeption vorgab
Als Resultat vorgeblich objektiv, detailliert vorgenommener analytischer Betrachtung der
semitischen Persönlichkeit und Musiksprache Mendelssohns referiert Freigedank seine
Erkenntnis auf vollständige künstlerische Impotenz des Komponisten; genauer, auf
konstant bestehenden Grenzen „alle(n) formelle(n) Produktionsvermögen(s)“ im
Mendelssohnschen Oeuvre. Er trachtet, dem Hörer stets die Unfähigkeit des
Komponisten, literarisch-dramatischen Figuren „die Gestalt tiefer, menschlicher und
markiger menschlicher Herzensempfindungen“ zu verleihen, überdeutlich vor zu führen.
Freigedank definiert die, das Mendelssohnsche Werk prägende „ausdruckslose
moderne Sprache“ demzufolge als Resultat und zugleich Vorbild eines „neu-jüdischen
Systems“. Dies sei, auf diese Eigenschaft (dramatischen Unvermögens, Anmk. d. Verf.)
Mendelssohnscher Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommenheit
entworfen worden. Freigedank stellt die „ausdruckslose moderne Sprache“
Mendelssohns in unmittelbaren Bezug zum nurmehr historistisch zu rezipierenden
Formalismus des Bachschen Musikidioms. Dies müsse zweifellos als „formell,
pedantisch“ empfunden werden und sei nur durch das übergroße Genie Bachs „eben
erst zum Durchbruche“ zu „rein menschlichem Ausdruck“ hin gebracht worden.
Übergroßem musikalischen Genie also, welches einem Mendelssohn demzufolge
keinesfalls gegeben sei.
Die Konstatierung eines von Mendelssohn in den Bereich der deutschen Musik
implizierten und von seinen Nachfolgern perfektionierten „neu-jüdischen Systems“,
schliesst den Kreis zum ersten Teil Freigedankscher Allgemeinbetrachtung
„musikalischen Judentums.“
Dort war ja von verzerrter, oberflächlicher Wahrnehmung zeitgenössischen
Musikschaffens aufgrund fragmentarisch im Bewusstsein verbliebenen Idioms der
26
Synagogenmusik, von Resultaten jüdischen Komponierens, welche „fremdartig, kalt,
sonderlich, gleichgültig, unnatürlich“ erscheinen, die „Eigenschaft der Kälte,
Gleichgültigkeit“ und „Trivialität“ aufweisen würden, die Rede.
Im Zusammenhang betrachtet, bedeutet die Konstatierung des, auf vermeintlich
vorväterlich überlieferter semitischer Unkenntnis und Unfähigkeit zur Artikulation im
Idiom europäischer Musiktraditionen beruhenden „neu-jüdischen Systems“ in der Musik
wohl schlichtweg folgendes:
Freigedank unterstellt Mendelssohn und seinen semitischen Mitstreitern Moscheles,
Joachim, David etc. die zielstrebige Zersetzung völkisch-kultureller Basis vermittels
„ausdruckslos“(er), also emotional kraftloser, musik-dramatisch uninspirierter „moderner
Sprache“. Also letztendlich den Versuch der, die Schwächung der Lebenskraft des
deutschen Volkes bedingenden Verseuchung kulturellen Erbes mit dem semitischen
Bazillus substanzieller künstlerischer Impotenz.
6. Ein antisemitischer Eklektizist
Damit war das Thesenpapier eines auf der hochrangigen Ebene vermeintlicher
kulturwissenschaftlicher Erkenntnis rezipierten Antisemitismus gestellt.
Genauere Betrachtung freilich deckt auf, wie konstruiert sich der Thesengang
Freigedanks insgesamt darstellt. Wie stark er, en Detail besehen, auf mangelnde oder
verdrängte Sachkenntnis oder reine Spekulation verweisend, ex kathedra verkündeten,
aber unbelegten Behauptungen geschuldet ist.
Allein die Haupttheorie von der angeblich naturgegebenen Unfähigkeit des Juden zur
Kunst ist auch nach damaligem kulturwissenschaftlichen Kenntnisstand nicht haltbar.
Als Freigedank im Judentraktat dieselbe exponierte, fortentwickelte und ultimativ
festschrieb bewegte er sich vielmehr – ob in Kenntnis der Vorgänger oder unbeeinflußt,
sei dahingestellt – in der Tradition berüchtigter antisemitischer Demagogen. So
behauptete der bereits genannte Hartwig von Hundt-Radowski im "Judenspiegel" aus
dem Jahre 1819 schlichtweg:
"Allein zu den schönen und bildenden Künsten, welche den Geist veredeln und das
Auge erfreuen, hat kein Mauschel Talent....Selbst schaffen können die Juden, als
Künstler vollends nichts, denn so stark auch ihre physische Zeugungskraft ist, so sehr
fehlt es ihnen an aller geistigen Schöpfungskraft. Als Gott sein herrliches Bild, den
Menschen schuf, wollte der Teufel ein Epigramm darauf machen, und fabrizierte einen
Juden. Die Kinder Israel können nur nachäffen und nachahmen, allein ihre
Nachäffungen sind, gleich Ihnen, gemeine widerliche Karikaturen.“
Auch Karl-Friedrich Grattenauer, von ihm sei an anderer Stelle noch ausführlicher die
Rede, erging sich bereits im Jahre 1803 in einer „Erklärung an das Publicum über meine
Schrift "Wider die Juden“ in Betrachtungen hinsichtlich Judentum und Kunst: „
„Grattenauer schreibt also: „Sind sie nicht in der Regel so wenig Produzenten als
Künstler, und plündern sie dennoch nicht beide durch ihren Handel und Wucher?“
27
Der kirchliche Publizist und Verleger Johann Gottfried Herder schliesslich erkannte im
Jahre zuvor in dem Essay "Bekehrung der Juden" in der "Anthologie Adrastea", Bd. 4,
Leipzig 1802 auf eine Diskrepanz zwischen jüdischer Existenz im Speziellen und
künstlerischer und ökonomischer Produktivität im Allgemeinen:
Es heißt bei Herder unter anderem: „ „Wären sie Seehelden, Künstler, Landcolone; bei
den Reichtümern, die sie besaßen...hätten sie längst etwas Außerordentliches zu
Stande gebracht, in Ländern und Zeiten, wo sie nichts hinderte, in jeder Kunst die
Ersten zu werden! Die Kunst, worin sie die Ersten wurden, zeigen sie fortwährend.“
Die pauschal ausgegebene Behauptung kreativen und besonders musikalischen
Mangels des Judentums aufgrund originär tonloser jüdischer Sprechweise wiederum
findet sich bereits in Werken des 18. Jahrhunderts und Zeiten zuvor. Vor allem in einer
im Jahre 1788 von Johann Nikolaus Forkel in Leipzig herausgegebenen Allgemeinen
Musikgeschichte erlangte der Aspekt im Kapitel "Musik der (alttestamentarischen)
Hebräer" umfassende, abwertende Erörterung. Dennoch vergibt es sich der Autor
keineswegs, von der frühgeschichtlichen Mediokrität rituellen hebräischen Vokalisierens
zur adäquat unbefriedigenden Situation unmittelbarer Gegenwart des Jahres 1788
überzuleiten, wenn er schreibt:
„In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein
musikalisches Beten, welches in einerlei Ton entweder gleichsam gebrummt oder
gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrei.
Wenn diese Art des Gesangs ein Überbleibsel aus alten Davidschen Zeiten ist, und sich
bis auf uns (...) fortgepflanzt hat, so muss es um die Musik der Hebräer eine erbärmliche
Sache gewesen sein".
Da Forkels Allgemeine Musikgeschichte musikalisch Professionellen auch in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts als Standardwerk galt, Riemanns Lexikon der Tonkunst und
der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" in unseren Tagen vergleichbar,
könnte es möglicherweise, im Gegensatz zu den verstreut publizierten Schriften
politischer Antisemiten, der Recherche zum "Judenthum in der Musik" gedient haben.
Das von Herder, Grattenauer, Hundt-Radowsky und Karl Freigedank gleichlautend
gefällte Urteil gründet sich vornehmlich auf ein christlich-überhebliches Unvermögen,
sich mit der spezifischen Relation jüdischer Konfession und Kultur in der Diaspora zu
den musischen Künsten auseinanderzusetzen.
Oder besser gesagt: die Genannten überheben sich, im vollen Bewusstsein, die
Traditionen jüdischer Kultur nicht zu kennen und auch nicht zur Kenntnis nehmen zu
wollen, dennoch zu verallgemeinernder Abrede jüdischer Kreativität. Die überkommene
Relevanz jüdischer Musik zu Konfession und Ritus, das auch im arabischen Raum
bestehende Verbot der Abbildung menschlichen Konterfeis, die grosse Tradition im
literarischen Bereich der Mythen und Sagen, deren erstes und nachhaltigstes Werk
sicher bereits in der Vorlage des alten Testamentes zu definieren wäre. All diese
anthropologischen Faktoren blieben der christlich-chauvinistisch vorgenommenen
Analyse der Frage, dass das Judentum in der Diaspora zeitweilig keine Kunstwerke im
strenggefassten abendländischen Sinne hervorbrachte, schlichtweg außen vor.
28
Im Rückblick auf eine nunmehr 200jährige Geschichte demagogischen Publizierens
gegen das Judentum in Politik, Kultur und bürgerlicher Gesellschaft offenbart sich eine
fatale Gepflogenheit, eine Tradition, welche allen diesen Demagogen gemeinsam ist,
deren Schrifttum wie ein Leitfaden durchzieht:
Vom Ressentiment gegen das jüdisch-fremde angeleitet, übernahmen die Autoren
pauschale diffamierende Resümees von Vorgängerpublikationen, gaben
anthropologische Theorien und vermeintliche historische Fakten bereitwillig und
ungeprüft wieder, wenn dieselben sich der eigenen inkriminierenden Sichtweise
einfügten.
Wie wir noch sehen werden, gaben zahlreiche Musikkundler des Wilhelminismus und
des 20. Jahrhunderts die rhetorischen Negationen Mendelssohn Bartholdys Hugo
Riemanns u. a. in wortwörtlicher Anlehnung wider, schrieben die Rassenfanatiker und
Kulturwissenschaftler des Nationalsozialismus satzweise aus Freigedanks Pamphlet ab.
Damit stellt sich auch die Frage, ob die selbsternannten Experten des Fachgebiets
kultureller Traditionen innerhalb des Judentums, die beurteilte Materie jemals
authentisch erfuhren. Ob Forkel und Freigedank beispielsweise im Verlaufe eines
Synagogenbesuches den rituellen Kantus eigenständig erlebten oder sich
musiktheoretisch mit demselben auseinandersetzten. Die ersichtliche Häme
karikierender Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs lassen eher auf lustvoll
transportierte und überzeichnete Aversionen schließen, welche sich seit Beginn der
Neuzeit längst im Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise festgeschrieben
hatten.
Anbetrachts konkreter Vorleistungen Theodor Uhligs, Hans von Bülows und Dr. Krügers;
in Kenntnis rückwärtigen Katalogs antisemitischer Rhetorik, welcher sich dem Zeitgeist
der Jahre 1848 – 50 andiente; lässt sich nunmehr mit grosser Sicherheit annehmen:
Freigedank erwies sich auf dem Gebiete kulturanthropologischen Antisemitismus als
genau das, was er „dem Juden“ auf dem Gebiete der Kunst und vor allem der Musik per
se vorwarf. Als Eklektizist!
Das Pamphlet vom „Judenthum in der Musik“ animierte wiederum zu weiteren
einschlägigen Polemiken und verschärfter Propaganda von Kunst als nationaler Frage
und Ersatzreligion eines erstarkenden Ideals deutscher Vereinigung im Geiste Fichtes.
7. Eine exceptionell exclusive Menschen-Race
Dr. Krüger, der – aus dem Umfeld der „NZfM“ in der Ära Robert Schumann
hervorgegangen -nunmehr als Pionier publizistisch-antisemitischer Analyse von
Mendelssohnscher Musik gelten muss, ließ Freigedanks "Judenthum" denn auch
"Gedankengänge über Judentümliches" folgen. Er begrüßte zu Anfang die
„wiedergewonnene Preßfreiheit, denn 1846-48 war es zwar sehr leicht, Schriften gegen
das Christentum (...) zu bringen, aber sehr schwer, ein offenes Wort über die Juden zu
sprechen.“ Er beklagt des weiteren, daß das deutsche Volk „den Eindringlingen nicht
wehrt, (...) Tagesgötzen bejubelt, die es selber verachtet (...) ihm (...) das Mark der
Väter verloren gegangen, vor dem die moderne Windbeutelei nicht bestanden hätte“.
(„NZfM“ vom 1.10.1850)
29
Eduard Bernsdorf hingegen entlarvt am 15.10.1850 wiederum in der „NZFM“ eklatante
Schwächen in Freigedanks analytischer Beweisführung und erhebt infolgedessen den
Vorwurf mangelnder anthropologischer Seriosität und der Demagogie.
„Der grosse Gelehrte Freigedank (...) spricht“ (Mendelssohn) „in der Tat künstlerische
Fähigkeit und Bildung nicht ab (...); aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn
hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können (....) Wie
aber dieser Mangel an Wärme (...) mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang
stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen. Er spricht...nicht über
den jüdischen Komponisten (...) bei ihm hat er nichts jargonierendes nachgewiesen, ihm
wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach...“
Schwerwiegender noch ist der am 25.1.1851 in der "Illustrierten Zeitung" (Leipzig)
erhobene Verweis des Musikers und Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf
einen wesentlichen protorassistischen Aspekt der in der „NZfM“ begonnen Debatte:
„Daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er
Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft,
erzogen und begraben worden ist.“
Judentum musste sich, Freigedank zufolge, demnach letztendlich durch andere
Aspekte als jenem „mosaischen" Bekenntnisses definieren. Durch die geburtsmässige
Zugehörigkeit zu einem fremden, nichteuropäischen Volk oder vielmehr:
geburtsmässige Zugehörigkeit zu einer fremden, nichteuropäischen Rasse!
Freigedank argumentiert dabei in der Tradition des Urhebers der im frühen 19.
Jahrhundert verkündeten Gewalt-und Vernichtungsmetaphorik, Karl Wilhelm Friedrich
Grattenauer.
Dieser publizierte bereits im Jahre 1791, also dem Beginn der germanomanischen
Kampagne Fichtes zeitlich konform gehend, Vertreibungsdemagogie in der Studie:
"Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, Stimme eines
Kosmopoliten, Germanien 1791". (Das Buch wurde in Leipzig verlegt.) Im Jahre 1803
konstatierte er in der Schrift: "Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere
christlichen Mitbürger" erstmalig: „Daß die Juden eine ganz besondere Menschen-Race
sind, kann von keinem Geschichtsforscher und Anthropologen bestritten werden.“
In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum "Judenthum in der Musik" erörterte ein A.
Escherich "Die Judenemancipationsfrage vom naturhistorischen Standpunkte aus"
besehen in der renommierten "Deutsche(n) Vierteljahresschrift", Heft 4 von Oktober des
Jahres 1848. Auch Escherich kommt darin zu dem Schluß, daß „Die Juden...eine
exceptionelle Bevölkerung (bilden) und zwar nicht als (...) Varität einer bestimmten
Race, sondern mit exceptionellen, exclusiven Eigenschaften unter allen Racen. Und
diese auszeichnenden Eigenschaften sind (...) constant durch alle Jahrhunderte und
Klimate, charakterisieren...Stamm und (...) Individuum, (...) erstrecken sich auf die
Naturgeschichte dieses Volkes, (...) seine körperliche Gestalt, seine Fruchtbarkeit, (...)
seine Lebensdauer, (...) seinen geistigen und moralischen Charakter.“
Des Weiteren stellt Escherich dann auch die Frage nach der künstlerischen Berufung
dieser "exceptionell exclusiven Race" im Allgemeinen und besonderen.
30
Während die Juden üblicherweise als eifrige und geschickte Sammler und Eklektizisten
in Erscheinung träten, welche sich des Fundus kulturellen Erbes des Abendlandes
zugunsten eigenen Elaborierens zielstrebig bedienten, sei Mendelssohn Bartholdy im
Besonderen als der bedeutendste Komponist des Jahrhunderts anzusehen. Allerdings
sei er als grosse Ausnahmeerscheinung aufzufassen, sein Wirken hinsichtlich
mosaischen Irrens in künstlerischen Gefilden vollkommen atypisch.
Die von Freigedank zum Ausdruck gebrachte protorassistische Tendenz war bis dato
gemeinhin ungebräuchlich, die Pamphlete Grattenauers und Escherichs stellten
Ausnahmen in den von konfessionellen oder ökonomischen Standpunkten dominierten
antisemitischen Publikationen dar. Lobe interpretierte daher die Metapher von der
„Erlösung Ahasvers“ durch „den Untergang“ des "Juden" am Ende des Traktates "Das
Judenthum in der Musik" bereits ironisch als Aufforderung zum Judenmord:
„Also weg mit allen Juden. Wenn dann. (..) die Juden alle erschlagen vor uns liegen,
und wir übrig gebliebenen Christen als triumphierende Mörder mit blutigen Fäusten
dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und (...) „einig und untrennbar verbunden
– untereinander und mit den Juden.“
Im Juli 1851 resümiert der damalige Herausgeber der „NZfM“, Franz Brendel den
„wahren Sturm“ in der zeitgenössischen Medienwelt, welchen die Veröffentlichung der
Freigedankschen Thesen in der hauseigenen Zeitschrift hervorgerufen habe.
Um den Ruf der „NZfM“ scheinbar doch etwas besorgt, impliziert er der Publikation
nachträglich eine Relativierung bezüglich gebildeter und ungebildeter Juden; letztere vor
allem wären doch der Gegenstand Freigedankschen Theoretisierens gewesen. Im Text
des „musikalischen Judenthums“ hingegen findet sich dafür allerdings keinerlei
Anhaltspunkt, da ausschließlich „der Jude“ veranschaulicht; von „den Juden“
gesprochen wird.
Obgleich sich die unmittelbaren publizistischen Reaktionen, welche das Pamphlet
hervorrief, Mitte des Jahres 1851 scheinbar legten, war die These gestreut. War die in
einer der renommiertesten Publikationen zeitgenössischen deutschen Kulturlebens
vertretene antisemitische Kulturtheorie nunmehr salonfähig, unter gebildeten Kreisen
diskussionswürdig.
So erkennt beispielsweise Wilhelm von Lentz, Beethovenkapaziät und Staatsrat des
russischen Zaren im Jahre 1852 auf ein „hebräisches Element, das in den Gedanken
Mendelssohns erkennbar ist, (das) ihn hindern wird, die ganze Welt ohne Unterschied
von Zeit und Ort zu erobern.“ Ferner rücken erneut „die psalmodierenden Gesänge der
Synagoge“ als „Typus, der in der Musik Mendelssohns nachklingt, wie in seinem
Denken der jüdische Geist eine Rolle spielt“ ins Zentrum von Betrachtungen. (v. Lentz,
Beethoven und seine 3 Stile, 1852, Kassel 1855).
Da der Traktat auch massiv kontroverse Reaktionen provozierte (vergl. Johann Christian
Lobe), verlegte sich die „NZfM“ wieder vermehrt in die Unverbindlichkeit "objektiv"musikalisch
betriebener Agitation gegen den Opernfürsten Giacomo Meyerbeer.
Nichts desto Trotz streute die Publikation auch in den Folgejahren unausgesetzt
Ressentiments gegen Felix Mendelssohn aus, so in den oftmals in lakonischen Tonfall
vorgenommenen Rezensionen der posthum veröffentlichten Werke.
31
Was beabsichtigten die Initiatoren einer lancierten öffentlichen Semitismus-Debatte im
Musikbereich?
Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im
zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun. Musikalische Avantgardisten suchten quasi auf
gewaltsamen Wege, mit publizistischen Mitteln, Einfluss innerhalb der musikalische
Hemisphäre zu erlangen. Was die avantgardistisch-musikalische Wortmeldung allein
nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Fundamentes bewirken, auf
welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo
Meyerbeer beruhten.
Die Synthetik in der Konzeption des, hinsichtlich Ursache und Wirkung vollendet
konstruierten, aber vor allem spekulativ untermauerten Medienunterfangens "Das
Judenthum in der Musik"; die Schizophrenie der auf Ebenen öffentlicher und intimer
Subjektivität vielfach aufgespalteten Urheber lässt ein Schreiben des hinter dem
Pseudonym Karl Freigedank verborgenen Komponisten Richard Wagner an Felix
Mendelssohn vom 6./7 .Juni des Jahres 1843 erkennen. Wagner versichert sich darin
dem Komponisten gegenüber u. a. des Stolzes darüber: „...der gleichen Nation
anzugehören, die Sie und Ihren Paulus hervorgebracht hat.“
Meyerbeer, musikalisch im fernen Paris residierend, war den nihilistischen
Bestrebungen nahezu entzogen.
In der zeitgenössischen Rezeption des vermeintlichen Antipoden im eigenen, deutschen
Bannkreis, schlug sich der publizistische Gewaltakt hingegen nachhaltig nieder.
Erheblich bestärkt durch ein diffuses Klima feudaler Restauration, postrevolutionär
germanomanischen Einheitsfanatismus und traditionell kultiviertem Antisemitismus einer
Generation opportunistisch-neokonservativer Leistungseliten aus dem Umfeld ehedem
jungdeutscher Männerbünde. Das europäische Ausland kommentierte die den Ruf Felix
Mendelssohn Bartholdys beschädigenden publizistischen Invektive befremdet. So
resümiert der englische Kritiker Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853 -also nur
sechs Jahre nach Mendelssohns Tod:
”Traurig, aber wahr ist's dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit,
Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der
Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber, den sie zu
seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten....”
Und Donald Tovey merkt in seinem phänomenalen, bedeutsamen Mendelssohn-Artikel
in der gewichtigen Enzyklopaedia Britannica, 1911 verfasst, trocken an:
And in the early Wagner-Liszt reign of terror his was the first reputation to be
assassinated. That of the too modest and gentle „Romantic“ pioneer soon followed; but
as being more embarrassing to irreverence and conceit, it remains a subject of
controversy. Meanwhile, Mendelssohn’s reputation, except as the composer of a few
inexplicably beautiful and original orchestral pieces, has vanished.“
Sir Donald F Tovey §“Mendelssohn“ the encyclopaedia britannica 11th edition
Cambridge 1911, XVIII.p 124
32
8. Von der Neudeutschen Schule
“Zum einen ist das Mendelssohn-Bild...geprägt durch eine Bewertung, deren Basis nicht
kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder
Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen
antisemitischen Vorurteilen vermengt ist.(...)
Eine Aufarbeitung der Mendelssohn Rezeption hat zugleich eine quasi aufklärerische
Aufgabe: zu zeigen, wie sehr sich (...), knapp vierzig Jahre nach dem Ende des Dritten
Reiches, in dem die schon zuvor betriebene Verteufelung Mendelssohns ihren
Höhepunkt fand, die Urteile auf sachfremde “Argumente” stützen” schreibt Wulf Konold
in seiner Studie "Felix Mendelssohn und seine Zeit" aus dem Jahre 1984.
Was heißt das im Einzelnen:
Das Werk Mendelssohns verfiel einer eklatanten musikalischen Fehde, die sich ab 1850
zwischen "Neudeutschen Musikern" und "Traditionalisten" entwickelte. Die
"Neudeutschen Musiker", welche sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und
Richard Wagner sammelten, forderten die Radikalität des musikalischen Ausdrucks
entgegen formalistisch akademischen Beschränkungen ein. Die "Traditionalisten" um
Robert Schumann und Johannes Brahms, propagierten hingegen die Bewahrung, aber
stetige Reformierung überkommener musikalischer Formen von Symphonie, Quartett,
Oratorium etc.
Unter Federführung des Musikkritikers und Redakteurs Franz Brendel -dieser
übernahm im Jahre 1845 die Redaktion der renommierten "Neue Zeitung für Musik" von
Robert Schumann -zog ein chauvinistischer Geist in das bislang unabhängige Organ
imaginärer Davidsbündler ein.
Während sich Schumann als Musikpublizist auf die Erörterung musiktheoretischer
Fakten beschränkte, ohne die ästhetische Reserviertheit gegenüber Kompositionen der
"Neudeutschen" zu verhehlen und Mendelssohn es generell ablehnte, sich Presse
zunutze zu machen, öffnete Brendel die Musikzeitung führenden Polemikern wie Karl
Freigedank, Theodor Uhlig, Hans von Bülow und Felix Draeseke.
In einem Editorial, zum Ende des Jahrgangs 1852 verfasst, verlieh Brendel dem Ziel,
welchem sich die "NZfM" fürderhin gänzlich widmen sollte, unmissverständlich
Ausdruck: "Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst
bevorsteht, nach allen Seiten entschieden zu vertreten.“ (...)
Theodor Uhlig, geboren im Jahre 1821, wirkte ursprünglich als Violinist im Dresdner
Hofopernorchester. Dort machte er die Bekanntschaft mit dem von Februar des Jahres
1844 – bis Mai 1849 als Dresdner Hofkapellmeister agierenden Richard Wagner,
dessen Intimus er vor allem in den Jahren nach 1849 wurde. In der Zeit des Schweizer
Exils des in die Dresdner Maiaufstände verwickelten Komponisten war Uhlig somit ein
wertvoller Kontaktmann Richard Wagners zu den Musikzentren Dresden, Leipzig und
Weimar. Da Uhlig fest in den Freundes-und Wirkungskreis des Hofoperndirigenten
Wagner eingebunden war, trat er ab 1849/ 50, neben Franz Liszt und Hans von Bülow,
verstärkt als Publizist und Propagandist Wagners und der "Neudeutschen" hervor.
33
Herausgeber Franz Brendel, geboren im Jahre 1811, gestorben im Jahre 1868, war von
Hause aus Philosoph und widmete sich erst ab 1840 musikalischen und
musiktheoretischen Fragen. Als nahezu fanatischer Verfechter der Prinzipien
musikalischer Fortentwicklung und Moderne, erhob er den obligaten Verzicht auf die
Errungenschaften der Barockzeit, der Klassik oder Romantik eines Mendelssohn oder
Schumann zum Dogma.
Er ernannte, der Funktion eines Chefideologen der Neudeutschen Schule
entsprechend, die „romantischen Realisten“ (Robert Gutman) Franz Liszt, Hector Berlioz
und Richard Wagner zu deren Leitfiguren. Brendel übertraf somit die progressiven
Forderungen Schumanns und der in den Jahren 1833 bis 1844 versammelten
"Davidsbündler" bei weitem. Diese agitierten seinerzeit vordringlich gegen die
Seichtigkeit musikalischer Tagesware und die Schludrigkeit eines Konzertbetriebes, der
vor allem planlos zusammen gestellte Potpourri-Konzerte nach dem Prinzip des PrimaVista-
Musizierens hervorbrachte. Die von Brendel 1859 im Verlaufe einer
Tonkünstlerversammlung im Leipziger Schützenhof initiierte Gründung einer
"Neudeutsche Schule" verhalf dem Musiknihilismus schliesslich zu bedeutsamem
institutionellen Rang.
Im Jahre 1852 gab der Komponist Richard Wagner; somit eine Schlüsselfigur des
neudeutschen musikalischen Dogmas, die Denkschrift „Zum Vortrag Beethovens“
heraus, in welcher er Felix Mendelssohn, als Dirigenten besehen, jedwede innere
Anteilnahme bei der Interpretation Beethovenscher Kompositionen absprach.
Es heißt dort: „Mendelssohns Ausführung Beethovenscher Werke bezog sich stets auf
die nur rein musikalische Essenz derselben, nie aber auf deren dichterischen Gehalt,
den er gar nicht fassen konnte – sonst hätte er ja auch selbst etwas ganz anderes
zutage bringen müssen. Mich hat Mendelssohns Direktion, trotz seiner grossen
technischen Feinheit, immer in der Hauptsache unbefriedigt gelassen, es war mir
immer, als ob er sich nicht getraute, das sagen zu lassen, was Beethoven sagen wollte,
weil er selbst mit sich nicht im reinen darüber war, ob da eigentlich etwas gesagt sei,
und was? So hielt er sich immer mit dem feinsten musikalischen Witze an den
Buchstaben, und glich darin unseren Philologen bei ihrer Auslegung der griechischen
Dichter, an denen diese immer nur den Buchstaben, die Partikeln, die Lesarten usw.
auszudeuten haben, nie aber dem Gehalt.“
Wagner sah sich selbst in Überhöhung der Tatsachen in der Rolle als Beethovens
einziger und wahrer Dirigent und Interpret und konnte somit einen jüdisch-stämmigen
Konkurrenten, gleichwohl jener ja nicht einmal mehr unter den Lebenden weilte, nicht
neben sich dulden. Er zerstörte somit zielstrebig den herausragend Ruf den sich
Mendelssohn zu Lebzeiten als Leiter der Gewandhauskonzerte und Symphonischen
Interpreten erworben hatte auf rhetorischen und publizistischem Wege. Inhaltlich knüpft
er dabei an die in „Das Judentum in der Musik“ konstatierten Thesen von der
vermeintlichen Unmündigkeit der Juden, den wahrsten innersten Wert urdeutschen
Erbes, sei es als Autor, sei es als Interpret, zu erfassen an.
Was auch Wunder: bei Karl Freigedank und Richard Wagner handelte es sich doch
um ein und dieselbe Person. Erst später, erst im Jahre 1869 sollte Wagner den Mut
finden sich, als Autor jener umstrittenen Judenschrift öffentlich zu zeigen.
Anfangs des Jahres 1852 äußerte sich auch der Publizist G. A. Keferstein in der Neuen
Berliner Musikzeitung kontrovers in Sachen Mendelssohn-Rezeption.
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Er bezog sich dabei unter anderem auf die Musik zu „Ödipus in Kolonos“, die Rezitative
und Chöre des unvollendeten Oratoriums „Christus“ und das Finale der gleichsam
unvollendeten Oper „Loreley“. Keferstein blickt dabei auf sein zehn-bis zwölfjährige
Bemühen eines permanenten Verweises darauf zurück, das mendelssohn letztendlich
überschatzt würde
Nichts desto Trotz gibt der Autor den Tatbestand zu Erkennen, dass „the excellent
services of a man, who in every thing in art that a fortunate talent can learn and achieve
through iron dilegence stands honorably beside the best of recent times (zitiert nach
Donald Mintz.) und nähert sich damit dem Gesichtspunkte Heinrich Heines vom
elaboriert zu Werke gehenden und dadurch fruchttragenden Talente anstelle des
produktiven spontanen Genies, an, welchen dieser 1844 in der Zeitschrift Lutetia
niedergelegt hatte, an.
Keferstein verweist darin unter anderem auf den spekulativen Umstand, dass das
Libretto des Christus-Fragmentes elaboriert, ohne innere organischer Notwendigkeiten
zusammengestellt worden sei und damit jenem des Paulus gleiche. Schliesslich giebt
der Publizist immerhin zu bedenken, dass „a great deal can be learned from the study of
Mendelssohn’s works whatever posterity´s final Judgement would be. (Mintz)“
In den Jahren 1848 bis 1852 legt Brendel das Wollen und die Zielrichtung der, von der
Revolution des Jahres 1848 beflügelten, neudeutschen Welle in mehreren Aufsätzen,
welche in der Neuen Zeitung für Musik erschienen, fest Er bezieht sich darin explizit auf
die Notwendigkeit eines Nationalen-neudeutschen Erwachens der Musik und der
Komponisten und wendet sich erklärtermaßen gegen „Kosmopolitische Deutschfranzösisch-
italienische Komponisten wie Meyerbeer. Damit legt Brendel die Zielrichtung
der musikalischen Expression vor, welche die zweite Hälfte des Jahrhunderts
dominieren sollte.. „Tastes and interests had turned toward the issues of expression and
characterization as the second half of the century understood them. For these Tastes,
much of Mendelssohn’s Music was simply irrelevant. Despite the growth of the historical
repertory, this irrelevanz was fatal”. Mintz verweist dabei auf das beethovensche
Musikalische Erbe und stellt dabei fest, das jenes durch die jeweilige Re-Interepretation
und Neu-Interpretation späterer Generationen modern geblieben sei. Aber jene
Zeitgenossen Brendels standen vor der scheinbaren Unmöglichkeit, Musik zu
reinterpretieren, deren Ausdrucksformen obsolet geworden sei. So stellten die Zeit-und
Weggenossen Brendels die von mendelssohn oft gebrauchte Form des Chorals in der
Kirchenmusik vollständig in Frage. Es waren die Zeiten um 1850 herum, in denen
Wagners Theorien, Schriften und Kompositionen erheblich an Einfluss gewannen. Es ist
ein Kuriosum der Geschichte, das Wagners Judentumpamphlet erst mit der um 1848
erkämpften Pressefreiheit zu publizieren möglich war. Mintz schliesst seine
Betrachtungen zu Mendelsohns Rezeptionsgeschichte mit der Feststellung, das
Mendelssohns oftmals in Formen und Genres gegossen war, in Musik, welche von der
musikalischen Revolution überholt und erledigt worden wäre. Because this is so, the
Mendelssohn Reception mirrors the conflicts and trends at mid-Century: questions about
the future and utility of the established musical-genres to be sure , but also about the
nature and direction of religion and its role in life. And behind varying views about this
matter there are great complexes of social attitudes for which the religous arguments in
part a surrogate. To this mix we need to add German and general European anti-
Semitism, a sentiment that grew to a movement and culminated in the Holocaust.
35
Mendelssohn’s reputation was tosses about by these currents and counter currents,
perhaps more than that of any of his significant contemporaries, and so it is not
surprising that his reputation declined so rapidly in the eyes of the advanced public soon
after his death.
1860 machte sich der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros Gedanken um den
Zwiespalt zwischen aktuellem neudeutschen Fortschrittsstreben hin zum musikalischen
Drama auf der einen und einer Position konservativer Verharrung in den
mendelssohnschen Idealen der absolut verstandenen Tonkunst auf der anderen Seite.
Er fragt sich dabei also: „ob die Richtung Wagner-Liszt zu der Bedeutung gelangt
wäre und soviel Terrain gewonnen hätte, als sie tatsächlich gewonnen hat, wenn nicht
Mendelssohn in der Blüte seiner Kraft und seines Wirkens der Welt durch einen
plötzlichen Tod entrissen worden wäre. Mendelssohns Wirken, Streben und Schaffen
lässt annehmen, dass er als ganz entschiedener Gegner aufgetreten wäre.“
9. Von der musikalischen Wahrheit
Der Musikwissenschaftler und Publizist Adolph Bernhard Marx wiederum agitierte im
Zeichen einer schwerlich zu fassenden musikalischen “Wahrheit” nachhaltig gegen
“Verweichlicher” der Musik, ”Nachbildner” und ” unwahre Komponisten”. Marx war seit
dem Jahre 1830 als Dozent für Musikgeschichte an der Universität Berlin und später als
Herausgeber der "Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" tätig, in welcher Dr.
Eduard Krüger im Jahre 1850 die Kampagne dezidiert antisemitisch intendierter
Musikrezeption eröffnete. Marx war einstmals ein enger Jugendfreund Felix
Mendelssohns mit eigener, aber glücklos verbleibender kompositorischer Ambition. Da
Marx sich dem Komponisten durch eine zunehmend abstrahierend musikphilosophische
anstelle einer angewandten Beschäftigung mit der Tonkunst entfremdete; diesen des
Weiteren um Geld und musikalische Protektion bedrängte, zerbrach die Freundschaft im
Jahre 1839. Marx vernichtete daraufhin die gesamte in seinem Besitz befindliche
Mendelssohn-Korrespondenz. Inwiefern sich eine etwa 10 Jahre später massiv
bezogene Position des „nachkantischen Ästheten“ (Werner) gegen das Oeuvre Felix
Mendelssohns auch der enttäuschten Freundschaft verdankt, ist nicht geklärt.
In Publikationen wie "Die Musik des 19. Jahrhunderts", im Jahre 1855 in Leipzig
herausgegeben, stellte Marx Mendelssohn nun als Prototyp solcherart „Verweichlicher“
etc. der Musik heraus. In genannter Musikgeschichte konstatiert Marx u. a. das diesem:
„(...) die eigentliche Macht und Höhe des Dramas nicht gegeben (...); ja, seinem fein
zurückhaltenden, mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im
Grunde widersprechend (war.)
Er führt weiterhin aus, daß – „im wahren Gegensatze“ zum Genie ein Talent wie
Mendelssohn „den (meist beglücktern) Beruf (habe), auszubilden und nachzubilden,
auch einseitig zu verbessern und zu verschönen oder annehmlicher zu machen, (also)
den dämonisch hochaufgerichteten Gedanken des Genius mit der Schwäche und Furcht
der Welt durch vermittelnde Zwischengestalten, die Nachbildungen sind,
auszugleichen.“ . Folgerichtig reüssiere Mendelssohn vornehmlich im "glücklichen
Salonwort" der "Lieder ohne Worte", in dem "ein mädchenhafter Hang (...) jedes kleine
Gefühlchen" musikalisch transponiere.
36
Auch hier wird ein später so folgewirksamer Titanen-& Heroenanspruch an Kunst
bedeutungsvoll vorformuliert. Freigedank spekulierte in seinen Ausführungen
schlichtweg auf diesen Anspruch und Mendelssohns naturgegebene Unfähigkeit,
demselben gerecht werden zu können.
Marx indessen versucht, keineswegs frei von polemisierendem Tonfall, den seinerseits
vorgenommenen Abgleich von heroischem Anspruch und konkreter musikalischer
Wirklichkeit zu Mendelssohns Ungunsten, ästhetisch und psychologisch, also
wissenschaftlich methodisch nachzuweisen. Marx muss also als Autor einer
Mendelssohn-Demagogie von musikwissenschaftlich-spätromantischem Gesichtspunkte
aus gelten. Diese sollte sich spätestens Mitte der 60ziger Jahre bis zur Unkenntlichkeit
der einzelnen Komponenten mit der dezidiert antisemitisch intendierten Mendelssohn-
Rezeption der Neudeutschen vermengen. Das der erste Protagonist letztgenannter
Argumentationsweise, Dr. Krüger, ein Autor der von Marx editierten Berliner
Allgemeinen musikalischen Zeitung war, ist dabei ein Detail von Interesse und
Pikanterie.
Des Weiteren gibt Marx den Stereotyp des schwächlichen, feinnervigen, emotional
überregbaren Musikers Mendelssohn vor, welchen zahllose Musikhistoriker und
Publizisten bis in die 80ziger Jahre des 20. Jahrhunderts als verfestigtes Klischee
kolportieren sollten.
Die Erkenntnis vom Drama, welches nicht in erster Linie für Mendelssohns Schaffen
prägend war, ist faktisch korrekt, verkennt aber vollständig die Motivation dieser
Zurückhaltung dramatisch-musikalischen Affektes gegenüber. Während Marx die
Gründe in der vermeintlich schwächlichen Ausprägung des Charakters und der
Unfähigkeit dramatischen Empfindens sucht, stand Mendelssohn in Wahrheit der
dramatischen Entäußerung in der Kunst mit ästhetischem Vorbehalt gegenüber.
Mendelssohn war durch die strenge, stetig zu Fleiß, Pflichterfüllung, sittlicher
Läuterung und Contenance anhaltende Erziehung im Elternhause vollständig vom
verinnerlichten und dem grossen Vorbilde Johann Wolfgang von Goethe vorgegebenen
humanistisch-klassizistischen Ideal menschlicher und gesellschaftlicher Erhebung durch
erhellendes, läuterndes kulturelles Gut durchdrungen,
Dies ließ Mendelssohn die Komposition von Erregtheit, dramatischer Entäußerung,
romantischer Zerrissenheit, Nachtseiten der Seele und expliziter emotionaler Abgründe
letztendlich suspekt, möglicherweise unanständig erscheinen. Dramatik vollzieht sich in
Mendelssohns Kompositionen stets anschaulich, wenn das, ethischen Belangen
verpflichtete musikalische Sujet seinerseits einen dramatischen Verlauf nimmt, wie im
alttestamentarischen Epos "Elias" vorliegend.
Gleichsam regte das Erlebnis der Naturgewalten, geschichtlicher Orte und Augenblicke
wie im Falle Schottlands und der gleichnamigen Symphony; oder diese der Dichtung
und dem Volksmärchen implizite Spannung, welcher wir beispielsweise die Ouvertüre
von der Schönen Melusine verdanken Mendelssohn zu hochrangiger dramatisch-
musikalischen Äußerungen an. Andererseits ließ Mendelssohn einer dramatischen
Entwicklung freien Lauf, wenn sich das musikalische Material absolut aufgefasster
Kompositionen in der Durchführung zu höchster formaler und emotionaler
Binnenspannung verdichtete.
37
Diese vollzieht sich dann allerdings aus Momenten höchster geistiger und musikalischer
Konzentration und ist oftmals -vorausgesetzt, Meisterdirigenten und Pianisten
vermochten es, dem hohen musikalischen Gehalt Mendelssohnscher Werke vollends zu
entsprechen -daher in ihrer Spannung fast nicht erträglich.
Man mag diese humanistische Haltung zu Fragen der Musik und der Kunst , den ideal
verstandenen Anspruch ästhetischer Zucht und Selbstzucht teilen und kultivieren. Man
mag ihn subjektiv ablehnen und anderen Ansprüchen und Erfahrungen innerhalb der
vielfältigen Möglichkeiten musikalischer Artikulation nachgehen.
Mendelssohns Auffassung vom Ziel musikalischen Wirkens ist zweifellos genauso wenig
„wahr“, wie es die von den "Neudeutschen" erstrebte Symbiose von Musik und Drama
oder die spezielle absolute musikalische Wahrheit Bernhard Adolph Marx jemals war
und ist. Als intimer Jugendfreund noch aus den Tagen der bei Carl Friedrich Zelter
genossenen Singschule trug Marx mit dramaturgischem Rat maßgeblich zur Konzeption
der immerhin als genial apostrophierten "Sommernachtstraum-Ouvertüre bei. Im
Gegensatze zu manch nachgeborenem, inkognito urteilendem Kollegen, hätte er
zumindest die authentischen Ursachen einer spezifisch Mendelssohnschen Verhaltung
gegenüber einer Relation von Musik und Drama besser kennen müssen.
Eine bemerkenswerte Abhandlung der Problematik adäquater Mendelssohn-
Nachbereitung vollzog die „Berliner Feuerspritze“ im Jahre 1855 in ihrer Rezension vom
12. November einer Festaufführung des Oratoriums „Elias“, welche der Sternsche
Gesangverein Berlin Mendelssohn zum Gedenken ausrichtete. Hans von Bülow
zeichnet dafür wiederum als Verfasser. Kunstfertig entledigte er sich dabei einer
offenkundig ungeliebten Aufgabe in einzigartig glückreichem Vollzug des Paradoxons
einer Quadratur des Kreises. Genauer: der repräsentativen Würdigung eines
Komponisten und seines Werkes zu akklamieren und des Weiteren den Anlass zur
Herabsetzung des musikästhetischen Spektrums aus der Neudeutschen Sicht einer
Musikdramatiker -Partei desselben zu missbrauchen.
Von Bülow Schreibt also:
"Die Tonkunst sollte ihren eigenen Festtagskalender haben. Die schöne und würdige
Feier. welche der Sternsche Gesangverein dem Gedächtnisse Felix Mendelssohns und
sich selbst zu Ehren durch die Aufführung des "Elias" am 8. November veranstaltete,
erweckt den Wunsch, auch andere grosse Tondichter der Vergangenheit in ähnlicher
Weise gefeiert zu sehen. Merkwürdig, dass sogar ein Institut, dem der genannte
Meister, oder vielmehr sehr bewusst absichtlich sich ferne hielt, dass das Königl.
Opernhaus durch eine Vorstellung des "Sommernachtstraumes" einer solennen
Anspielung ganz ausnahmsweise sich -unschuldig machte. Es war kein Zufall, dass
Felix Mendelssohn in seines Genius` Irrtum von diesem durch den Tod entrissen wurde,
als er dem - Irrtum der modernen "Oper" sich zuzuwenden begriffen war.
Was hätte Mendelssohn, -von dessen specifisch musikalischer Begabung auch der
Gegner zugeben muss, dass er der nächste ist nach Mozart, -in dem musikalischen
Drama Vollendeteres leisten können, als Mozart im "Don Juan" schon geleistet? Einem
solchen, immerhin nur genialen Reproduzieren würde aber eine ästhetisch-historische
Berechtigung im höheren Sinne gefehlt haben".
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Schließlich begibt sich von Bülow gar in die Rolle des Propheten und verkündet dem
zeitgenössischen Auditorium in allwissender Vorausschau, das auch ein in den Jahren
gereifter Komponisten niemals substantielles, dem Anspruch neudeutschen
„Fortschrittsprinzips“ gemäßes , zu vollbringen fähig gewesen wäre:
"Diese flüchtige Andeutung soll nur der in der posthumen Verehrerschaft des grossen
Musikers ziemlich verbreiteten sentimentalen Ansicht entgegen, als ob Mendelssohn,
wenn ihn nicht ein frühes Ende erreicht, noch Höheres, Unvergänglicheres geleistet
haben würde, als wir von ihm besitzen. Diese Ansicht steht auf einer Stufe mit der
bekannten Aufgabe, welche ein Pensionsvorsteher seinen Zöglingen stellte: "Würde
Egmont Klärchen geheiratet haben, falls er nicht hingerichtet worden wäre?"
Wir glauben dem Genius weit freier und begeisterter zu huldigen, wenn wir
aussprechen: "Der Elias ist das den hohen Geist seines Schöpfers am umfassendsten
und resümierendsten darlegende Werk, in welchem er seine Mission erfüllt und
vollendet hat".
Zunehmende Öffentlichkeitswirksamkeit und Publikumserfolge der Werke
"neudeutscher" Tonsprache (vor allem der Bühnenwerke Richard Wagners und der
Oratorien und symphonische Rhapsodien Liszts) bewogen die Ideologen der
"Neudeutschen Schule", ihren Kreuzzug gegen alles dem Fortschrittsprinzip vermeintlich
im Wege stehende zu verschärfen. Nachdem man Felix Mendelssohn als vormalige
Leitfigur bekämpfter traditionalistischer Ästhetik plangemäß „erledigt“ hatte und
Meyerbeers Bühnenwerke sich bis auf weiteres resistent gegen das Unterfangen
rhetorischer Unterhöhlung erwies, rückten nun die „konservativen“ Romantiker Robert
Schumann und Johannes Brahms ins Blickfeld neudeutschen Interesses. Mitte der
50ziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemühte man sich intensiv, Schumann der
Neudeutschen Idee einzuverleiben; ja ihn neben Opernreformer Richard Wagner
gleichsam zu einer neudeutschen Leitfigur des symphonischen Sektors aufzubauen.
Hans von Bülow stellte Schumann im November 1853 noch ganz selbstverständlich als
Repräsentanten einer „neuen(n) romantischen Schule“ Wagner und Berlioz gleich
(„NZfM“ 11/12/1853), Franz Liszt propagierte von Weimar aus Schumanns
Vorkämpfertum „musikalischen Fortschritts“. Im Jahre 1860 richtete die Neudeutsche
Schule ein Schumann-Fest in Zwickau aus.
Clara Schumann, im Vernehmen, es mit einer Propagandaveranstaltung zu tun zu
haben, auf der das Angedenken Ihres Mannes zu ideologischen Zwecken missbraucht
würde, lehnte eine Teilnahme als Pianistin und Ehrengast ab.
„Ich kann doch nicht dahin gehen, um ein solches Fest mit den Menschen zu
begehen, die ich aus tiefster Seele (als Musiker) verachte“. Joseph Joachim bestärkte
sie in dem Entschluss, indem er ihr eindringlich mögliche publizistische Folgewirkungen
einer Teilnahme der Witwe Schumanns vor Augen hielt. Er gemahnte, es könne im
Nachhinein als Beweis dessen herangeführt werden, „dass Schumann mit den neuesten
Fortschritten zur Unmusik gemeinsame Sache gemacht habe".
Nachdem Reflektionen der Neudeutschen auf Robert Schumann im Jahre 1860 im Eklat
endeten, schlug die publizistische Stimmung seitens der "Neudeutschen" schlagartig
um. Führende Repräsentanten der Schule wie Hans von Bülow und Felix Draeseke
bedachten das musikalische Angedenken Schumanns mit offenkundiger Häme.
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Es überrascht wohl kaum noch, daß die biographische und musikalische Relevanz zu
Person und Werk Felix Mendelssohns als Leitfaden und Begründung musikalischer
Mittelmäßigkeit des Schumannschen Oeuvres herangeführt wurde. Bereits im Jahre
1856 schloss ein im Berliner Echo veröffentlichter Nachruf, daß mit dem Tode Robert
Schumanns ein „Ausläufer der Mendelssohnschen Richtung“ zum Ende gelangt sei.
„Vorwiegend Eklektiker und scharf kritisch sichtender Verstandesmensch, konnte man
ihn (Schumann) mit Recht den musikalischen Lessing nennen.“ resümiert der Nekrolog
des Weiteren.
Geflügelte Worte brachte die neudeutsche Publizistik in die Schumann-Rezeption ein.
So verdankt dieselbe Felix Draeseke jenes viel strapazierte Verdikt: „Schumann hat als
Genie angefangen und als Talent aufgehört.“ Hans von Bülow wiederum prägte die
signifikante Metapher des Felixschülers Robert Schumann heraus und streicht somit
den von Felix Mendelssohn ausgeübten Einfluss vermeintlicher klassizistischer
Stagnation hervor, in dessen Leipziger Fangstricken sich Schumann zeitlebens
verfangen habe, schlimmer noch: welcher Schumann „verdorben“ habe. Bülow
konstatierte im Jahre 1860 also resignativ: „War der Mensch genial, bevor er bei Felix in
die Schule ging, Leipziger Kaufleute zu hüten.
Des Weiteren geißelte von Bülow die „Schumannsche Intervallheulerei“ als unerträglich
und verkündete demonstrativ, jedwede „Halbdillettantenmusik lieber als eine
Schumannsche Symphonie (aufzuführen), deren bloße Lektüre ihm eine Tortur (sei)“.
Bülow kündigte des weiteren einen grossen Schlag, die Veröffentlichung einer
Broschüre an, welche die gegen Berlioz agitierende „Instrumentationsleere“ der
verhaßten Schumannianer-Partei ins Lächerliche ziehen und daher „die Form einer
kleinen Handgranate“ erhalten solle. Walter Dahms zufolge, ließ sich Hans von Bülow,
seinem Vorbild Richard Wagner dabei nicht unähnlich, von emotionalen Wallungen
oftmals zu Pauschalmeinungen hinreisend. Und nur so erklären sich Aussagen und
Zeugnisse, welche sich in Bewunderung und Zuneigung einerseits, scharfer Ablehnung
und Diffamie andererseits zeitweilig vollständig widersprechen. Was einmal in
Zynismus und Häme abgetan, findet zu anderer Gelegenheit wiederum zu Worten
warmherziger Verehrung. Neben den Faust und Genoveva–Kompositionen Robert
Schumanns, sowie dessen frühen Klavierwerken beispielsweise Musik und Wirken Felix
Mendelssohns!
Man kann sagen, daß sich im Falle Robert Schumanns eine rezeptionsgeschichtliche
Entwicklung anbahnte, welche derjenigen Felix Mendelssohns zeitweilig ähnelte.
Nicht in der gleichen Intensität und Nachhaltigkeit; da der entscheidende Aspekt
fremdenfeindlichen Ressentiments im Falle Schumanns nicht zur Verfügung stand.
Dennoch prägten sich in jener Zeit Fehlrezeptionen seines Werkes heraus, welche
sich im musikalischen Bewusstsein und musikgeschichtlich allgemeingültig verfestigten
und noch heute um Schumanns Oeuvre herum irrlichtern. In der Hauptsache prägte
sich seinerzeit das unsinnige, spekulative Argument heraus, dieser „habe nicht
instrumentieren können“, die Symphonien „seien schlecht, intransparent und zählebig
instrumentiert“.
Überhaupt habe Schumann ja am originärsten fürs Piano geschrieben, habe sich dem
symphonischen Satz vom Pianistischen her genähert und für die Symphonik kein
rechtes Empfinden aufgebracht.
Diese Stereotypisierungen fanden zu einiger musiktheoretischer Erörterung, an
Versuchen, die Symphonien durch nachträgliche Retuschen (Mahler) zu „korrigieren“
40
und somit für das Repertoire zu „retten“, fehlte es nicht. Angesichts synonymer Abfolge
rezeptionsgeschichtlicher, Parallelitäten, von Intention und Argumentation, Ursache und
Wirkung traditionalistischer Musiker wie Mendelssohn und Schumann, stellt sich nun die
Frage, warum es das Werk des einen zu „retten“ galt, während dasselbe des anderen
brachlag. Die Gründe dafür dürften wohl kaum im Bereich des Musikalischen zu suchen
sein!
Dennoch waren die Anhänger traditionalistischer Ästhetik den Umtrieben aggressiv
neudeutscher Rhetorik keineswegs gänzlich rückhaltlos ausgesetzt. Neben den
genannten Schumannianern um Joseph Joachim, Clara Schumann und dem Publizisten
Herrmann Grimm verfügten dieselben mit der von Mendelssohn ins Leben gerufenen
Musikakademie über einen gewichtigen, einflussreichen Stützpunkt. Des Weiteren erbot
sich in der Person des berufenen zeitgenössischen Komponisten Johannes Brahms ein
respektabler Widerpart gegen den in den 7oziger und achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts erdrückend übermächtigen Schatten des neudeutschen Musikdramatikers
Richard Wagner, welcher mit dem brillanten Feuilletonisten Eduard Hanslick einen
einflußreichen publizistischen Mitstreiter an seiner Seite hatte. Joseph Joachim hatte im
Herbst des Jahres 1857 brieflich mit dem ehemaligen musikalischen Weggefährten
Franz Liszt gebrochen und begründete seine Weigerung, an einer Tonkünstlerfeier zum
100. Geburtstag des Weimarer Großherzogs Carl August teilzunehmen
folgendermaßen:
"Die Beharrlichkeit Deiner zutrauensvollen Güte, mit der Du (...) Dich zu mir neigst,
um mich dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt zu sehen, hat für
meinen bisherigen Mangel an Offenheit etwas beschämendes. Hätte ich nicht dass
tröstende Bewusstsein, dass dieser Mangel an Offenheit nicht Feigheit sei, und
vielmehr mit dem besten Gefühl verwandt war, das (...) die tiefe Wahrheitsliebe und die
Tiefe Neigung zu Dir (...) ein Stachel für Dich zu werden (...) imstande sein könne. (...)
Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein
Fassungsvermögen aus dem Geist unserer Grossen (...) als Nahrung sog.
Wäre es denkbar, dass ich je dem entsagen müsste (…) was ich als Musik empfinde,
Deine Klänge würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden Öde ausfüllen. Wie
sollt ich mich (...) da mit denen verbrüdert sehen -die die Verbreitung Deiner Werke mit
allen Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe machen? (...)
Ich kann euch kein Helfer sein und darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein
haben, die Sache, die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So muss ich
denn auch Deine liebe Aufforderung zur Teilnahme an den Festlichkeiten in Weimar
unbefolgt lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um als Heuchler (...) gegenwärtig
zu sein."
Die Funktion des Konservatoriums als Reservoir des humanistisch inspirierten,
musikalisch absolut ausgeprägten Kompositionsideals Mendelssohns erwies sich vor
allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings als eine zweischneidige.
Einer vielfach überlieferten kulturgeschichtlichen Erfahrung entsprechend, wonach
Adepten kaum jemals die vom Initiator eines Reformwerks vorgegebenen
Idealvorstellungen auf gleicher Höhe weiterzuführen in der Lage waren, agierten
demzufolge auch die Getreuen des ehemaligen Leipziger Generalmusikdirektors und
Hochschulleiters. Diese waren vor allem Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann,
Ferdinand David, Julius Rietz, und Niels W. Gade; letzterer ein zeitgenössisch
hochangesehener Komponist dänischer Herkunft.
41
Lassen wir noch einmal Hans von Bülow als Zeitzeugen und Kommentator zu Worte
kommen:
"Eine andere Partei hielt dagegen treu an dem Todten fest, aus Pietät, aus
persönlicher Freundschaft, aus musikalischer oder nationaler (d. h. semitischer,
Anmrkg. d. Verf.) Sympathie, und weihte nun den überlebenden Quasischülern
(Nachbetern) Mendelssohns eine größere Beachtung als früher. Dahin gehörten
namentlich die Praktiken, denen an einem Nachfolger des Dirigenten Mendelssohn
gelegen war und die einen solchen in Rietz fanden..." (Zitiert aus dem Aufsatz "Das
musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner")
Als Vorstände des Konservatoriums trachteten die Genannten, den von Felix
Mendelssohn authentisch ausgeprägten Istzustand ideal angeleiteten ambitionierten
Musizierens mustergültig festzuschreiben.
„Er hat mich an das ihm so liebe Institut berufen; ein Wirken daran mit ihm wäre mir eine
tägliche Freude und Genugtuung gewesen, das Wirken daran ohne ihn bleibt mir Pflicht
und heiliges Vermächtnis. Ich muss nun für uns beide arbeiten."
So beschied Ignaz Moscheles -im Oktober des Jahres 1846 von Felix Mendelssohn
ans Konservatorium berufen -seine Gattin Charlotte in ihren Erwägungen einer
Rückkehr nach England nach Mendelssohns unerwartetem Verscheiden. Treffender
lassen sich Vorstellungen und Geisteshaltung kaum zusammenfassen, mit welchen die
Nachlaßverwalter vermeintlich Mendelssohnschen Gründungs-und Arbeitsgedankens
am Leipziger Musikkonservatorium an diese Aufgabe herangingen.
Ausdrücke wie "Pflicht" und "heiliges Vermächtnis" legen den Verdacht auf ein gewisses
Maß von Fundamentalismus, Dogmatik, „konservierende“, ein Ideal für alle Zeiten
festschreibende, formal in sich erstarrende Gralshüterschaft bei der Bewältigung dieser
Aufgabe nahe. In diesem Bemühen übersahen die Repräsentanten eines expliziten
Leipziger Konservatoriumsstils jedoch das Bestreben Mendelssohns, die propagierten
musikalischen Formvorgaben konzeptionell, harmonisch und klangsprachlich um eigene
Erfahrungen und Einsichten zu erweitern. Bereits in den 50ziger und 60ziger Jahren des
19. Jahrhunderts verfestigte sich, dem hohen Ruf und weitreichenden
kompositionstheoretischen Einfluss des Institutes zum Trotze dort ein Akademismus
substanzarmer unflexibler Musikkonservative. Im Sinne der charakteristischen Adorno-
Maxime: „Mendelssohn – gegen seine Liebhaber verteidigt!“ bedingte diese Haltung die
fehlgeleitete Vermächtnispflege eines Klischees, welches sich auf die zeitgenössische
Einschätzung der originären musikalischen Kompetenz des Konservatoriumsgründers
im Nachhinein unglückselig auswirken sollte.
Zum einen firmierte das im Akademismus verharrende Konservatorium zu Leipzig in
verallgemeinerter öffentlicher Wahrnehmung als „Mendelssohn-Schule“, galten
Absolventen desselben – gleich dessen, ob es sich um heute möglicherweise zu Recht
vernachlässigte Kompositeure wie Martin Blumner, Friedrich Kiel, Ludwig Meinhardus,
Karl Reinecke und Robert Volkmann Joachim oder wahrhaft inspirierte Tonschöpfer wie
Max Bruch oder Edvard Grieg handelt - pauschal als „Mendelssohnianer“ und Epigonen.
Des Weiteren unterfing sich das Konservatorium -vor allem unter der Ägide des
Thomaskantors Moritz Hauptmann -in der musikästhetischen Diskussion gegen die
Bestrebungen "neudeutscher" Avantgardisten zu polemisieren. Hauptmann trachtete
danach, Repräsentanten Neudeutscher Musik dem Konservatoriumsbetrieb so weit als
möglich fernzuhalten, um den bestehenden Ruf zentralen traditionalistischen
kompositionstheoretischen Lehrens in Deutschland und Europa keinesfalls zu
gefährden.
42
Dies gab selbstredend Anlas zu aggressiv vorgetragenen publizistischen Retouren
neudeutscher Ideologen auf das Konservatorium als „Mendelssohn-Schule“; ließ somit
den Konservatoriumsinitiator erneut zum Ziel rhetorischer Attacken werden.
Das Wort von den epigonalen „Mendelssohnianern“ machte die Runde, der
nazarenisch-erbaulichen Kleinmeisterei postbachscher und -Mendelssonscher
Oratorien, der pianistischen Kleinwerke, welche bei Mendelssohn noch mit wahrer
poetischer Empfindung erfüllt, sich nunmehr in kitschigem Sentiment ergössen; die
Begriffe „Geschmacksgefährlichkeit des Mendelsohnschen Vorbildes“ (Riemann) oder
der pianistischen „Salonmusik“ kamen auf.
Dem spezifischen Unterfangen einer Konsolidierung des Mendelssohnschen Erbes
zumindest dienlicher erwies sich die publizistische Tätigkeit Hanslicks. In der Rezension
einer Veranstaltung der Wiener Singakademie in der Zeitungsrubrik "Aus dem
Konzertsaal" aus dem Jahre 1858 entlarvt er, neben einer erwartungsgemäß vom
traditionalistischen Standpunkt aus geführten Suada gegen die Verrottung
musikästhetischer Gepflogenheiten, hellsichtig die Intention des gegen Mendelssohn
betriebenen "neudeutschen" Nihilismus:
„Die Degradierung Mendelssohns zu einer „falschen Zwischenbildung“ in der
Geschichte der Musik muss wohl die Ansicht in sich schließen, daß wir ohne diesen
Auswuchs viel weiter wären. Darauf ist zu erwidern, daß im Gegenteil in Mendelssohns
Erscheinen gerade zu dieser Zeit und in diesem Zusammenhang eine der weisesten
Fügungen der Kunstgeschichte liegt. Ohne seine Formschönheit, sein reines, klares
Gestalten wäre (...) die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der „Zukunftsmusik“
erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen.“
Im Jahre 1869 gab sich der Komponist Richard Wagner öffentlich als Verfasser einer
zweiten, überarbeiteten Fassung des "Judenthums in der Musik" zu erkennen. Unter der
Protektion des Bayernkönigs Ludwig II. hatte er mit den Uraufführungen von "Tristan
und Isolde" und den "Meistersingern" in München endgültig die Anerkennung eines
Opernreformers und Musikdramatikers gefunden. Mit der wachsenden Popularität
seines musikalischen Werkes nahm auch der Einfluss des Theoretikers Richard Wagner
auf das kulturelle und geistige Leben des späten 19. Jahrhunderts zu. Somit griffen
auch dessen antisemitischen Ansichten um sich, welche er in weiteren verschärft
argumentierenden Schriften erhärtete.
10.Der letzte Deutsche
Jens Malte Fischer vertritt in seiner fulminant recherchierten und verfassten Schrift
„Richard Wagners „Das Judenthum in der Musik“ (welcher die Fakten zur Gestaltung
aller dem Judenpamphlet gewidmeten Abschnitte hiesiger Ausführungen entnommen
sind) die These, das erst die Zweitpublikation des Traktates „der eigentliche Sündenfall“
des Wagnerschen Antisemitismus gewesen sei.
Im Gegensatz zu dem perfiden und feigen Versteckspiel des jungen mittellosen
exilierten, weithin verkannten Musikdramatikers um das Pseudonym „Karl Freigedank“
herum, unterzeichnete ein nunmehr erstarkter und breitgefächert akzeptierter Richard
Wagner mit dem eigenen vollen Namen. Das Pamphlet erschien im März 1869 als
Broschüre im J. J. Weber Verlag in Leipzig. Wagner versah es mit einem kurzen
Vorwort und einer langen Erläuterung im Nachsatz.
43
In den Jahren zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und den siebziger
Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die allgemeindeutsche Judenemanzipation und
Konfessionsgleichstellung rasche Fortschritte gemacht. Wagner sah sich im Jahre 1869
mit einem Ausmaß „drohenden“ Einflusses von gleichgestellten Juden in der
Gesellschaft gegenüber, welches seine wiedererstarkten antisemitischen Aggressionen
und Aversionen dem Judentum gegenüber hervorrief.
Die Neupublikation von „Das Judenthum in der Musik“ muss also als unmittelbare
Reaktion auf diesen Gleichstellungsschub im Jahre 1869 gesehen und verstanden
werden. Einen wesentlichen Einfluss auf die antisemitischen Eruptionen Wagners im
Jahre 1869 hatte der Aufsatz „Was ist deutsch?“, welcher dem Briefwechsel Wagners
mit König Ludwig II. entnommen ist. Darin versuchte Wagner mit allen ihm zu Gebote
stehenden publizistischen Mitteln den König (allerdings völlig ergebnislos) für seine
antisemitische Einstellung zu gewinnen.
Noch im Jahre 1882, im Zuge von Querelen zwischen Wagner und Ludwig II. um dieÜberlassung der Königlich Münchnerschen Hofkapelle und deren jüdischen Leiters für
die Uraufführung von Parsifal in Bayreuth, schreibt Wagner an den König prophetisch
vorausgreifend:
„Der ich mit mehreren dieser Leute freundlich mitleidsvoll und teilnehmend verkehrte,
konnte ich dies doch nur auf die Erklärung hin ermöglichen, dass ich die jüdische Race
für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass
namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht
bin ich der letzte Deutsche , der sich gegen den bereits alles beherrschenden
Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste“.
Überhaupt machte Richard Wagner anlässlich des von ihm selbst und seiner
künstlerischen, finanziellen und politischen Maßlosigkeit verschuldeten Scheiterns
seiner Münchner Pläne und den erneuten Gang ins Exil nahezu fiktiver „jüdischer
Verschwörer“ in München verantwortlich.
Dies stachelte den in der zweiten Hälfte der 1860ziger Jahre angewachsenen Zorn
Wagners gegenüber der insgesamt als feindlich imaginierten „jüdischen Race" auf,
welcher in der Aufsehen erregenden Neupublikation des „Judenthums in der Musik“
eben am Ende jener 1860ziger Jahre einmündete.
Die zersetzende, Wagners Text und Musik als Ingredienzien eines gewaltigen Bluffs
verortete Rezension der Uraufführung der „Meistersinger“ in München durch den Kritiker
Eduard Hanslick ließ das Fass antisemitischer Aggression in Wagners Denke
sprichwörtlich überlaufen und gab somit einen letzten Anschub der Neuedition des
Judentraktates.
Der Wiener Rezensent Eduard Hanslick hatte sich von der anfänglichen Bewunderung
des jungen Richard Wagner zum nunmehr schärfsten und gefährlichsten Gegner des
selbsternannten Musikdramatikers entwickelt. Die Tatsache, dass Hanslick Jude war,
stachelte Wagner zu besonderem Hass gegenüber dem mächtigen Rezensenten auf
und verleitete ihn dazu, diesen mit der Figur des Merkers (also Kritikers) Sixtus
Beckmesser in dem Personenstab der „Meistersinger“ zu karikieren. (Die Figur sollte
anfangs sogar Hans Lick heißen.)
Hanslick schrieb also: „Nicht die Schöpfung eines echten Musikgenies haben wir
kennengelernt, sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers , welcher -ein
schillerndes Amalgam von Halbpoet und Halbmusiker – sich nach der Spezialität seines
in der Hauptsache lückenhaften in Nebendingen blendenden Talentes ein neues
System geschaffen hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner
konsequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist“.
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Hanslick legt dabei die beiden zentralen eklatanten Schwächen im Getriebe von
Wagners gesamten musikdramatischen Wirken bloß. Die Tatsache das der „Halbpoet“
Wagner die Poesie stets nur zweckdienlich, anhand der Massvorgabe seines
dramatischen Anliegens betrieb, bedingt, das solche sklavisch linear aufgefasstes
Versgeschmeide sich niemals zu der Wirkmächtigkeit eines unbedingten freien
Aufschwungs an einem entgrenzten, poetischen Horizont fähig sein kann.
Des weiteren verdeutlicht Hanslick, dass der „Halbmusiker“ Richard Wagner,
beschwert auch von seiner mangelhaften musikalischen Ausbildung, eine wiederum
nur der tonkünstlerischen Entsprechung eines verbalen und dramaturgischen
Leitfadens, oder besser: eines Konstruktes dienende, ohne Ansehen harmonischer
Gesetzmäßigkeiten und des formalen Gestaltungswillens, geschaffene lineare Musik
vorlegte, welche rein musikalisch besehen, schlichtweg nichts taugt.
In der Neupublikation ereiferte sich Wagner unter anderem über die Heimat-und
Musikstadt Leipzig und schmäht dabei auch wieder das Andenken Mendelssohns,
welcher der Stadt eine „eigentliche musikalische Judentaufe“ erteilt und jene dadurch
zur „Judenmusikweltstadt“ gemacht habe. Ausfälle wie jene gegen das „moderne
Israel“, den „Judenjargon“, das „Musikjudentum“ und die „Musikjuden“ folgten.
Wer sich angesichts dieser Schlagworte unwillkürlich an die verbürgte Hetzsprache
des Nazi-Regimes erinnert fühlt, tut dies zu recht: so unglaublich vieles war schon
bereits von Wagner aus-und vorformuliert worden und brauchte nur aufgegriffen und
angewandt zu werden.
Zentraler Punkt des Schreibens ist die Suggestion einer abwegigen paranoid
empfundenen „jüdischen (Musik-) Weltverschwörung gegen Person, Werk-und Ruhm
Richard Wagners“. (J. M. Fischer)
Was Wagner in Wahrheit selbst mit nachhaltigem Erfolg betrieb, die umfassende
Zerstörung des Werkes und Ruhmes eines angesehenen Komponisten mit
publizistischen Mitteln, wähnt er mit pathologischem Eifer, quasi wie ein Schattenboxer,
auch gegen sich selbst gerichtet.
Er schrieb also: „Denn über Eines bin ich mir klar: so wie der Einfluss, welchen die
Juden auf unser geistiges Leben gewonnen haben, und wie er sich in der Ablenkung
und Fälschung unserer höchsten Kulturtendenzen kundgibt, nicht ein bloßer, etwa nur
physiologischer Zufall ist, so muss er also auch als unleugbar und entscheidend
anerkannt werden. Ob der Verfall unserer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung
des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könnte vermag ich nicht zu
beurteilen weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“
Wagner blickt also dabei prophetisch in die Zukunft und sieht dort Kräfte
heraufdämmern, welche er in seinen Schriften mit gewaltigen Worten wiederum selbst
heraufbeschworen hatte.
Wagners Person geriet denn in den späten 1860ziger und in den 70ziger Jahren auch
zu einem Empfänger von quasi umfassendem, unbedingtem, royalem Anspruch
zahlloser antisemitischer Denk-und Hetzschriften oder wurde, besser gesagt, darüber
hinaus gar zum geistigen Führer einer neuen antisemitisch-politischen Bewegung in
Deutschland.
Im Privatleben Wagners, welches sich so treffend in Cosimas Wagners Tagebüchern
überlieferte, herrschte denn auch die Meinung vor, mit der Neupublikation des
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Judentraktates den Anfang der Antisemitismusbewegung der 1870ziger Jahre gegeben
zu haben und so reflektierte Cosima Wagner im Tagebuch stolz und frohgemut: „Wir
lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang
dieses Kampfes gemacht hat“.
Jens-Malte Fischer fasst im Abschluss seines Kapitels „Die Wirkung der Broschüre
von 1869“ denn auch folgerichtig zusammen: „Er (Wagner) gab der zehn Jahre später
ausbrechenden massiven Antisemitismuswelle eine Art Anschubfinanzierung, und so ist
seine und Cosimas Befriedigung darüber, daß die Broschüre den Anfang gemacht habe,
leider von der historischen Wahrheit nicht sehr weit entfernt.“
Und so schrieb Eduard Dühring im Jahre 1881 in seinem Pamphlet „Die Judenfrage als
Rassen-, Sitten-und Kulturfrage“, welches sich zu einem maßgeblichen Werk innerhalb
des deutschen Antisemitismus der Kaiserzeit entwickelte (in der 5.ten Auflage aus dem
Jahre 1901: (So) „soll ihm das Verdienst nicht bestritten werden, als selbstständiger
Schriftsteller schon früh in die Judenfrage eingegriffen und einige mit der Kunst
zusammenhängende Eigenschaften sowie die geheime literarische Verfolgungssucht
der Juden zur Sprache gebracht zu haben“.
Das Fatale an der Neupublikation der Judenschriebs ist doch jenes: In einem Umfeld
des obskuren Publizierens antisemitischer Wirrköpfe, welche die zeitgenössische
Intelligenz nicht akzeptierte oder ernst nahm, werden hier die antisemitischen Thesen
von einer gewichtigen, weithin berühmten Musikpersönlichkeit deutschen ja
europäischen Ranges öffentlich vertreten.
Der von Wagner und seinem Gefolge initiierte, von der Gründung Wahnfrieds an bis
zum Untergang Bayreuths im Jahre 1945 bestehende Bayreuther Kreis, verbreitete
unausgesetzt über das Sprachrohr der Bayreuther Blätter die von Wagner und seinem
Ruhm so fatal geadelte, in den Rang eines deutschen und europäischen Diskurses
erhobene antisemitische Denke Wagners.
Jens Malte Fischer gemahnt in dem Kapitel „Die Nachwirkung“ aus „Richard Wagners
Das Judentum in der Musik“ eindringlich die Gefährlichkeit dieser zersetzenden, alle
Bindungen bürgerlicher Ordnungen bis zum Ausflocken der einzelnen Bestandteile und
Gesetzmäßigkeiten agierenden oder reagierenden Thesen.
Und somit ist eine allgemeine „meist ausgesprochene, gelegentlich auch
unausgesprochene Traditionslinie der Berufung auf Richard Wagner in allen Aspekten
der Judenfeindschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts ungebrochen bis ins „Dritte Reich“
hinein feststellbar, und vor allem im Zusammenhang von Kunst und Kultur, speziell von
Musik“ (Fischer).
Um 1870 herum trat auch der Leipziger Publizist August Reißmann; ein ehemaliger
Konservatoriumsschüler Felix Mendelssohns mit Schriften an die Öffentlichkeit. In
diesen vermochte er es kaum, das Werk dieses Komponisten im Stande gebotener
ästhetischer Eigenständigkeit zu beurteilen. Vielmehr unterwarf er es erneut dem
alleinigen Maßstab musikalischen Fortschritts. Es verdeutlicht sich erneut, wie dominant
sich dieses von der "Neudeutschen Schule" kultivierte Dogma in jenen Jahren
gebärdete – wie sehr die sachlich ästhetische Analyse von Musik als eines Sprachrohrs
nur in eigener Sache damals verunmöglicht war.
Reissmanns Mendelssohn-Traktat ist allein durch sein Benehmen bemerkenswert, die
antisemitischen Theorien und speziell auf Mendelssohn gemünzten abfälligen Invektiven
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einer angeblich oberflächlichen angekränkelten jüdischen Psyche sowie synthetischen
künstlerischen Empfindens aus Wagners "Judenthum" nahezu identisch in den
unverdächtigeren Tonfall "objektiv" musikwissenschaftlichen Theoretisierens übertragen
zu haben. Er gab somit einer Entwicklung eines Kataloges musikalisch absolut
vorgetragener, scheinbar von den offenkundigen antisemitischen Stossrichtung des
Wagnerschen Traktates gänzlich befreiter, negativer Mendelssohn-Stereotypisierung
erheblich Vorschub.
Reissmann schreibt also:
"Mendelssohns ganze Erziehung hatte in ihm früh jenen genialen Sinn für
Formvollendung ausgebildet, der es im Grunde verhinderte, dass seine Individualität
sich wirklich selbstschöpferisch und neu gestaltend vertiefte (...) Früh leitete ihn das
Bewusstsein von der idealschönen Form, in welche er seine Individualität zu ergießen
strebte, diese aber war weder sehr tief noch überaus reich ausgestattet (...) Mit
rastlosem Fleisse (...) hatte er sich die unumschränkte Herrschaft über alle Mittel der
musikalischen Darstellung angeeignet, aber er verwendet diese immer nur nach dem
durch seine Individualität beschränkten Maße (...) Er stellt seine leichter entzündbare
Phantasie, sein rascher und mächtiger erregtes Interesse unter die Herrschaft fremder
Einflüsse.
Bach und Händel, Mozart und Beethoven (...) gewinnen Anteil an seiner Innerlichkeit
aber nur so weit sie eben Raum darin finden, sodass diese selbst nicht gerade
gewaltiger und tiefer wird. (...) Mendelssohns Phantasie wird von der des Dichters nur
angeregt; der Meister empfindet die fremde Dichter-Individualität nur in dem
beschränkten Rahmen seiner eigenen und vermag sie daher auch nicht umzudichten
(...) Selbst jetzt, nachdem uns der ganze Mendelssohn bekannt ist, wird es nicht leicht,
in den Liedern op. 8 und 9 die besondere Weise seines Empfindens zu erkennen, weil
hier das Fremde und Angelernte überwiegt. (..) Sie sind alle im Sinne und Geiste der
größten Meister empfunden, aber der Ausdruck ist auf jenes Maß zurückgeführt und
abgeschwächt, das ihm für die ganz grosse Allgemeinheit Giltigkeit gibt und daher den
Liedern die weiteste Verbreitung sichert. Die Lyrik Mendelssohns wurde so (...) zur
Massenlyrik. (...)
Mendelssohn führte mit seinen "vierstimmigen Liedern im Freien zu singen" auch dem
Chorliede alle die in seiner Individualität abgeklärten Elemente des Musikempfindens
seiner Zeit zu (...) Der vierstimmige Liedergesang stellt nirgends Anforderungen, die
außerhalb der Individualität unsres Meisters liegen. Subjective Vertiefung wie die
Verdichtung zu grossen und weit angelegten Tonbildern sind dem Chorliede ebenso
fremd wie unserem Meister. Die besonderen Feinheiten des Empfindens finden natürlich
nur so weit Berücksichtigung als sie sich im Chorliede darstellen und dem
Gesamtempfinden vermitteln lassen -und hierin ganz besonders liegt Mendelssohns
unübertroffene Meisterschaft. " ("Die drei grossen Meister der musikalischen Lyrik" in
"Die Tonhalle", Leipzig vom 9.11.1869)
In Erörterungen der "Kunst-und Kulturgeschichtlichen Bedeutung" Mendelssohns
verweist Reissmann zwar auf den hohen Rang der "ewig gültigen Kunstwerke, welche"
Mendelssohn in "schöpferischer Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwicklung",
hervorgebracht habe, gibt aber des gleichen zu bedenken, daß man Innovation
vergleichbaren Ranges hinsichtlich "Weiterbildung der Kunst" und eines "neuen
Ton(es)...der zur Weiterverfolgung anregte" nicht zu erkennen vermöge.
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Verblümt, in umsichtig, taktvoll erwogener Formulierung, wird hier der Einschätzung
Vorschub geleistet, das Mendelssohns Musik zwar unbestreitbar den Geschmack zeitgenössischer
Hörerschaft vollgültig befriedigte, Hörern künftiger Generationen aber wohl
kaum noch wesentliches zu sagen vermöchte.
Solch Ausmaß nachhaltig um sich greifender Mendelssohn-Verfemung riefen Freunde
und Weggefährten wie den Komponisten und Dirigenten Ferdinand Hiller zur
Verteidigung von Namen und Rang Mendelssohns auf.
Hiller veröffentlichte im Jahre 1874 ein Gedenkbändchen, welches der Öffentlichkeit
"Briefe und Erinnerungen" zugänglich machte. Im Vorwort machte Hiller aus dem Anlass
der Publikation keinen Hehl und schrieb daher:
"Verehrer Mendelssohns haben es mir vorgeworfen, nicht schon vor längerer Zeit mit
Mitteilungen über ihn hervorgetreten zu sein. Vielfache Gründe hielten mich davon ab.
(...)
Jetzt aber trete ich um so freier mit diesen von dem Dahingeschiedenen so
liebenswerte Züge enthaltenen Blättern hervor, als er, einer der schönsten und hellsten
Sterne am Himmelsgewölbe deutscher Kunst, gerade in seinem Vaterlande, von dem
Unverstand, der Urtheilslosigkeit und dem Neide Angriffe erfährt, welche nur denen, von
welchem sie ausgehen, zur Unehre gereichen; denn der Glanz, in welchem sein Name
erstrahlt, zu verdunkeln wird ihnen nimmer gelingen. Das Gold widersteht dem Roste.
("Felix Mendelssohn-Bartholdy, Briefe und Erinnerungen, Köln 1874)
In den 70ziger Jahren des 19 Jahrhunderts verfielen Rezensenten zunehmend darauf,
Mendelssohns Klavierwerke explizit in den Rang oberflächlich brillanten
Demonstrationsrepertoires pianistischer Fähigkeiten von Nachwuchskünstlerinnen zu
erheben. So schrieb die "Tonhalle" im April des Jahres 1870:
"Fräulein Mehlig spielte die Pianopartie des schönen Es-Dur Trios, Phantasiestücke von
Schumann, Präludium und Fuge von Mendelssohn (...) Hier war ein großes Feld reicher
Kontraste! Schumanns tief innerliches Phantasiestück neben Mendelssohns maßvollem
und glattem Präludium".
Am 2.ten November heißt es ebenda:
„ Wenn wir in dem herrlichen Bachschen Präludium und Fuge, (...) von den großartig
unruhigen Tonwellen und dem markigen Fugenthema fortgerissen wurden, so war auch
die Klangwirkung des Mendelssohnschen Adagios von dem weichesten Charakter
durchweht."
Am 7. Dezember schrieb die "Tonhalle" wiederum:
"Einen höchst erfreulichen poetischen Reiz gewährten die Claviervorträge der
sechzehnjährigen Frl. Emma Brandes aus Schwerin. Wenn eine so jugendliche
Persönlichkeit sich an ein Stück wagt, wie das G-Moll-Concert von Mendelssohn, (...) so
will das viel sagen. (...) Wir mussten uns bei dem Spiel der Frl. Brandes gestehen, was
zu ahnen noch kein Künstler bei uns veranlasst hatte, daß das G-Moll-Concert dem
Ausführenden, wenn er von musikalischer Intuition durchdrungen ist, bei dem Spielen
dieses scheinbar mehr für die glänzende Entwicklung wahrer Technik geschriebenen
Stückes Gelegenheit giebt, alle Vorzüge eines vortrefflichen Clavierspielers zu
offenbaren.
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Abschließend sei die Ausgabe vom 14.12.1870 zitiert:
"Die noch im kindlichen Alter stehende Pianistin Laura Kahrer, welche sich bereits in
mehreren bedeutenden Städten mit Erfolg produziert hat, gab ein Concert, das in vieler
Beziehung Staunen zu erregen geeignet war. (...) Die Handgelenke (...) sind auffallend
elastisch und befähigen zu erstaunlich leichtem und graciösem Octavenstaccato und
überhaupt leise über die Tasten hingehenden so genannten Mendelssohnschen
Clavierfiguren."
11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben!
"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe
Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn
es sein muss, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"
Euphemistisch belegt Adele Schopenhauer die außerordentlichen Wirkung, welche der
12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte.
Darüber hinaus nimmt sie prophetisch die Geschicke Felix Mendelssohns in
zwiefacher Hinsicht vorweg. Den Lebensweg des Komponisten zum einen; äußerlich
wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug.
Zum zweiten: den stereotypen Rückschluss von privilegierter Biographie auf die
musikalische Substanz von Kompositionen, welcher sich in zunehmend veräußerlichter
Betrachtung des Sujets durch Musikologen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
herausbildete. Vom 3. Weg, dem inneren Weg des musikalischen Humanisten in eine
substantielle emotionale und musikalische Melancholie hinein, in die Gewissheit um das
Vergehen einer Epoche, welche entscheidende gesellschaftliche Veränderung durch
Kultur und Bildung für möglich hielt; in die finale Gewissheit, versagt, das Hauptziel,
vermittels Musik die Menschen innerlich zur Vervollkommnung und Erkenntnis
anzuleiten, nicht erreicht zu haben, konnte Adele Schopenhauer nichts vorausahnen,
wollten besagte Musikologen nichts erahnen.
Sie überlagern sich mit der sachfremden Argumentation einer Musikwissenschaft
späterer Zeiten, welche die idealisierte Gleichsetzung der Betrachtung von Werk und
Person eines Komponisten zum Dogma erhob.
Bedeutsame Musik: komponiert von einem Menschen, dem es, frei von materiellen
Sorgen, geliebt, künstlerisch von jeher gefördert und vorbehaltlos akzeptiert,
nachweislich immer wohl erging? Wie wäre das möglich?
In einer übersteigert-romantischen Vorstellung jener Jahre von Kunst als
entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie -der Heros des Judenaufsatzes abseits
von Anerkennung oder Lebensglück um meisterliche musikalische Wahrheit.
Erst spät oder niemals fand so das Werk bedeutender Künstler zu Lebzeiten
Anerkennung. Das persönliche Leid des Künstlers als zuverlässigster Indikator
künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen
Relativierung unterworfen: Je mehr persönliches Leid, desto bedeutsamer das Werk.
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Wies nicht allein der Vorname Mendelssohns symbolträchtig darauf hin, wie sehr sich
Gedanken an Genialität und Meisterschaft hinsichtlich seines Werkes ausschlossen:
"Felix" - "der Glückliche"!
Intermezzo II: "Felix! Tust Du nichts?!"
rief Mutter Lea stets, wenn der Knabe sich ins Plaudern verstieg und er sich somit des
Müßiggangs hingab. Auch der zum Manne herangereifte Felix Mendelssohn mochte
diesen zu unablässigem Bildungsfleisse anspornenden Ruf innerlich noch oftmals
vernommen haben.
"Nun ist Glückhaben noch kein persönliches Verdienst; entscheidend ist, wie einer sein
Glück empfängt und verwaltet (...) Betrachten wir also die Lebensstationen dieses in der
Tat vom Glück begünstigten Künstlers, der (...) das ihm Zugefallene täglich in harter
Arbeit bis zur Erschöpfung sicherte, (...) der mit der Bürde "Glück" in einem nur kurzen,
sich selbst verzehrenden Leben fertig werden musste." gibt Eduard Kleßmann in "Die
Mendelssohns -Bilder einer deutschen Familie" im Hinblick auf die tiefschichtiger
erkennbaren Aspekte eines Felix Mendelssohn Bartholdy zuerkannten Übermaßes
glücklicher Lebensumstände zu bedenken.
Das stereotyp wiedergegebene Genrebild vollendeter Sorgenlosigkeit ignoriert
demzufolge das Desinteresse Mendelssohns an potentiellem großbürgerlich-
materiellem Müßiggang.
Allein die Leipziger Jahre zeigen Momente einer Schaffensverpflichtung auf, welche
nahezu etwas Getriebenes, Psychopathologisches in sich tragen. Die Vermutung, daß
die Ruhelosigkeit eines im innersten Wesen zutiefst unsicheren Menschen, die sich
auch in leichter Reizbarkeit, den verbürgten raschen Dirigiertempi und der Häufigkeit der
Tempovorgaben Presto, Molto vivace, Molto allegro con fuoco in den Kompositionen
äußerte, zu Überarbeitung, Depression und vorzeitigem Tode des Komponisten
beitrugen, liegt nahe.
Das Klischee schmerzgeboren titanesker Kreativität des Genies, welchem ein in
pastoral-ätherischer Idyllik dargestellter "Felixissimus" nicht zu genügen vermochte,
wurde von der Musikpublizistin La Mara in ihrer Darstellung von "Musikalischen
Studienköpfen" trefflichst bedient. Auch hier firmiert nicht der wahre Name einer Autorin;
die eigentlich auf den Namen Marie Lipsius hörte. Gleich zu Beginn ihrer Darstellung
heißt es:
"Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und
Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die
Künstlerseele so häufig beschweren".
Als ob ästhetisches Räsonieren und kreatives Handeln den Anforderungen des
Kriegsfalles unterworfen sei, der Künstler sich in Wahrheit also am Maßstab
vaterländischen Gemeindienstes als substantiell erzeigte, behauptet La Mara Lipsius in
wahrhaft martialischer Gestimmtheit:
"Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten
und Kämpfe von grossen Schmerzen.
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So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter geworden, nicht das, was man einen
Heros der Töne nennt. Ihm fehlt die genialische Überfülle, die himmelanstürmende
Kraft, die kühne Ursprünglichkeit, die jenen macht.
Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er
hinabgestiegen, eine Welt in sich befriedeter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es,
darin seine Muße zu verweilen pflegt.
Aus solch Zerrbildnis heraus betrachtet, überzogenen Ansprüchen an
Allgemeinverbindlichkeit kulturellen Wirkens sowie Versäumnissen hinsichtlich
biographischer Wahrheitspflicht geschuldet, war wohl kaum noch angemessene
Darstellung des Oeuvres eines so beschriebenen Kompositeurs vorstellbar.
La Mara leistet viel eher einem verhängnisvollen Kulturdarwinismus vom Schlage
Wagners Vorschub, welcher die Künste dem Gesetz des Pathos unterwarf. Das
Pathetische allein ist diesem zufolge groß und wahr; nur der Künstler, welcher des
Lebens Mühsal den Pathos abrang.
Das von La Mara vorgestellte Bild gemahnt an die symbolträchtige Fabel von der Grille
und der Ameise. Letztere bemüht sich im Verborgen und finsteren um
überlebenswichtiges Gut, während die Grille sich Sommers tändelnd, musizierend im
flüchtigen Beifalle sonnt und den Winter nicht zu überstehen vermag.
12. Von der E-Musik und der U-Musik
Auch die Kluft zwischen den Ebenen Populärmusik und Hochkultur bestärkte eine
Musikwissenschaft, welche Werk-und Rezeptionsästhetik von Musik als selbstverständliche
Einheit auffasste, in ihrem Vorbehalt, es letztendlich nicht mit einem E-
sondern mit einem U-Musiker zu tun zu haben. Die akademische Musikpflege durch
Musikologen, Rezensenten und professionelle Instrumentalisten begann das Bild
Mendelssohns als “Epigonen, faden “Klassizisten” und “schwindender Größe”
festzuschreiben. Die Präsenz seiner Werke auf den Konzertpodien schwand.
Chorgesänge und Klavierkompositionen erfreuten sich in der Haus-und Volksmusik
hingegen ungebrochener Beliebtheit.
Nun offenbart sich darin eine aus allen kulturellen Traditionen vertraute Tendenz
intellektueller akademischer Erhabenheit, welche sich mit Heranbildung und dem
wachsenden gesellschaftlichen Einfluss bildungsbürgerlicher Strukturen ausprägte.
Es war im 18. und frühen 19. Jahrhundert weniger Ausnahme als Regel, daß
Kompositionen der bedeutendsten Tonschöpfer Volkstümlichkeit erlangten oder gar
gezielt für den populär-oder semipopulärmusikalischen Bereich entstanden. Mozart
hatte keinerlei Schwierigkeiten, neben den erschütternden psychischen Vertiefungen
des "Requiem" und der Titusoper auch Vogelfängerarien für die Wiener Vorstadt zu
schreiben. Mozart-Kompositionen wie das nurmehr volksliedhaft rezipierte „Komm,
lieber Mai und mache....“, das berückende „Rondo alla turca“ für Klavier sowie die
Streicherserenade „Eine kleine Nachtmusik gingen ins bürgerliche Populärmusikgut ein.
Auch das Schaffen Haydns („Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee...“ nach der
Symphony Nr. 94 „Mit dem Paukenschlag“ und jenes Beethovens ("Für Elise") blieben
nicht ohne Einfluss darauf.
51
Melodien aus Carl Maria von Webers „Der Freischütz" wurden bereits Tage nach dem
überwältigenden Premierenerfolg in den Strassen Berlins nachgesungen und –gepfiffen.
Lieder wie „Der Lindenbaum“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Franz Schubert
oder „Guten Abend. Gute Nacht“ von Johannes Brahms zählten im 19. und frühen 20.
Jahrhundert zum Volksliedgut. Die Musikforschung hantiert hier in der Abstrafung
populären mendelssohnschen Volksgutes gegenüber jenem von Mozart, Haydn oder
Brahms offenkundig mit zweierlei Maß.
Der Vorwurf bezeichnender, exorbitanter Popularität einzelner Mendelssohn-
Kompositionen lässt vielmehr Subjektivismus, Voreingenommenheit erkennen. So bleibt
nur noch eines von Interesse: wann der gemeinhin sanktionierte Bruch zwischen
populär-musikalischer und neuzeitlich professionell aufgefasster Musiktradition exakt
einsetzte; wen der akademische Bannstrahl traf, wen er verschonte. Eric Werner
definiert die Auflösung gemeinschaftlicher Verwurzelung von „Kunst“ und
„Gebrauchsmusik“ in der Tradition höfischen Musizierens in der sich zunehmend
verbürgerlichenden Ägide Franz Schuberts, also den Zeiten des Metternichregimes in
den Jahren um 1820. Die Instrumentalmusik spaltete sich demzufolge in die nunmehr
unvereinbaren, autonom sich fortentwickelnden „Ebenen der „reinen“ Kunst, die
klassisch-romantische Kammer-und Symphoniemusik sowie die Ebene des Populären
jedweder Operetten-und Tanzmusik jener Zeit und der Salonmusik für Klavier, Harfe
oder das kleine Ensemble der Gartenrestaurants“
Die auf solch chronologischer, kulturgeschichtlicher Betrachtung beruhende Analyse
musste also resümieren, das Mendelssohn als „seriöser“ Musiker den „Fehler“ beging,
diverse, nurmehr „Kleinmeistern“ zuerkannte, Populärmetiers wie romantische
Männerchöre, „Lieder, im Freien zu Singen“, Duette und Quartette, Klavierminiaturen
etc. weiterhin bedient zu haben. Möglicherweise mit dem Drang zu solchen Formen gar
seinen wahren künstlerischen Gehalt aufgedeckt zu haben. Aber auch dieser Weg führt
in der Frage: definitive Einschätzung eines Komponisten aus seinem kleinteiligen
Füllwerk heraus keineswegs weiter. Andere Komponisten haben eine Unzahl von
Gelegenheitskompositionen geschrieben oder mit ihrem Werk dezidiert auf
Populärformen Bezug genommen, ohne im Ansehen im Mindesten Schaden genommen
zu haben.
Schubert, Schumann und Brahms haben gleichwohl Vokalduette und –Quartette und
Männer-, Frauen-, Gemischtchorsätze a capella bzw. instrumental minimal begleitet
komponiert, Klavierpoesien schätzen wir vergleichbar bei Robert Schumann. Gerade
das Oeuvre Richard Wagners weist einen immensen Bestand von
Gelegenheitskompositionen, Repräsentativ-Chören und –Märschen etc. auf; Werken,
welche dem musikalischen Niveau des eigentlichen Musikdramatikers in keiner Weise
entsprechen und demzufolge heute vergessen sind. Das kammermusikalisch als hoch
stehend eingestufte „Siegfried-Idyll“ entstand nachweislich als improvisiert, im
Treppenhause dargebotenes Geburtstagsständchen an Wagners Gattin Cosima.
„Sowohl der „Pilgerchor“ und der „Einzug der Gäste auf Wartburg“ aus der Oper
„Tannhäuser“, als auch die Chorensembles des „Fliegenden Holländer“, die
Vasallenchöre in „Lohengrin“ orientierten sich unmittelbar am Vorbild Mendelssohnscher
Männerchortableaus; der von Mendelssohnscher Feiermusik inspirierte Brautchor im 3.
Akt Lohengrins zählt neben dem Hochzeitsmarsch aus der "Sommernachtstraum"-Musik
zum Archetyp romantischer Hochzeitspiècen.
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Des Weiteren gehören die „Holländer“ und „Tannhäuserchöre“ zumindest noch heute
zum Kernrepertoire größerer Feuerwehr-, Polizei-und Volkschorvereinigungen. Welche
seriöse Musikrezeption sähe den Wert zahlreicher Opern vor allem der mittleren Periode
von Verdis Schaffen dadurch geschmälert, daß sie sich exzessiv des hochpopulären
Idioms italienischer Banda-Musik bedienten. Der grosse Johann Strauss II hat kaum
anders als für populär-oder repräsentativmusikalische Anlässe geschrieben und gehört
selbstverständlich zum Repertoire führenden Symphonieorchester aller Länder und
Kontinente. Die Beliebtheit der Mendelssohn-Chöre: Oh, Täler weit, oh Höhen...“, „Wer
hat Dich, Du schöner Wald...“, der Lieder: „Es ist bestimmt in Gottes Rath.“, „Auf Flügeln
des Gesanges...“, des „Frühlingsliedes“ und anderer nachträglich mit Texten
versehenen "Lieder ohne Worte" sowie des anrührend-ätherischen Weihnachtsliedes
„Hark, the herald angels sings.“ verliehen Mendelssohns Schaffen in den Augen der
Musikwissenschaft in steigendem Masse etwas anrüchiges.
Das Phänomen ist erneut dem Heroisierunggedanken von Kunst in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts geschuldet. Musikern, die als "deutsch", als "Heros" geschätzt
wurden, die um ihr Werk "gerungen", "gelitten" hatten, gestand man den „reinen
Volkston“ in den Populäräusserungen als wahre und authentische Äußerung
bedeutender Meister zu. Die Populärnummern derselben wurden quasi durch den
idealen Tiefgang reinen absoluten Schaffens kanonisiert. Wie wenig zuvor dargestellt,
stellte man Mendelssohns Musik seinerzeit in Gesamtheit als „fein-empfindsam,
„sentimental“, „weibisch“, „geschmacksgefährlich“ und somit „jüdisch“ dar. Da dem
Konzertwerk Mendelssohn Bartholdys die genannten Attribute „Genios“ etc.
weitestgehend abgesprochen wurde, mochte man die Populärwerke demzufolge für die
übelsten sentimentalsten Auswüchse eines in sich fragwürdigen, seichten Schaffens
nehmen.
Hellsichtig verwies der Musikpublizist Wilhelm Heinrich Riehl bereits im Jahre 1850 auf
jene Aspekte einer kultursoziologische Biographie Mendelssohns, welche dessen
postmortale Reputation durch „sachfremde“ Erörterung und Rückschlag auf das
musikalische Resultat zu gefährden imstande waren.
Riehl veröffentlichte in diesem Jahre innerhalb seiner Anthologie von Musikalischen
Charakterköpfen den Essay "Bach und Mendelssohn aus dem socialen
Gesichtspunkte", welcher sowohl als Nachruf auf Felix Mendelssohn als auch eine
Würdigung des Thomaskantors Bach zu dessen 100. Todestag verfasst wurde. Riehl
zählte eingangs als Unbefangener wahrheitsgemäß die humanen und soziologischen
Vorzüge des Tonschöpfers Mendelssohn auf. Diese wurden später in den Werken
anderer Autoren, in vergleichbarer rhetorischer Konzentrierung oder besser;
Überspitzung vorgebracht und sollten der musikbiographisch stereotyp vorgebrachten
Entwertung, ja Karikierung des Vorbildes dienen. Mendelssohn war somit „ein vielseitig
gebildeter, gesellschaftlich gewandter, wohlhabender, fein gesitteter Mann, in fast ganz
Deutschland bekannt, in allen auserlesenen Zirkeln gesucht.“
Wenngleich Riehl auch die Darlegung, wie sich „jüdelnde Schreibart“ jener Tage
musikalisch darstellte, schuldig bleibt; umreißt er doch schlüssig die integrale Position
Mendelssohns innerhalb eines zunehmend von bildungsbürgerlichen Idealen
ausgeprägten und getragenen Musiklebens des frühen 19. Jahrhunderts.
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Riehl schreibt also:
„Er war der erste Musiker, welcher so recht für die „feine“ Gesellschaft – im guten Sinne
des Wortes musizierte. (...) So schrieb auch Mendelssohn im Geiste dieser gebildeten
Gesellschaft, die sich jetzt ausgleichend und vermittelnd über alle Stände hinzieht (...)
Es war bei seinem Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu
begegnen (...), der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der
Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einen
Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte, während fast alle christlichen
Lieblingskomponisten des Tages jüdelten. (...) Keine andere Kunst hat einen Mann
aufzuweisen, der in seinem künstlerischen Schaffen so ganz inmitten des sozialen
Lebens unserer gebildeten Kreise gestanden hätte und wiederum so von diesen
verstanden und gewürdigt worden wäre wie Mendelssohn".
Die augenscheinliche Affinität Mendelssohns zu seiner bildungsbürgerlich-
musikalischen Umgebung, erweist sich auch in der fruchtbaren Tätigkeit des sich
dezidiert als Humanisten und Citoyen verstehenden Komponisten in Leipzigs Klima
aufgeklärten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Gegensatz dazu sollte das Modell
einer zentralen, königlich preußischen Musikdirektion in Berlin, welche Friedrich
Wilhelm IV. von Preussen dem Komponisten andiente, so gar nicht funktionieren. Nicht
allein daher, weil diese den aktuellen Entwicklungen im Kulturbetrieb nicht mehr
entsprach.
James Webster legte das primitiv konstruierte Schema, aufgrund dessen sich im späten
19. sowie im 20. Jahrhundert in semantischer Deckungsgleichheit bildungsbürgerliche
relevante Vorurteile gegen Felix Mendelssohn herleiteten, in einem präzise erstellten
Diagramm dar:
Vorstellungen, die zum "Problem Mendelssohn" beitragen:
Kultur und Ideologie; Herkunft bzw. Persönlichkeit
Bürgerlichkeit
Reichtum; begünstigter sozialer Status
Zugang zu bedeutenden musikalischen Persönlichkeiten
Harmonisches Leben, ohne Kampf und Leid
Jüdische Abstammung
Wunderkind; Leichtigkeit beim Komponieren
Erfolg
Bemühungen um Erfolg; Anpassung an die Zuhörer
Ideologie der Bejahung; Aufrichtigkeit; christliche Frömmigkeit
Musikgeschichte
Klassizistisch im Stil bzw. in der Wahl der Gattungen
Gründliche konservative Musikerziehung; Pflege alter Musik
Analyse (=Ästhetik)
Thematische Konstruktion
Melodisch; gleichmäßig; korrekter, kunstvoller Satz
Mangel an Prozessualität bzw. Problematisierung, Pflege alter Musik
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Rhythmus
Periodengebunden; einheitlich
Einförmig bzw. undynamisch
Form
traditionell; übersichtlich
Überkommen; bloßes "Gehäuse"; undramatisch; unklassisch
Kammermusik
Faktur zu orchestral (z. B. Tremolo)
Innenstimmen "zu viel", dem bescheidenen Inhalt bzw. Dynamik gemäß
Folgerungen für die Beurteilung von Mendelssohns Musik
Oberflächlichkeit; konventionell; sentimental
Mangel an künstlerischer Authentizität (Gewicht, Ausdruck, Tiefe)
Mangel an historischer Authentizität (unzeitgemäß; epigonal)
Naiv (im Schillerschen Sinne); Mangel an Besonnenheit
Gattungsunterschiede
Nur kleinere bzw. periphere Gattungen ganz erfolgreich;
"Elfenmusik, Scherzi, Programmouvertüren, Lieder ohne Worte
"Zentrale" Gattungen nur bedingt erfolgreich: Sinfonie, Konzert, Kammermusik,
größere Vokalwerke
"Weiblich" und/oder "jüdisch" eingestuft
13. Der schönste Zwischenfall der deutschen Musik
Was mag in der Psyche derjenigen, welche dieses auf pseudorevolutionär genialisch
ausgeprägter Kulturdoktrin beruhende Schema konzipierten sowie derer, welche es inallgemeiner Übereinkunft bereitwillig rezipierten, eigentlich vor sich gegangen sein?
Im Vorwurf mangelnder künstlerischer Substanz Mendelssohns, welche sich angeblich
vermittels Anbiederung an herrschende Gesellschaftsschichten und den
vorherrschenden Publikumsgeschmack zu kompensieren trachte, manifestierte sich vor
allem folgendes: ein Dilemma stetigen Missverhältnisses zwischen künstlerischem
Anspruch und dem Zustand bürgerlichen Seins neudeutscher Musiker und deren
Umfeld.
Wie die Biographien führender Repräsentanten derselben zeigen, waren jene
materialistischer oder politischer Konformität keineswegs abhold (Wagner, Liszt). Waren
zu jener wahren Höhe, welche man einem Mendelssohn – genanntem Schema folgend
– insistierend absprach, selbst nicht berufen. (Dr. Eduard Krüger, Dr. Franz Brendel,
Theodor Uhlig, Hans von Bülow, Cosima Wagner).
Eine Systematik egozentrischer Schizophrenie deutet sich an: diejenigen, welche Kunst
in der Funktion unausgesetzten gesellschaftlichen Widerstandes begriffen, auf ästhe
55
tischen Fortschritt, politische Umwälzung drängten, zielten gleichzeitig aber auf
künstlerische Akzeptanz und Vormacht sowie stetige mäzenatische Förderung durch
kulturbewegte Bourgeoisie und das Feudalsystem ab.
Mit der symbolträchtig systematischen Anprangerung mendelssohnscher
Gesellschaftsrelevanz leisteten jene vor allem eines: die öffentlichkeitswirksame
Aufarbeitung eines Problems ästhetischer und gesellschaftlicher Arriviertheit, welches
sie letztendlich nur mit sich selbst auszuhandeln hatten.
Der Dirigent Hans von Bülow, einstmals ein Pionier gezielter Mendelssohn-und
Schumann-Attacke, wurde in dem Masse zum erklärten Propagandisten
Mendelssohnschen Orchesterwerkes (ab Mitte der 70ziger Jahre d. 19. Jhdts.), wie er
sich aus dem Schatten Wagners zu lösen vermochte. Und so ist in den Frankfurter
Notizen des Klavierschülers Vianna Da Motte aus dem Frühjahr des Jahres 1887 ein so
viel milderes Mendelssohn-Wort von Bülows als jene in stürmischer Jugendzeit
geäußerten verbürgt:
"Ein Lied ohne Worte von Mendelssohn ist für mich ebenso klassisch, wie ein Gedicht
von Goethe".
Die Musikpublizistik jener Jahre, als Genre nicht eigentlich künstlerisch tätig, war zu
dieser Zeit in einem existentiellen Dilemma expandierender musikalischer Expressivität
und strikter bürgerlicher Konventionen befangen. Dem großbürgerlichen Hörer
entsprechend war sie, angesichts des Phänomens Mendelssohn Bartholdy, mehr denn
je einer Situation signifikanter Schizophrenie unterworfen.
Elementen wie materieller Sicherheit, einer penibel nach Ständen und Schichten
separierenden Sozialordnung und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt, erwartete der
großbürgerliche Musikbetrieb vom Künstler als pittoresk präsentiertem Enfant Terrible
in staunender, erschauernder Ergriffenheit genialische Extraordinarität und soziale
Nonkonformität. Folgerichtig ward dem „Künstler“ Mendelssohn also verargt, vermittels
glücklich geführter Ehe, beschaulichem Hausstande und umfassender gesellschaftlicher
Integrität exakt die Dinge zu symbolisieren, welche in sonstigen Lebensbereichen als
Dogma bürgerlicher Lebensführung sanktioniert wurden.
Uneingestandenen, unartikulierten Ansprüchen geschuldeter Zwiespältigkeit
unwillkürlich hingegeben, war sich das bis zum Anbruch der "Informationsgesellschaft"
tonangebende Grossbürgertum über seine Erwartungshaltung an den Künstler und
Musiker aber scheinbar niemals gänzlich im Klaren.
Den aktenkundigen Finanzschmarotzern, Schürzenjägern und Umstürzlern in
Persönlichkeiten wie Richard Wagner; eigenbrötlerisch verschrobenen, bindungsunfähig
lebenswandelnden Komponisten wie Beethoven, Schubert und Bruckner bis zum
heutigen Tage frenetisch ergeben, verwehrte das bourgeoise Publikum dem
Generalmusikdirektor König Friedrich Wilhelms IV. von Preussen und des
Gewandhauses, Ehrendoktor der Universität Leipzig und Familienvater den Einzug in
den musikalischen Olymp. Desgleichen bescheidet es einer grossen deutschen Mimin
wie Elisabeth Flickenschild, welche sich auf Wohnungssuche befand, wie seinerzeit
jener Hamburger Honoratior und Hausbesitzer: An Kaspers vermieten wir nicht!
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Im Jahre 1886 gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: Jenseits von Gut und Böse
demzufolge ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:
” Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik
genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war
von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht
kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um
seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell
vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.”
Nietzsche führt Mendelssohn dabei als Belastungszeugen gegen die Romantik Webers,
Spohrs, Marschners, Schumanns und Wagners heran, zeigt aber wahrhaftig, wie
nachhaltig sich das von „Neudeutschen“ lancierte Bild des heiteren Sentimentalisten,
der nur die Aufgabe wahrnahm, die Überleitung vom Genie Mozarts und Beethovens
zum Genie Wagner herzustellen, damals bereits einprägte.
14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette
"Diese gewisse Weichheit bildet einen Grundzug von Mendelssohns Wesen, dem nur
das Graziöse, Capricciöse und Brillante soweit den Widerpart halten, daß es nicht als
Weichlichkeit und Sentimentalität erscheint. (...) Im kleinen Rahmen (...) nicht nur mit
seinen "Liedern ohne Worte", sondern auch mit seinen Liedern, besonders aber den
Duetten (...) ist Mendelssohn unleugbar sogar geschmacksgefährlich geworden."
Als Herausgeber einer neben "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) bis zum
heutigen Tage führenden Enzyklopädie des Musiklebens schreibt die Autorität Hugo
Riemann im Jahre 1901 eine Sichtweise voller Widersprüche fest. Bezüglich des
Instrumentalwerkes beruft Riemann sich zwar auf Robert Schumanns Eloge vom
"Mozarts unseres Jahrhunderts", brandmarkt andererseits aber "Weichlichkeit und
Sentimentalität" der "im kleinen Rahmen" der Hausmusik verdächtig erfolgreichen
musikalischen Aussage Mendelssohns, welchen Wagner in seinem zuvor als
"überscharf" und "ungerecht" eingestuften Pamphlet dankenswerterweise Einhalt
geboten habe.
Darüber hinaus trägt Riemanns Beurteilung der Tendenz romantisierenden Musizierens
jener Tage "vermittels starker Verbreiterung der Tempi, agogischer Verzögerungen in
den Kadenzen" (K.-H. Köhler) keinerlei Rechnung. Jene ließen durch Überbetonung
chromatischer Stilistiken in Melodieführung und Harmonik die Musik Mendelssohns
fernab kompositorischer Absicht sentimentalisiert-persiflierend erklingen. Riemanns
Einschätzung prägte gleichsam als Kathederwort die Mendelssohn Rezeption innerhalb
der deutschen Musikwissenschaft für Jahrzehnte.
15. Denkmäler
Im Jahre 1868 trat in Leipzig anlässlich des 125 jährigen Bestehens der
Gewandhauskonzerte und der 25 jährigen Gründungsfeier des Konservatoriums ein
Komitee für „die Errichtung eines dem Gedächtnis Felix Mendelssohn Bartholdys
57
gewidmeten Denkmals“ erstmalig zusammen. Es eröffnete damit ein wenig rühmliches
Kapitel in der Beziehung dieser hochrangigen Musikstadt zu ihrem entschiedensten
Mentor.
Da es sich um eine Privatinitiative Leipziger Honoratioren handelte, standen keine
öffentlichen Mittel für Planung und Durchführung des Projektes zur Verfügung, dessen
Kosten auf 45000 Taler veranschlagt wurden. Der Vorstand des Komitees stellte daher
einen Finanzplan auf, welcher vorsah, die Summe u. a. durch die Erträge lokal und
überregional ergehender Spendenaufrufe sowie durch die Veranstaltung von
Benefizkonzerten und Vermögensveranlagungen aufzubringen. Spendenaufrufe wie
jener wurden somit in der regionalen und überregionalen Presse als repräsentative
Annonce abgedruckt:
„Das Interesse für den Mann, dem die ganze musikalische Welt zu so großem Dank
verbunden ist, findet also seinen Mittelpunkt in dem Leipziger Leben des Künstlers und
Menschen, dessen Bedeutung die Nachwelt durch ein dem Wirken desselben
angemessenes Denkmal zu würdigen die Pflicht hat.
Um diese längst erkannte Ehrenschuld abzutragen, sind die Unterzeichneten zu einem
Verein zusammengetreten und fordern alle Freunde des Meisters auf, in
zweckdienlicher Weise die beabsichtigte Errichtung einen Felix Mendelssohn-Bartholdy-
Denkmals in Leipzig fördern zu helfen. Insbesondere werden Chor-Gesellschaften und
Gesangsvereine ersucht, zu dem angegebenen Zwecke Aufführungen zu veranstalten
und den Ertrag derselben an den unterzeichneten Verein einsenden zu wollen".
Die Finanzierung des Vorhabens vollzog sich schleppend; im Verlaufe eines 24 jährigen
Prozesses von der Stiftungsinitiative bis zur Denkmalseinweihung offenbarte sich ein
trübes bürgerliches Klima, welches die einstmals liberale Bürgerstadt Leipzig
zunehmend prägte.
Am Ende dieses quälenden Vorgangs war deutlich, das der Zeitgeist die Verbundenheit
der lokalen Bürgergesellschaft einem wesentlichen Repräsentanten großbürgerlicher
Kultur gegenüber aufgekündigt hatte und sich einer vom Komitee per Annonce
konstatierten „Ehrenschuld“ nicht mehr bewusst war.
Im Jahre 1869 waren erst 1400 Taler eingegangen, welche sich kaum aus
Bürgerspenden zusammensetzten, vielmehr von der vereinsnah einzuschätzenden
Konzertdirektion des Gewandhauses und Erlösen eines Benefizkonzertes eingebracht
wurden.
Die vollständige Abkehr des Leipziger Publikums vom Werke Mendelssohns in den
70ziger Jahren verdeutlicht kaum eine Begebenheit trefflicher als jene: Hans von Bülow
absolvierte im Jahre 1872 als Pianist eine Tournee, welche von Berlin über Warschau,
Hamburg, Hannover und Düsseldorf bis nach Aachen zahlreiche deutsche Städte
umfasste. In Berlin und Leipzig gab von Bülow jeweils einen dem Klavierwerke Felix
Mendelssohns gewidmeten Konzertabend. Frithjof Haas schreibt dazu in seiner von
Bülow-Biographie: "Zu seiner (von Bülows) grossen Enttäuschung hatte der Komponist
seit seinem Tod gerade in Leipzig, dem Ort seines Wirkens, an Beliebtheit verloren. In
der Presse war zu lesen, kein Pianist außer von Bülow könne es heute wagen, zwei
Stunden lang nur Mendelssohn zu spielen!"
58
Die darauf folgenden Jahre führten zu keinem erhöhten Stiftungsaufkommen aus der
Stadt Leipzig selbst heraus, vielmehr engagierten sich Musikliebhaber aus ganz
Deutschland vermittels Personenspenden oder Benefizinitiativen. Sogar in den
Metropolen London und Paris wurden durch Benefizkonzerte Gelder zugunsten des
Denkmals eingeworben. Ein betrüblicher Aspekt am Rande der Konzertinitiativen
zugunsten eines Denkmals des Komponisten ist zweifellos, daß erst jene auch dessen
Musik wieder stärker in den Vordergrund zu stellen vermochten.
Der Hausverlag Felix Mendelssohns, das renommierte Unternehmen Breitkopf & Härtel
suchte im Jahre 1875 helfend einzugreifen und publizierte eine Sonderbeilage. Diese
wurde allen Neuauflagen der Kompositionen Mendelssohn beigefügt und warben im
Namen des Komitees um Zuwendungen.
Im Jahre 1878 entspann sich ein Presseeklat in Leipzig um die Arbeit des Komitees und
brachte das lokale Spendenaufkommen vorerst vollends zum versiegen. Die Presse
thematisierte dabei u. a. den merkwürdigen Umstand, dass die dem Komitee
verpflichteten Honoratioren zwar allenthalben um Gelder warben, selbst aber bisher
nichts dem Fond beigesteuert hatten.
Angesichts dessen nimmt es nicht verwunder, daß Felix Mendelssohn Bartholdy die
erste Gedenkstätte denn auch anderwärts errichtet wurde; es entstand bereits im Jahre
1860 in England, wo die Bürger der Stadt Snydenham ein Standbild des Komponisten
auf der Terrasse des dortigen Kristallpalastes errichteten.
Waren es Ende der 60ziger Jahre des 19 Jahrhunderts noch Gründe verminderter
Wahrnehmung des Komponisten aufgrund der von der Neudeutschen Schule
geschürten Querelen um dessen Musik, lässt sich das Desinteresse der 70ziger und
80ziger Jahre eindeutig auf den unverhohlenen Judenhass zurückführen, welcher sich
der Bürgerschaft zunehmend bemächtigte. Leipzig sollte sich in jenen Jahren zu einer
Hochburg geistigen Antisemitismus entwickeln, welcher sich von der diffus
protorassistischen Antipathie der Revolutionsjahre nunmehr zur Reinform erklärten
Rassenhasses der Gründerzeit ausprägte. Publikationen, welche unter Antisemiten
reichsweit als Standardlektüre galten, wurden in Leipzig konzipiert und verlegt.
Ines Reich hat mit ihrem Beitrag "In Stein und Bronze – Zur Geschichte des
Mendelssohn-Denkmals" zum 1. Leipziger Mendelssohn-Kolloquium von 1993 den
Gesamtvorgang Denkmal hervorragend dargestellt. Sie schreibt so u. a.:
„Die Gartenlaube“, ein Massenblatt kleinbürgerlicher Belehrung und rührenden
Familiensentiments, wurde in Leipzig herausgegeben und bot der Leserschaft u. a. auch
eine Fortsetzungsserie antisemitischer Aufklärung. Diese legte dem Publikum
beispielsweise dar dass, "die soziale Frage (...) im wesentlichen eine Judenfrage (sei),
alles übrige ist Schwindel.“ Theodor Fritsch, ein führender Publizist und Ideologe des,
als alleinigen „Zweck seines Lebens“ erachteten deutschen Antisemitismus, betrieb
von Leipzig aus die Geschäfte des Hammer-Verlages. Publikationen waren u. a. „Der
falsche Gott“, "Das Rätsel des jüdischen Erfolges“, „Mein Streit mit dem Hause
Warburg“, Die Sünden der Grossfinanz“; "Anti-Rathenau“. Mit dem im Jahre 1887
herausgegebenen Antisemiten-Katechismus; welcher später zu einem Handbuch der
Judenfrage expandieren sollte, versorgte der Hammer-Verlag die antisemitische
Bewegung Deutschlands von der wilhelminischen Ära bis hin zum Anbruch des "III.
Reiches" mit oftmals von Fritsch in Personalunion von Autor und Verleger vorgelegten
Bekenntnis- und Glaubensschriften.
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Frau Reich führt zum Beweis ihrer schlüssig vertretenen Theorie dezidiert ausgeprägten
Leipziger Lokalantisemitismus der 70ziger und 80ziger Jahre des 19. Jahrhunderts
Fakten heran, welche für sich sprechen: Andere Vorhaben, welche vergleichbar auf die
Spendenbereitschaft Leipziger Bürger reflektierten, kamen wesentlich zügiger voran. So
wurden im Jahre 1883 „recht hohe Summen“ für die Errichtung eines Leibnitz-Denkmals
sowie einer Reformationsgedenkstätte zum Gedenken an das Wirken Dr. Martin Luther
mit „verblüffender“ Schnelligkeit zusammengetragen.
Ein weiterer charakteristischer Vorfall ließ dass das Benehmen der Leipziger
Bourgeoisie, sich vom Stande emanzipierten jüdischen Grossbürgertums abzusetzen,
welchem ja auch die Familie Mendelssohn seit Jahrhundertbeginn angehörte,
demonstrativ erkennen.
Der in den Jahren 1882 – 1884 konzipierte und ausgeführte klassizistische
Repräsentationsbau eines neuen "zweiten" Gewandhauses wurde durchaus auch als
Mittelpunkt großbürgerlicher Selbstdarstellung im Allgemeinen wie individuellen
aufgefasst.
Er umfasste geschätzte Baukosten von 900 000 M und wurde nachhaltig von
Zuwendungen großbürgerlicher Familien finanziert, welche für ein Denkmal
Mendelssohns kaum aufkamen. Dies geht aus damaligen Spendenverzeichnissen
eindeutig hervor.
Um das Denkmalsvorhaben angesichts des Klimas latenten Antisemitismus nicht
dauerhaft zu gefährden, suchte das Komitee, dem auch prominente jüdische
Persönlichkeiten aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mendelssohns wie Ignaz
Moscheles und Ferdinand David sowie Salomon Jadasson angehörten, jedem Anschein
offizieller jüdischer Partizipation vorzeitig zu wehren. Somit kam eine Zusammenarbeit
mit der renommierten Mendelssohn-Stiftung zur Förderung begabter Pianisten und
Dirigenten, welche im Jahre 1863 von der Jüdischen Gemeinde ins Leben gerufen
wurde und bis 1933 bestand, nicht zustande.
Im Jahre 1889 – nach nunmehr 20 Jahren – waren schliesslich 40000 Taler
zusammengetragen, welche zur endgültigen Durchführung noch nicht ausreichten.
Das Komitee wandte sich mit der Bilanz an die Öffentlichkeit und beklagte dabei: "daß
die eingegangenen Beiträge ungefähr „zur Hälfte“ von auswärtigen Corporationen und
Privatpersonen eingesandt“ worden seien. Die fehlenden 5000 Taler wurden schliesslich
von der Stadtverwaltung beigesteuert.
3 Jahre später, am 26. Mai 1892, wurde das Denkmal, gleichsam die Erinnerung an
einen ungeliebten „Judensohn“ der Stadt, feierlich eröffnet. Die Honoratioren stellten
sich ein und hielten der Pflicht, dem Dank und der Tugend emphatische Laudates,
welche hinsichtlich einer wahrhaft fatalen Sammlungshistorie von 40000 Taler keinen
besonderen Kommentar benötigen:
„Leipzig möge es – und sie wird es behüten in Bestätigung des Dankes, welchen unsere
Stadt Ihm schuldet, dessen Namen wir nennen in Liebe und Verehrung“ (Leipziger
Tagblatt, Morgenausgabe, 27.5.1892) verkündete Otto Günther, der Vorsitzende des
Komitees und damalige Direktor des Konservatoriums.
60
„Mit der Vollendung dieses Denkmals ist uns nun das drückende Gefühl vom Herzen
genommen, dass dem Manne, der uns so großes und Schönes gegeben hat, das
verdiente äußere Zeichen unvergänglichen Dankes noch nicht gewidmet sei. Dieses
Gefühl der Dankesschuld hat unsre Stadt auch als Gemeinwesen empfinden müssen
(...)
Die Stadt wird es sich deshalb auch, daran zweifle ich nicht, stets zur Ehrensache
machen, dieses Denkmal würdig zu erhalten, und ich nehme daher die mir
ausgesprochene Übergabe im Namen der Stadt und im ausdrücklichen Auftrag des
Rates mit herzlichen Dank hiermit an...“ (Otto Georgi; Reden und Ansprachen des
Oberbürgermeisters...; Lpz. 1899) beschwor Oberbürgermeister Georgi das
beiderseitige Vermächtnis.
Im Inneren des Gewandhauses, welches bereits seit nahezu zehn Jahren errichtet
stand, ehrte man Mendelssohn musikalisch. Auf der Violine, mit einer Interpretation des
erhabenen Konzertes Op. 64 legte der einstige Weggefährte Joseph Joachim ein wohl
wahrhaftigeres Plädoyer für den Mann des Tages ab.
Danach schwand das Denkmal aus dem Blickfeld allgemeiner öffentlicher
Wahrnehmung. Zwei kriminelle Gewaltakte, welches zum einen in den 20ziger Jahren
und zum anderen im Jahre 1936 des vergangenen Jahrhunderts auf den Bestand
desselben abzielten, brachte es einzig nachhaltiger in Erinnerung.
16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...
Um 1879 herum prägte sich in den chauvinistischen Gesellschaften der bourgeoisen
Berliner Intelligenz die Moderne völkisch-rassistischen Antisemitismus endgültig heraus,
welche sich im 20. Jahrhundert schliesslich vermittels „Reichskristallnacht“, Deportation
und Genozid nachhaltig manifestieren sollte. Auch der neuzeitliche Begriff des
„Antisemitismus“ definierte sich erst in der um den Berliner Geistlichen Wilhelm Marr
entstandenen Gesellschaft und fand somit 1879 Eingang in die Allgemeinsprache.
Ab ca. 1880 fanden anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und
Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau über den Bayreuther Kreis um Richard
Wagner und nach dessen Tode um Cosima Wagner, den Schwiegersohn Houston
Stewart Chamberlain sowie Wagner Biograph Carl Friedrich Glasenapp verstärkt
Aufmerksamkeit in Deutschland. Gobineau hatte bereits in den Jahren 1853 -55 den 4bändigen
Essay "sur l`inegàlité des races humaines" herausgegeben, welcher die elitäre
Bevorrechtigung der „Arier“-Rasse und sozialdarwinistische Moralvorstellungen
konstatierte sowie die Vernichtung des „Weissrassigen“ durch Blutvermengung
vermittels Geschlechtsverkehr mit „Fremdrassigen" prophezeite. Der Essay war in
Deutschland bereits ab dem Jahre 1856 in einer Bearbeitung durch den Philologen
August Friedrich Potts unter dem Titel "Die Ungleichheit menschlicher Rassen;
hauptsächl. vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter bes. Berücks. von d.
Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke"; Lemgo 1856 ff. verfügbar.
Der Rassenfanatiker Houston Stewart Chamberlain paraphrasierte Gobineaus Theorien
in zahlreichen Schriften. So bestritt er im Hauptwerk seiner Rassenveranschaulichungen
"Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" vehement: „die Wahrscheinlichkeit das Jesus
(k)ein Jude war“ und behauptete ferner „das er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in
61
den Adern hatte“; es käme vielmehr der Gewissheit gleich „das Jesus Christus... der
jüdischen Rasse nicht angehörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere
Behauptung bedeutet eine willkürliche Annahme,“
Jens-Malte Fischer erweitert die Sicht auf Chamberlain und seine diversen
antisemitischen Umtriebe in seiner Studie über Wagners „Das Judentum in der Musik“
folgendermaßen „Der Schwiegersohn Wagners, Houston Stewart Chamberlain, widmete
der Broschüre („Das Judentum in der Musik“; Anm. d. Verf.) in seinem Wagnerbuch, das
1895 erschien, hochtrabende Worte der Bewunderung:
Chamberlain schreibt also:
„Dagegen hat ein anderes Rassenthema Wagner von früh an viel beschäftigt: der
demoralisierende Einfluss einer dieser weißen Rassen auf die anderen, des Judentums
auf die nichtjüdischen Völker. Wagners Judentum in der Musik erschien zuerst 1850 in
Brendels Neue Zeitschrift für Musik; sodann als selbstständige Broschüre und mit
ausführlichen Vorrede versehen im Jahre 1869. Keine Schrift des Meisters ist vielleicht
– wenigstens dem Titel nach – so bekannt: der Ausdruck Verfasser des Judentums in
der Musik“ ist eine der beliebtesten Umschreibungen für „Richard Wagner“ (zitiert nach
der 3. Auflage bei Bruckmann 1904).
Darüber hinaus war Chamberlain ein führendes, maßgebliches Mitglied im Bayreuther
Kreis; eine Gruppe von Demagogen um Cosima und Winifred Wagner, welche sich
gänzlich dem Erhalt der Reinrassigkeit von Wagners musikdramatischen und
antisemitischen Ideologien im Bannkreise Wahnfrieds widmete.
Weitere Publikationen Chamberlains sind:
Rasse und Nation / von H. St. Chamberlain München : Lehmanns, 1918
Rasse und Persönlichkeit : Aufsätze / von Houston Stewart Chamberlain Aufsätze
München : Bruckmann. - 200 S
Arische Weltanschauung / Houston Stewart Chamberlain. -4. Aufl. München :
Bruckmann, 1917. - 94 S.,
Dilettantismus -Rasse -Monotheismus -Rom : Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen
des 19. Jahrhunderts / Houston Stewart Chamberlain, München : Bruckmann 1899
Im Jahre 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Premierleutnant
Liebermann von Sonnenberg als Repräsentanten der „deutsch-sozialen Partei“ die
Verbreitung einer antisemitischen Petition an Reichskanzler Otto von Bismarck. Diese
beklagte die Schädlichkeit der jüdischen Rasse für die Wohlfahrt und Kultur des
deutschen Volkes und forderte die Eliminierung der Juden aus Staats-und Schuldienst,
Zensus der jüdischen Bevölkerung und Einwanderungsbeschränkung. Sie wurde in
Berlin von 250 000 Bürgern unterzeichnet.
Im Jahre 1889 fand die neugotische Umgestaltung der Thomaskirche in Leipzig ihren
Abschluss. Im Zuge dessen waren farbige, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte wie
Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Gustav Adolph von Schweden zugeeignete
Memorialfenster ausgeführt worden. Auch der Bachrestaurator und
Gewandhauskapellmeister Mendelssohn sollte ursprünglich gewürdigt werden.
62
Doch bald erhob ein sog. „Deutscher Reformverein“ seine Stimme so vehement gegen
das Vorhaben, „einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen“, das die
Realisierung des Mendelssohn-Fensters unterblieb. Erst das Jahr 1997 ließ das
Vorhaben, dank einer Schenkung der ehemaligen Thomasschüler Wolfgang und Klaus
Jentzsch, Wirklichkeit werden.
In den 90ziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch vom Auslande her erhebliche
Ressentiments von prominenter Seite in die Mendelssohn-Rezeption eingebracht.
George Bernhard Shaw war nicht nur ein bedeutender Dramatiker des europäischen
Theaters; er hatte sich mit der Zeit auch zu einem rückhaltlosen Bewunderer des
Wagnerschen Musik-Dramas und Verfechter Wagnerscher Kathederlehren entwickelt
und erwies sich antisemitischen Tendenzen gegenüber keineswegs verschlossen. Dem
grossen Vorbilde publizistisch entsprechend, betätigte sich auch Shaw als Autor
musikkritischer Rezensionen, welche unter dem Pseudonym „Corno di Bassetto“
herausgegeben wurden. Der bezüglich Mendelssohn-Rezeption gepflogene Ton war ein
herablassender, von jener Art beißender Häme, wie sie jedwedem Dilettantismus
viktorianischer Snobs in den Bühnenwerkens Shaws stets gewidmet ist.
Auch hier liegen die Gründe offensiver publizistischer Negierung von Mendelssohns
Ansehen im außermusikalischen, im Bereich gesellschaftskritischer Hinterfragung
repräsentativen Viktorianismus, auf welchen Shaw das Wirken des Komponisten
nachhaltig zu reduzieren trachtete.
Im Juli 1894 erschien in den Vereinigten Staaten von Amerika – in New York – im „The
Centuary Illustrated Monthly Magazine“ ein umfangreicher Aufsatz über Leben und
Wirken des großen Franz Schubert, den der gerade in Amerika weilende tschechische
Komponist Antonin Dvorak zusammen mit dem Publizisten Henry T. Finck geschrieben
hatte. Dvorak spart bei dem Bemühen, Schuberts allgemeine und besondere
Verdienste um die Symphonie darzulegen, nicht mit einigen Seitenhieben gegen Felix
Mendelssohn. Dabei war der stets im Stande der persönlichen und musikalischen
Integrität weilende Dvorak sicherlich kein expliziter Mendelssohn-Gegner und dies
schon gar nicht aus Gründen von Antisemitismus. Ob Dvorak als Zeitgenosse und
Gefolgsmann von Johannes Brahms dem demagogischen Bestreben der Neudeutschen
Schule und denen Kampagne gegen Mendelssohn eher fern stand, ist fraglich. Dass er
sich dennoch negativ über Mendelssohn geäußert hat, beweist nur mehr, dass er sich
auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe einer allgemein gegen Felix Mendelssohn
gerichteten Geringschätzung bewegte.
Dvorak schreibt also:
„In seiner (Schuberts) Kammermusik wie in seinen Symphonien finden wir häufig
wunderschöne Beispiele für polyphones Schreiben – siehe zum Beispiel die Andante
-Sätze des C-Dur-Quintetts und des D-Moll-Quartettes -,und obwohl seine Polyphonie
von der Bachs oder Beethovens verschieden ist, ist sie deshalb nicht weniger
bewunderungswürdig. Mendelssohn ist ohne Zweifel ein größerer Meister der
Polyphonie als Schubert, trotzdem ziehe ich Schuberts Kammermusik der Mendelssohn
vor.
Und dann wird Dvorak im Tonfall eindringlicher und aggressiver: „Auch von Schuberts
Symphonien bin ich ein enthusiastischer Bewunderer, so dass ich nicht zögere, ihn
neben Beethoven zu stellen, weit über Mendelssohn (..) Mendelssohn besaß etwas von
63
Mozarts natürlichem Instinkt für Orchestrierung und von dessen Begabung für die Form,
aber vieles in seinem Werk hat sich als vergänglich herausgestellt“. Dvorak war wohl
der Friedrich Nietzsche nahe stehenden Meinung, das Mendelssohn ein Zwischenfall,
ein bereits von der Zeit überwundener Komponist war, dessen musikalische Mittel als
veraltet und überholt einzuschätzen seien.
Gleichsam in den 90ziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts zeichnet der
impressionistische Lyriker Detlev von Liliencron, vor ähnlichem Hintergrunde wie Shaw,
im Gedicht Reinigung die Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piècen
kleinbürgerlich-bildungsbeflissener Zerstreuung jüdischen Namens, dessen Vorbild
damals wie heute leicht zu erkennen ist:
"Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,
der lange Leutnant mit dem Ordensbändel;
das alte Fräulein brütet Rätseleier,
besorgt den Tee und duftet nach Lavendel.
(...)
Weh mir, wie langsam schwingt der Abendpendel!
Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,
und bade mich daheim in Bach und Händel".
In seiner "Illustrierten Geschichte der Musik" aus dem Jahre 1903 dokumentiert der
Musikwissenschaftler Otto Keller folgerichtig die Geringschätzung jener Jahre
anschaulich:
”In den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber
Mendelssohn hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und
trotzdem liegt in dieser Musik etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein
schöner Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine
Leidenschaften auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine
Klavierwerke gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter
Salonmusik heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer
Lebenslauf war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart,
man darf sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in den
Werken zum Ausdruck kam”.
17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...
Im darauf folgenden Jahr legte die Muthsche Verlagshandlung in Stuttgart eine
Geschichte der Musik vor, die der Musikpublizist Dr. Karl Storck in
populärwissenschaftlichem, spürbar subjektivem Tonfall verfasst hatte. In der
repräsentativen Ausstattung vermittels Jugendstilprägung des Einbandes und
graphisch-allegorischer Textillustration sowie hinsichtlich eines Textumfanges von über
800 Seiten ist er der Illustrierten Geschichte der Musik Otto Kellers vergleichbar. Dr.
Storck trat des Weiteren auch noch als Verfasser von Opernführern hervor, welche bis
in die 40ziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachgedruckt wurden.
64
Storcks Referat über Leben und Musik Felix Mendelssohns setzt in der
Rezeptionsgeschichte inhaltlich keine neuen qualitativen Maßstäbe in negativer
Hinsicht; es wird lediglich der Katalog einschlägiger Stereotypen erneut repetiert.
Formell sprengt der entschieden polemische Tonfall Storcks allerdings den bis dahin
von einer um Seriosität bemühten Musikpublizistik vorgegebenen Rahmen. In Zeiten
nationaler Erhebung 10 Jahre vor dem Ersten Grossen Kriege verfällt Storck in eine
Sprechweise, deren Zielrichtung dezidierter Polarisierung sich erst in den Jahren ab
1933 vollendet herausbilden sollte. Des Weiteren stechen der Hang zu unausgesetzt
aufgestellter spekulativer Behauptung sowie gleichermaßen die Formulierung in der
negativen Superlative hervor.
Erwägungen wie jener Abgleich der Elemente Felix Nomen est Omen, früher Tod und
die Prophezeiung eines unzweifelhaften, gegebenenfalls noch in den Reife-und
Altersjahren Mendelssohns, also noch zu Lebzeiten erfolgenden Niedergangs seines
Renommees führen Storcks Darlegungen schliesslich in die Bereiche des Zynismus.
All dies versetzt nicht allein Storcks publizistisches Wirken insgesamt in ein
fragwürdiges Licht. Die unrezensierte Reflektion desselben in einem opulent
aufbereiteten bildungsbürgerlichen Musik-Familienhausbuch vermittelt eindringlich den
Geist, welcher die Jahre vor dem 1. Weltkriege zu prägen schien. Ob Dr. Storck dabei
von subjektivem Widerwillen gegen Person und Tonsprache Mendelssohns oder
antisemitischer Ereiferung angeleitet wurde, muss dabei offen bleiben.
Hier nun Storcks Mendelssohn-Vortrag in Auszügen.
Zu Werdegang und Rezeption:
"Zum Kreis der Romantiker wird auch Felix Mendelssohn-Bartholdy gerechnet. Ich
möchte da von einer Romantik aus Bildung sprechen. (...) Unsere deutsche
Kunstgeschichte wird überhaupt unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen
Mann nennen können, dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von
problematischem zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, (...) wenn es nicht
leider Oberflächlichkeit bedeutete. Es werden immer wieder bei den ja recht selten
gewordenen Aufführungen Mendelssohnscher Werke Stimmen laut, die eine
Neubelebung seiner Kunst erhoffen. Im Ernst kann man daran kaum glauben, so leicht
begreiflich es auch ist, daß man (...) seine einfachen und auf das vornehme
Gesellschaftsleben abgestimmten Werke als Erholung empfinden kann. (...)
Zum Elternhause:
Felix Mendelssohn ist ein Enkel des jüdischen Reformators und Philosophen Moses
Mendelssohn (...). Es war schon dem Philosophen gelungen, aus der Armut zum
Reichtum zu gelangen, und unseres Felix Vater hatte den so vermehrt, daß er 1809 in
Berlin das noch heute blühende Bankgeschäft gründen konnte. (...) Keine Mühe, keine
Kosten wurden gescheut, jegliche Gabe, die sich bei dem Kinde zeigte, aufs sorgsamste
auszubilden(...)
Zum "Felixissimus":
Am 4. November 1847 erlag er einem Nervenschlag. Von künstlerischem Standpunkt
aus könnte man wohl sagen, daß auch in diesem frühen Tode sein Vornahme "Felix" die
glückliche Bedeutung für sein Leben behielt. Denn es wäre Mendelssohn kaum erspart
geblieben, daß er seinen Ruhm wohl bald überlebt gehabt hätte. (...)
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Zu Werk und Musik:
Mendelssohns größtes Verdienst liegt zweifellos in seiner Hebung des öffentlichen
Konzertlebens; durch ihn sind die Werke der Klassiker in den Mittelpunkt desselben
gerückt worden. (...) Doch zeigt sich auch in dieser Tätigkeit die Schwäche
Mendelssohns, die freilich akademischen Naturen gar als Vorzug erscheinen mag.
Mendelssohn ist immer und überall der wohlerzogene Sohn des wohlhabenden, auf den
äußeren "Dekor" in jeglicher Lebenslage bedachten Hauses.
Wäre nicht die gründliche Bildung, man würde den Mangel jeder überschäumenden
Kraft, jedes persönlichen Hervortretens noch viel störender empfinden. Denn darüber
muss man sich klar sein: Mendelssohns Ruhe und Abgeklärtheit ist nicht die Ruhe nach
dem Sturm, sondern die eines Mannes, dem das äußere Leben jeden Kampf ersparte,
der auch innerlich niemals zum Ringen kam. (...) Sein Gefühl für das Volkstum blieb
doch recht äußerlich, was schon die Tatsache zeigt, daß Schumann in der schottischen
Symphonie die italienische vermuten konnte. Das Schaffen Mendelssohns ist doch im
Wesentlichen formal.
Der Inhalt (...) ist nirgends stark, aber es entsteht bei diesem gebildeten Mann doch
auch nie eine wirkliche Leere. Wie äußerlich sein Verhältnis zur Form aber doch oft war,
zeigt die Übernahme des Erzählers und des Gemeindechorals aus der alten Passion ins
Oratorium (...) wogegen in der Musik zur "Antigone" und dem "Ödipus" das
schwächliche Philologentum, wie man es geradezu nennen könnte, gegenüber dem
gewaltigen Empfindungsgehalt der Antike arg zurückbleibt.
Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten
Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregtenangesichts dessen wiederum nur Befremden in der europäischen Öffentlichkeit. Ernest
Walker kommentiert im "Manchester Guardian" vom 3. Februar 1909:
”Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß
sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und
unwahre Mittel gerettet würde.”
18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn
Die späten 90ziger Jahre, die Jahrhundertwende, aber auch die Jahre bis in die
Weimarer Republik hinein, brachten nichtsdestotrotz vermehrt Plädoyers namhafter
Persönlichkeiten kulturellen Lebens zugunsten Mendelssohns mit sich. So engagierten
sich die Komponisten Max Reger, Camille Saint-Saens, Ferruccio Busoni, und Alfredo
Casella, die Dichter Theodor Fontane und Romain Rolland, die Musiker Johannes
Brahms und Hans von Bülow, der der Musikwissenschaftler und Intendant des
Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker, der Musikhistoriker Heinrich Schenker sowie
der erste, quellenkritisch herangehende, seriöse Biograph Mendelssohns Ernst Wolff für
die ästhetische Neubewertung eines "feinsinnige(n), gemütswarme(n), grosse(n)
Meister(s)", der "fast vergessen, jedenfalls total unterschätzt wurde und wird" (Reger).
Max Reger empfahl des weiteren “all den verwirrten (...) jungen Übermenschen, bei
denen Musik überhaupt erst beim achten Horn, beim vierfachen Holz, bei
vierundsechzig Schlaginstrumenten (...) beginnt” eingehendere Beschäftigung mit “der
Vollendung des klaviertechnischen Materials” und “der absolute(n) Beherrschung des
musikalisch-formellen Elements” (Wirth, Max Reger, Reinbek 1973) Mendelssohnscher
Kompositionen.
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Der Musikpublizist Adolf Weißmann befreite die musikalische Entwicklung Richard
Strauss und Max Regers aus dem übermächtigen Einflussbereich Wagners, in welchem
öffentliche Wahrnehmung sie bislang ansiedelte und führte den musikalischen Ursprung
derselben wieder stärker den eigentlichen Vorbildern Felix Mendelssohn und Johannes
Brahms zu.
Paul Bekker wiederum erkannte Felix Mendelssohn den Rang eines selbständigen
Nachfahren Beethovens zu.
Busoni ehrte Felix Mendelssohn nicht nur als ”einzigen wahren Schüler Mozarts neben
Rossini und Cherubini”. Mit dem formal-komplex polyphonen Tondrama Dr. Faust hatte
Busoni ein epochales Werk früher Moderne unvollendet hinterlassen und sich parallel
dazu, gegen Ende seines Lebens, die ”seichte Salonmusik” der "Lieder ohne Worte" zu
erneutem, intensivem Studium vorgelegt.
Die Jahre des 1. Weltkrieges; die Ernüchterung unabsehbar fortdauernden
Kriegsschreckens, brachten hingegen vermehrte Abkehr von allzu heroischsimplifizierenden
kulturellen Nationalismen in der Musik und auf der Bühne. Nicht von
ungefähr reduzierte sich somit auch die Aufführungszahl des bislang stilistisch
dominierenden Wagner-Werkes erstmals auf einen Gleichstand innerhalb gewohnten
Mischrepertoires.
19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur
Der Komponist und Musikpublizist Max Chop, seinerzeit als Liszt-Autorität gewürdigt,
wurde Musikfreunden unserer Zeit hauptsächlich durch historische Veröffentlichungen
innerhalb der traditionsreichen Universal-Bibliothek des Hauses Reclam geläufig. In den
Jahren 1900 bis ca. 1920 legte er zahlreiche fundiert recherchierte Einzelstudien von
Standardwerken des Opernrepertoires und Komponistenbiographien vor. Ob ihm im
Zuge dessen auch die Erarbeitung eines Felix Mendelssohn-Portraits übertragen wurde,
wäre noch herauszufinden, aber keineswegs zu hoffen.
Ein von Max Chop im Jahre 1916 erstveröffentlichter Führer durch die Musikgeschichte
zumindest entwickelt bereits in der komprimierten Behandlung des Sujets einschlägig-
perfide Dialektik von neuer unvermuteter Qualität.
Der Wagnerianer Chop sucht die Person, den Menschen Felix Mendelssohn
nachhaltig zu minimieren, um – quasi vermittels eines Phänomens umgekehrter
Relativierung – das Idol des Musikdramatikers daran ins unermessliche zu erheben.
Nach dem klug disponierten Verweis auf Parteienstreit und musikalisch indifferente
Diffamie greift Chop selbst sogleich zu der zuvor angeprangerten Methodik.
Originäre Qualität entwickelt dabei eine Praxis inkriminierender Verfälschung
biographischer Fakten, Verkürzung und Umkehrung von Zusammenhängen, ja fiktiver
Behauptungen: musik-“wissenschaftlicher“ Methoden also, welcher sich einzig der
Nationalsozialismus noch vergleichbar bedienen sollte.
Daher seien für diesmal den demagogischen Wendungen auch Verweise auf die
eigentliche biographische, musikhistorische Sachlage entgegengestellt.
67
Das von Chop nachfolgend imaginierte Zerrbild eines kleinlichen, eifersüchtigen, eitlen
Musikfunktionärs, das beim zeitgenössischen Leser massiv hervorgerufene
Ressentiment gegenüber der Person des Komponisten, negiert die im Anschluss
dargelegte verhaltene, um Differenzierung bemühte, stellenweise bewundernde
Sichtweise auf dessen Musik denn auch erheblich.
„Die künstlerische Persönlichkeit (...) Felix Mendelssohns sachlich zu erörtern, ist (...)
eine nicht eben leichte Aufgabe, weil der Streit der Parteien und Meinungen schärfer
denn je um die Werke und deren ästhetische Werte entbrannt ist“. (...) Ohne Frage hat
(...) die tendenziöse Mache und Propaganda gewisser Kreise der ruhigen Abwägung
viel geschadet (...), indem (das ästhetische Sentiment) Mendelssohn gegen die
neudeutsche Kunst ausspielte und seine Stellung Wagner gegenüber ihm (...) zum
Vorwurf (machte). Gewiss: Mendelssohn liebte Wagner durchaus nicht, vielleicht, weil er
von der ersten Bekanntschaft (...) an, das ihn selbst in seiner Machtstellung
gefährdende, kunstrevolutionär gesonnene Genie erkannte.
Er dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause als „warnendes
Beispiel“ (...) und tröstete den Komponisten des „Fliegenden Holländers“ bei der
Dresdner Erstaufführung des Werkes durch den etwas schadenfrohen Zuspruch: Er
könne ganz zufrieden sein mit der Aufnahme, denn sie sei ja, alles in allem, kein
vollständiges Fiasko gewesen".
(Mendelssohn wohnte der Berliner Premiere des „Holländers“ im Januar 1844 bei und
„kam nach der Vorstellung auf die Bühne, umarmte mich und gratulierte mir sehr
herzlich.“ Richard an Minna Wagner; 8.1.1844)
"Indessen lagen solche Äußerungen in einer menschlichen Schwäche begründet, die
von jeher bei Musikern und Tondichtern fruchtbaren Boden gefunden hat. (...)
Mendelssohn (...) konnte es nicht verwinden, einen Künstler neben sich zu sehen, der
die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm auf sich selbst ablenkte. Selbst für Robert
Schumann hatte er kaum ein freundliches Wort übrig,
(Uraufführung der 1. „Frühlings“-Symphony und der 2. „C-Dur“-Symphony Schumanns
durch Felix Mendelssohn im Gewandhaus)
Chopin bespöttelte er als „Chopinetto“ , Liszt war ihm gänzlich unsympathisch und
Berlioz nannte er „eine vollständige Karikatur ohne einen Funken von Talent“.
(Den Zeitgenossen Schumann, Wagner und Brahms vergleichbar sind ästhetische
Vorbehalte Mendelssohns gegen andere musikalische Auffassungen selbstverständlich
schriftlich belegt; Chopin, Liszt und Berlioz waren in den Jahren 1840 und 1843 als
Interpreten eigenen Repertoires Gäste des Gewandhauses. Integrität, menschliches,
musikalisches sowie -im Falle des Gewandhausskandales um Franz Liszt nahezu
extraordinär erwiesenes – organisatorisches Engagement des Gastgebers Felix
Mendelssohn sind jeweils in fundierteren Biographien und Autobiographien der
Genannten nachgewiesen.)
(...) Zwischen beiden (Wagner und Mendelssohn) bestand der (...) Unterschied, daß der
eine das (...) künstlerische Vermächtnis eines Bach, Händel, Beethoven (...) sich zu
68
eigen gemacht hatte, ohne (...) Konsequenzen in einem dem Zeitgeiste angepassten
Sinne zu ziehen, während beim anderen sich aus dem völligen Aufgehen in den
genannten Meistern heilige Feuer entzündeten, deren leuchtender Schein schon damals
seine Reflexe weit voraus warf.
(Wagners Bekenntnis zum Werk Beethovens ist verbürgt; eine Affinität zum
„akademisch“ und „historisch“ apostrophierten Werk Bachs und Händels bestand nicht.)
"Wohl die größten Antipoden...– selbst in der äußeren Gestaltung des Lebens, das dem
einen lachenden Sonnenschein und Anerkennung, dem anderen Kampf, Not und
Verkennung schickte! Mendelssohn eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur, Wagner
ein herber, kraftvoller, zäher, dem Explosiven zuneigender Charakter! (Max
Chop; Führer durch die Musikgeschichte, Berlin 1916, ebd. 1922)
Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause...
Verwirrung gibt es auch um die Aufführung der „Tannhäuser"-Ouvertüre, welche am
12.2.1846 im Rahmen eines Sonderkonzertes zugunsten des Pensionsfonds des
Gewandhausorchesters als Werk zeitgenössisch-avantgardistischer Tonkunst
angesetzt und vom Publikum ausgezischt wurde. Es dirigierte Eric Werner und Stephan
Kohler zufolge nicht Mendelssohn, sondern Ferdinand Hiller.
Mendelssohn wirkte nachweislich als Pianist (Beethovens 32 Klaviervariationen in C-
Moll, Op. 36) an diesem Konzerte mit. Bedauerlicherweise verzichtete Werner auf einen
Verweis, woher er die Information eines Hillerschen Dirigates bezog und verwechselt
darüber hinaus Hiller möglicherweise mit einem der anderen als Stellvertreter
Mendelssohns tätigen Kapellmeister wie Gade.
Hiller dirigierte die Gewandhauskonzerte stellvertretend während des ersten Berliner
Engagements Mendelssohns, also von April des Jahres 1841 bis Oktober des Jahres
1842; nahm aber, nach vermeintlichem Zerwürfnis mit Mendelssohn, im Jahre 1844 eine
Verpflichtung als Kapellmeister in Dresden an. Möglicherweise dirigierte Hiller bis zum
Tode Mendelssohns oder gar darüber hinaus also niemals mehr am Gewandhause. In
der Saison 1845/ 46 indessen teilte sich Niels W. Gade nachweislich mit Mendelssohn
in die Leitung des Leipziger Konzertwesens.
Da gemeinhin Felix Mendelssohn als Dirigent der verunglückten Leipziger Vorstellung
genannt und darüber hinaus auch das Datum diffus gehandhabt wird (so nennt Karl-
Heinz Köhler fälschlicherweise März 1845), liegt möglicherweise der Lapsus einer
genuin aus der Wagner-Literatur hervor-und in die biographische Mendelssohn-
Rezeption übergegangenen, allgemeinhin tradierten Gleichsetzung von Ort und Person
vor.
Wagner selbst hatte von dem Konzert lediglich nachträglich aus zweiter Hand erfahren.
In seiner nahezu 20 Jahre später verfassten Autobiographie „Mein Leben“ gibt er
Mendelssohns Dirigat hingegen als Fakt wieder. Da Wagner in „Mein Leben“
zahlreichen Autographen der Jahre 1842-47 von seiner Hand (vor allem den an Felix
Mendelssohn gerichteten Briefen) offenkundig widerspricht, scheidet dieselbe als
seriöse Informationsquelle zu Leben und Werk Mendelssohns größtenteils aus.
69
Der spätere Dirigent Hans von Bülow hingegen wohnte als Augenzeuge jenem Konzerte
bei und berichtete 5 Jahre später darüber in dem Essay "Das musikalische Leipzig und
sein Verhältnis zu Richard Wagner" aus dem Jahre 1851. Auch er nennt den Dirigenten
nicht namentlich.
"Um sich nicht dem Vorwurfe eines grundlosen Verdammungsurtheils, d. h.
grundsätzlichen Ignorierens der Wagnerschen Musik auszusetzen, beschloss man
daher, die Ouvertüre zum Tannhäuser, als ein größeres, abgeschlossenes Tonstück,
das in Dresden Furore gemacht, in einem Concerte zu Gehör zu bringen.
Die Aufführung dieses sehr schwierigen, aber bei gehörigem Fleisse und Sorgfalt im
Einstudieren auch höchst dankbaren und unvergleichlich wirksamen Musikstückes, war
über alle Maßen unerquicklich, eine Execution , im besonderen Wortsinne.
Es hätte einer solchen (...) Verhunzung – nicht einmal bedurft, um die Composition
fallen zu lassen: die missmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen
schon das Publikum zur Missfallensbezeugung. Mendelssohn hat durch jene herzlichen
Worte, welche er nach einer Aufführung des Tannhäuser in Dresden mit sichtlicher
Ergriffenheit an Wagner richtete, sich vollkommen von diesem trüben Flecken gereinigt;
von Leipzig würden wir es aber recht taktvoll gehandelt wissen, wenn es Wagner eine
réparátion d´honneur (...) nicht länger schuldig bliebe".
Nicht allein jenes im Nachsatz vorgebrachtes Resümee lässt wenig auf eine
Interpretationsverantwortung des Gewandhausdirektors für jenen Konzertteil schließen;
vielmehr widersprechen die Verweise auf offenkundig ermangelnden „gehörige(n)
Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren“ respektive „unerquickliche“ Ausführung eigentlich
allen überlieferten musikalischen Prinzipien des Dirigenten Mendelssohn hinsichtlich
Sorgfalt in der Orchesterarbeit und unbedingter Aufführungsqualität.
Darüber hinaus verweisen auch die Originalrezensionen des Pensionsfondkonzertes in
den führenden Leipziger Fachpublikationen und die im Jubiläumsalmanach des
Gewandhauses vom 1898 enthaltene Konzertchronik nicht auf ein Mendelssohndirigat
der Ouvertüre.
Die Rezensionen in der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" aus Leipzig sowie in der
„NZfM“ schweigen sich über den Abenddirigenten vollkommen aus.
Das liesse, Mendelssohn am Pult vorausgesetzt, in beiden Fällen erheblich verwundern.
In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" zeichnete der Lokal-Rezensent L. R. in den
letzten Arbeitsjahren Mendelssohns für die Berichterstattung der Gewandhauskonzerte
alleinverantwortlich. Er ließ es sich zur Gepflogenheit werden, das Dirigat Mendelssohns
jeweils nicht allein dezidiert zu kommentieren, sondern dessen Namen in der Rezension
gar kursiv hervorzuheben. Das Unterschlagen einer musikalischen Leitung durch
Mendelssohn fiele bei diesem Rezensenten also vollständig aus dem Rahmen.
Einzig die Besprechung des berüchtigten Novemberkonzertes gleichen Jahres, mit einer
missglückten Uraufführung der C-Dur-Symphony Schumanns und darauf folgenden, auf
die Person Mendelssohns abzielenden „mosaischen“ Unterstellungen der Presse,
schweigt sich über den Abenddirigenten aus.
70
Allerdings erfolgte zwischen den beiden Ereignissen ein Redaktionswechsel in der
"Allgemeinen musikalischen Zeitung", der Rezensent der Gewandhauskonzerte wurde
fürderhin nicht mehr genannt und hatte möglicherweise gleichsam gewechselt.
Interessanter in diesem Zusammenhang ist eher noch die Besprechung der gleichen
Veranstaltung durch die „NZFM“, welche Franz Brendel höchstselbst vornahm. Auch
dieser lässt den Dirigenten unerwähnt. Nach allem, was bislang über die publizistische
Position Brendels im Leipziger Musikleben erörtert wurde, lässt sich kaum annehmen,
daß in einem renommierten "neudeutschen" Fachorgan die vermeintlich exemplarische
„Verhunzung“ eines wesentlichen Meilensteines der „Neudeutschen Schule“ durch den
führenden Kopf der Leipziger „Traditionalisten“ taktvoll unter den Tisch fallen gelassen
wurde.
Während die genannte Orchesterchronik die detaillierten Konzertberichte oftmalig mit
der Verlautbarung: Mendelssohn dirigierte, Hiller dirigierte abschloss, wird auch dort
kein musikalischer Leiter besagten Pensionsfondkonzertes genannt. Dies legt die
Vermutung nahe, daß sich, da Mendelssohn und Gade (Viola-Partie im Quartett-Konzert
für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Orchester von Ludwig Spohr) sich ja auch als
Instrumentalsolisten in das Konzert einbanden, beide möglicherweise als A-oder B-
Dirigenten des Gewandhauses in die Veranstaltung teilten.
Publikumsverstörung und Skandal rief die Aufführung der Ouvertüre in jenen Jahren
auch in anderen Musikstädten Europas hervor.
Als Generalmusikdirektor Franz Lachner das Werk am 1. November des Jahres 1852 im
Rahmen eines Odeon-Konzertes erstmalig in München vorstellte, wurde es vom
Auditorium einhellig ausgezischt. Hans von Bülow erhob die Stadt München in einer
umfassenden Kolumne polemischer Essays in der „NZfM“ daraufhin eilfertig in den
hohen Rang einer Ordensburg musikalischer Reaktion und eines Zentrums der
„Opposition in Süddeutschland“ („NZfM“, Nr. 22 – 26, 25.11. – 23.12.1853).
Auditoriumseklats infolge konzertanter und szenischer Darbietungen Wagnerschen
Werkes gab es auch in einem vom jungen Hans von Bülow selbst geleiteten Konzert
("Tannhäuser"-Ouvertüre), des gleichen in Wien (dito) und Luzern ("Der Fliegende
Holländer"). Eine im Jahre 1850 geplante Aufführung der "Tannhäuser"-Ouvertüre in der
Union Musicale in Paris scheiterte bereits im Vorfeld am Desinteresse des Orchesters.
20. Nur in einem Abstand zu nennen
Wie weitgehend der Einfluss der Wagnerschen Musik-und Rassentheorien sich auf das
Denken und Empfinden der Deutschen jener Zeit auswirkte, wie bindend und
folgerichtig dieselben sich amalgamisch zum Seelenkit der Menschen verdichteten,
dass sogar jüdischstämmige Komponisten die Wagnerschen Seeleninvektiven bewusst
verinnerlichten, beweist ein Brief Kurt Weills an seinen Bruder aus dem Jahre 1919: Er
bezweifelt darin in jugendlicher (und vielleicht auch in völkischer) Unsicherheit die
Eignung zum Komponisten.
„Ich war schon fast bei dem Entschluss angelangt, die Schreiberei aufzustecken und
mich nur auf die Kapellmeisterei zu werfen. Wir Juden sind nun einmal nicht produktiv,
71
und wenn wir es sind, wirken wir zersetzend und nicht aufbauend; und wenn die
Jugend in der Musik die Mahler-Schönberg-Richtung für aufbauend, für
Zukunftsbringend erklärt (ich tue es ja auch!) so besteht sie eben aus Juden, oder aus
jüdelnden Christen. Niemals wird ein Jude ein Werk wie die Mondscheinsonate
schreiben können. Und die Verfolgung dieses Gedankenganges windet einem die Feder
aus der Hand.“
Als originärster Beitrag der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre zu stereotyper
Mendelssohn Negation in Schlagworten kann jenes des „Abstands“ gelten, die zahlreich
publizierte Behauptung: nur in einigem Abstand zu anerkannten Meistern der
europäischen Musikgeschichte könne Mendelssohn ja rezipiert werden.
So hebt Prof. Dr. Ludwig Schiedermeyer in der Monographie „Die Deutsche Oper“
(Quelle & Mayer, Leipzig 1930) gleich zu Beginn einer vergleichenden Darstellung
Schuberts und Mendelssohns als Problemkindern deutschsprachigen Musiktheaters
divergierende Rezeptionsebenen als quasi selbstverständlich und gottgegeben hervor:
"In einer gewissen Ähnlichkeit mit Schubert hatten auch Felix Mendelssohn-Bartholdy,
der nur in einem Abstand von diesem genannt werden darf, immer wieder Opernpläne
beschäftigt. (...) Das Missgeschick, das "Die Hochzeit des Camacho" trotz aller
Anerkennung der Mendelssohnschen Verwandtschaft bei der Erstaufführung im Berliner
Schauspielhause (1827) ereilte, enttäuschte den sensiblen, überempfindlichen Jungen
so schwer, daß er fortan nicht mehr ohne Voreingenommenheit (...) der Oper
gegenübertrat".
Auch im weiteren Verlaufe der Schiedermayerschen Nationaloperngeschichte wird
Mendelssohn als Maßstab der Mittelmäßigkeit angeführt, wenn es beispielsweise gilt,
Schwächen in der Tonsprache des jungen Richard Strauss zu indizieren.“
"Mit der musikalischen Umwandlung, der "Läuterung" der Salome, gelangt nun der
Täufer in den Vordergrund des Dramas, (...). Allein das Jochanaan-Drama setzt sich
nicht durch, da ihm musikalisch wohl gefühlsselige, pastorale Melodien der
Mendelssohnschen Sphäre zugeleitet werden, aber jene Charakterisierung (...) eine(s)
Felsen (in) der Umgebung allgemeiner Verderbnis (vorenthalten bleibt)".
Die Suggestion der Zwangsläufigkeit, Naturbedingtheit einer niederen Positionierung
Felix Mendelssohns, welche die Wortmacht Schiedermayers unwillkürlich hervorruft, ist
keineswegs als Marginalie oder Zufallsprodukt aufzufassen. Es bezeugt vielmehr die
komplexe Doppeldeutigkeit chauvinistischer Rhetorik in jener Zeit vor dem
Nationalsozialismus., auf welchen dieselbe bereits hinwies. Wenige Jahre später
mochte Dr. Ludwig Schiedermayer, Prof. der Musikwissenschaft an der Rheinischen
Friedrich-Wilhelm-Universität. Bonn Überzeugungen wie jene , eine Jude sei aus
rassischen, also biologischen Gründen „natürlich“ weit unterhalb des Ariers anzusiedeln,
unumwundener zum Ausdruck gebracht haben. Beauftragt, gemeinsam mit den
Kapazitäten Friedrich Blume, Gotthold Frotscher und Karl Hasse die Ausstellung
„Entartete Musik“ im Mai des Jahres 1938 wissenschaftlich zu betreuen, hatte er ja
exakt zu diesem und anderen Aspekten einschlägig Stellung zu nehmen.
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21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!
In den 20ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Musikpublizist
Walter Dahms bemerkenswerte Monographien über die Komponisten Franz Schubert,
Robert Schumann und Felix Mendelssohn. Diese erschienen in einer vom Verlag
Schuster & Loeffler in Berlin konzipierten „Sammlung“ von „Meister-Biographien“
hochrangiger Komponisten. Co-Autor der Reihe war u. a. der namhafte zeitgenössische
Musikschriftsteller Julius Kapp. Die Popularität der Sammlung bezeugt allein schon der
Fakt reichhaltiger Verfügbarkeit der Bände im aktuellen Antiquariat.
Die Veröffentlichungen Walter Dahms zeichnen sich durch einen verblüffenden
Ansatz kompetenter, umfassender Darstellung des jeweiligen Sujets auf der Grundlage
präziser Recherche aus.
Zeittypisch andererseits sind Einseitigkeit, mangelnde Objektivität in der Sichtweise
kontroverser, problematischer künstlerischer Standortbestimmungen des dargestellten
Komponisten. Die stilistische Einordnung des Schumannschen und Mendelssohnschen
Werkes erfolgt somit vornehmlich aus der nationalkonservativen Perspektive heraus.
Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Monographie, im „Präludium“ sah sich der Autor
daher der obligaten Notwendigkeit einer „rassischen Einordnung“ Mendelsohnschen
Oeuvres ausgesetzt. Karl-Heinz Köhler nannte es im Jahre 1972 zutreffend: „den
merkwürdigen Versuch., auf antisemitisch-rassenbiologischer Grundlage von
Mendelssohns Werk zu retten, was zu retten ist“ und verweist auf den nachhaltig
hervorgerufenen Eindruck "daß hier ein positives Plätzchen für Mendelssohn gesucht
wird.“ Hauptinstrument des Konstruktes deutschnationaler Vereinnahmung der
Komponisten Mendelssohn (und Schumann) ist die gesuchte Absetzung dessen Werkes
von jenem Giacomo Meyerbeers; die Konstatierung, Mendelssohns Musik sei in
letztendlicher Betrachtung als „deutsch und rein“, das Werk Meyerbeers hingegen als
unverkennbar „jüdisch“ einzuordnen.
Dahms begibt sich somit voll Bedauerns in die Verpflichtung „nun von dem Judentum
Mendelssohns sprechen“ zu müssen, „nicht, wie um etwas Unangenehmes oder
Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muss, möglichst rasch zu erledigen,
sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu
gewinnen. (...) Wir wissen längst, daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern
der Rasse ist. Die Forscher auf beiden Seiten, der Juden und Nichtjuden (...) haben uns
genugsam belehrt (...) daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Objektivität
nicht Verzicht leisten.
Deshalb dürfen wir auch Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht
ohne Vorbehalt unterschreiben und unerwähnt lassen. (...) Denn Wagner wusste
ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen
Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte (...). Denn Meyerbeers
musikalische Leichtfertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich,
um geleugnet zu werden. (...) Mendelssohn dagegen ist der einzige grosse und ernste,
für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine
Musik hat deutschen Charakter. Ihn aus der Reihe der „deutschen“ Meister
auszuschließen, wäre eine Verblendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung des
vielseitigen Wesens des Deutschtums zu erklären wäre.“
73
Nach einer durchaus zutreffenden Betrachtung und Herleitung der Mendelssohnschen
Entwicklung gänzlich aus der musikalischen Tradition sowie dem romantischem Ideal
heraus, konzentriert sich Dahms schliesslich auf die diskreditierende Analyse eines
semitisch-idiomatischen Konterparts, dem Mendelssohn keinesfalls zuzuordnen sei.
„Finden wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten
Eigenschaften der Semiten: „die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die
Freudenschauer, die Plötzlichkeit? (...) In seiner Stellung zur Romantik lässt sich (...)
vielleicht ein Mangel an typisch deutschen Eigenschaften finden. (...) Wir stoßen noch
einmal auf Nietzsche, wie er von Mendelssohn spricht, „an dem sie die Kraft des
elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt)t: das Talent der Juden des alten
Testaments) vermissen (...) Einem Meyerbeer gegenüber dürfen wir, Wagner Folge
leistend, unserem Unwillen freien Lauf lassen.
Aber wir müssen uns hüten, Erfahrungen, die wir in der Missgeburt der „großen“ Oper
mit „jüdischen“ Eigenschaften gemacht haben, (...) auf einen Meister wie Mendelssohn
zu übertragen. (...)
Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten (möglicherweise
eine Anspielung auf Schönberg, Weill und Schreker, Anm. d. Verf.) dürfen uns den Blick
für Mendelssohns Reinheit und Seelengröße nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir
überhaupt ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu
untersuchen...wie es eben Wagner getan hat.“
Bemerkenswerterweise begibt sich Dahms im Versuch semtitisch-musikalischer Analyse
in eklatanten Widerspruch zur gängigen Sichtweise des „Judentums in der Musik“ im 19.
und frühen 20. Jahrhundert. In Bezug auf Nietzsche stellt er „furchtbare Wildheit, das
Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit“ sowie „die Kraft
elementaren Erschütterns“, eines „Talentes des alten Testaments“ als wesentlichstes
Merkmal des semitischen Idioms heraus. Wie im Vergangenen ausgiebig dargelegt,
hieß es doch, das die Kraft „zu ergreifen, ja zu erschüttern“ sowie das „Dramatische,
das Leidenschaftliche“, also die Ekstase emotionaler Höhen und Tiefen der Musik
Mendelssohns hauptsächlich deswegen abgehe, weil „der Jude“, kosmopolitischer
Beseligung unzugänglich, leidenschaftslos, im Synagogalidiom befangen komponiere
und die Vorbilder europäischer Musik daher glatt und kalt kopiere.
Nun argumentieren Nietzsche und Dahms, das dem „Deutschen“ Felix Mendelssohn die
semitische Kraft, Emotion und Schroffheit vollständig fehle, sein Werk daher von
„marmorner, kalter Schönheit“ (Dahms) sei. Die von Nietzsche genannten
(alttestamentarischen) Idiome wiederum träfen sicher – unbesehen übernommen – in
grossen Teilen auf die Wagnersche „Ring des Nibelungen“-Musik zu, nicht nur in jenen
Momenten potentieller semitischer Karikaturen in den Personen Mime, Alberich etc.
Somit hätte der von Wagner dezidiert als Jude hervorgehobene "Deutsche" Felix
Mendelssohn unjüdische, der Vollender der Deutschen Oper wiederum „jüdische“ Musik
geschrieben?
Da Walter Dahms mit dieser Sichtweise schwerlich eine Neuerörterung des Problems
vermeintlicher musikalischer Idiome in Gang setzte, gibt er lediglich Zeugnis von der
74
Fragwürdigkeit und Willkür derartiger Zuordnungen. Oder besser davon; das sich
Wagner, Nietzsche, Dahms u. a. offensichtlich den „Deutschen“ oder "Juden“
zurechtlegten, der ihren Zielen jeweils zuförderlichst war.
In den 20ziger Jahren trat auch der Komponist Hans Pfitzner mit antisemitischen
Schriften musikpublizistisch an die Öffentlichkeit. Pfitzner: ein in der damaligen
Musikwelt Deutschlands vereinsamt bestehender Komponist großer, bedeutsamer
Musik konservativer Prägung wie jener Monumentaloper über den Renaissance-
Komponisten Gian-Pierluigi da Palestrina; ein grandios gescheiterter , ja verkannter
deutscher Musiker jener Zeit. Im Jahre 1920 brachte er mit der Broschüre „Die neueÄsthetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom“ eine Denkschrift
heraus, welche im Sinne und Stile des Richard Wagner sich in das Wesen der
zeitgenössischen Kulturtheorien lautstark einbrachte. Pfitzner bezeichnet darin Wagners
„Das Judentum in der Musik“ als eine „ernste, liebevolle und tapfere Schrift“.
Der Komponist knüpft in seinem Pamphlet an die wagnerschen Antisemitismen an
und bringt jene erneut, als singulär im deutschen Blätterwald dastehend, zu einer
weithin ausgreifenden Verbreitung und Fortwirkung.
Nach 1921 veröffentlichte Professor Dr. Eugen Schmitz die populärgeschichtlich
gehaltene „Illustrierte Musikgeschichte“ des Komponisten, Kirchenmusikers und (von
1873 an) Dozenten am Dresdner Konservatorium Emil Naumann aus dem Jahre 1885 in
der sechsten Auflage. (Das Buch schweigt sich über die Drucklegung der aktuellen
Auflage aus, führt aber neben dem Vorwort zur sechsten Auflage noch das mit dem
Jahre 1921 signierte Vorwort zur fünften Auflage ins Feld.) Die Wiederveröffentlichung
des von 1885 – 1928 bis in die neunte Auflage nachweisbar en Suite herausgegebenen
Standardwerkes zeigt auf, das sogar in den modernistisch geprägten zwanziger Jahren
in der Weimarer Republik die von dem Buch betriebene rückwärtsgewandte
Mendelssohnverkleinerung der Hochzeit der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts
ungebrochen wiederaufgelegt und somit fortgeschrieben werden konnte. Wie groß der
Bedarf an solch reaktionärem Schrifttum in jenen Jahren gewesen sein muss, belegt
allein die Tatsache, dass das Buch von 1921 – 1928, also in weniger als zehn Jahren,
sage und schreibe viermal neu herausgebracht wurde.
Obgleich Naumann von 1842-1844 gar ein Schüler Mendelssohns u. a. am
Konservatorium in Leipzig war, fällt in der Gestaltung der „Illustrierten Musikgeschichte“
bereits Eingangs in Sachen Mendelssohns bezeichnenderweise auf, dass unter den
Komponistenartikeln des Buches, welche Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert,
Berlioz, Wagner, Brahms, Liszt und Richard Strauss, Bruckner und Hugo Wolff
gewidmet sind, dieser nicht mit einem eigenen Kapitel vertreten ist. Das Problem einer
wiederum tendenziös ausfallenden musikhistorischen Mendelssohn-Abwicklung findet,
gleichgesetzt der Darstellung von Leben und Werk diverser Kleinmeister wie Louis
Spohr, schliesslich hauptsächlich in dem Kapitel „Schubert und die Romantiker“ statt.
Naumann bezeichnet Mendelsohns Werk als epigonal, bezogen auf das Schaffen von
Komponisten wie Carl Maria von Weber, Bach und Händel. Er spricht dabei der so
genannten „Elfenmusik“ sowie den naturimpressionistischen Männerchören Mendelssohns
künstlerische Eigenständigkeit zugunsten einer behaupteten, eindimensional
direkten Nachfolge von Vorbildern Carl Maria von Webers ab, und stempelt darüber
hinaus die Oratorien „Paulus“ und „Elias“ als Früchte angeblich direkten Epigonentums
Bachs („Paulus“) und Händels („Elias“) ab.
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Immerhin gesteht Naumann Mendelssohn in Abrede eines wahrhaft markigen
deutschen Künstlertums verniedlichend die originäre Kreation orchestraler und
instrumentaler Capriccios, wie jenes „kleine, allerliebst für Pianoforte geschrieben
Rondo capriccioso“ zu.
Naumann behauptet weiterhin, dass Mendelssohn gegenüber „jenen Altmeistern (Bach
und Händel) an Größe der Empfindung und der Erhabenheit des Ausdrucks zurückstehe".
Nach einer Beschreibung sinfonischer und instrumental-kammermusikalischer
Phänomene in Mendelssohns Werk kommt Naumann schliesslich -wie könnte es auch
anders sein – auf die von Wagner geprägten Invektiven von Gefälligkeit und Glätte in
Mendelssohns Schaffen als Repetition eines allzu geläufigen Totschlagargumentes zu
sprechen: Es heißt dort genau: ...in manchen anderen seiner Instrumentalwerke aber,
namentlich in einem grossen Teil seiner Kammermusik tritt in bedenklicher Weise
äußerlich gefällige Formenglätte an die Stelle des tieferen geistigen Gehalts“.
Des Weiteren lesen wir noch: „Als Liederkomponist ist Mendelssohn weniger
bedeutend; (...) seine Sololieder, die namentlich harmonisch sehr dürftig sind, bedeuten
eher einen Rückgang auf den Standpunkt Zelters“.
In den Erörterungen der Musik des von Naumann als ein gescheiterter Kleinmeister arg
abgekanzelten Komponisten Robert Schumann schreibt der Autor in Bezug auf dessen
Streichquartette folgende Reprise des einschlägig bekannten Mendelssohn
-Hauptvorurteils fest: „Von Schumanns Kammermusik verraten die drei Streichquartette
mit ihrer fließenden und glatten Liebenswürdigkeit am entschiedensten den Einfluss
Mendelssohns;...“
An anderer Stelle beschreibt Naumann ausgiebig die Verdienste Mendelssohns um die
post Bachsche und Händelsche Klavier-und Orgelmusik sowie die post Webersche
Chormusik. In einer Fußnote aber macht er all das zuvor lobenswert gesagte mit einem
Satz wieder zunichte: „In diese Renaissancebewegung (um das Chorlied) trat
Mendelssohn ein; freilich von dem klanglichen Ausdrucksreichtum des Tonsatzes der
Alten (Haydn, Mozart, Schubert, Weber) ist er noch weit entfernt; erst Brahms hat hier
die früheren Vorbilder wieder annähernd erreicht.“
Im weiteren Verlaufe des Buches holt Naumann, in Betrachtungen des Lebens und
Werkes des Komponisten und Musikpädagogen Johann Joachim Raff, zum
Rundumschlag gegen Mendelssohns als glatt und gerundet diffamierte musikalischeÄsthetik aus. Er schreibt über Raffs anfängliche musikalische Orientierung an
Mendelssohn und seiner Schule, vor welcher akademischen Ausprägung ihn der später
ausgeübte Einfluss Liszts und seiner „Neudeutschen“ in Weimar augenscheinlich
„rettete“: „Veranlasste ihn das Mendelssohnsche Vorbild zu einem gewissen Kult des
formalistischen Elements, so verdankte er es wiederum den Jahren, die ihn den
geistigen Einwirkungen Liszts näher brachten, dass ihm der Wert einer geglätteten,
abgerundeten Form nicht in dem Grade alles wurde, dass ihm darüber Leidenschaft,
Stimmung und Ausdruck nebensächlich erschienen und ihn zum einseitigen
musikalischen Akademiker werden ließen“.
Auch dem Dirigenten Felix Mendelsohn verweigert Naumann dessen kongeniale
Bedeutung für Werden und Bestehen dieser heutzutage so wichtigen musikalischen
Profession.
76
Mendelssohns musikalische Leitung der Gewandhauskonzerte kann mit Fug und Recht
als prototypisch für das Berufs-und Erscheinungsbild des modernen Dirigenten; ja des
eleganten Dirigierstars gar gelten.
War es in Leipzig vor Mendelssohns Zeiten üblich, dass nur Orchesterkonzerte mit
Vokalanteil von einem Taktschläger geleitet wurden, während das rein symphonische
Repertoire vom Konzertmeister am 1. Geigenpult dirigiert wurde, so übernahm
Mendelssohn sowohl bei der Vokalmusik als auch bei der Symphonik von einer Position
vor dem Orchester gelegen die musikalische und interpretatorische Gesamtverantwortung.
Nichts davon findet sich bei Naumann. Er erwähnt Mendelssohn lediglich in zwei
Aufzählungen dirigierender, als Vorläufer des modernen Dirigenten geltende
Komponisten (Lully, Jomelli, Spontini, Spohr, Mendelssohn) sowie (Johann Friedrich
Reichardt, Bernhard Anselm Weber, Spohr, C. M. v. Weber, Mendelssohn).
Den entscheidenden Verdienst an der Ausprägung des Typus eines modernen
Dirigenten spricht Naumann in Verfälschung der Tatsachen um Mendelssohns
bahnbrechende Verdienste auch auf diesem Gebiete – wie könnte das bei einem derart
parteilichen, einseitigen Text auch anders sein – ausschließlich den Vertretern der
zeitgenössischen musikalischen Moderne wie Berlioz und – natürlich – den
Neudeutschen Richard Wagner und Franz Liszt zu.
Im Jahre 1928 veröffentlichte ein Autor namens Anton Mayer in der Deutschen
Buchgemeinschaft GmbH, Berlin eine Geschichte der Musik. Diese war mit ca. 340
Seiten überschaubar gehalten und zeichnet sich dadurch aus, Musik und Wirken Felix
Mendelssohns mit keinem Wort zu erwähnen. Demgegenüber wird dem Schaffen
Richard Wagners die Ehre einer nahezu eigenständigen, umfassenden Abhandlung
über 30 Seiten hinweg eingeräumt. Also nahezu ein Zehntel des Umfanges einer Schrift,
welche die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur musikalischen Moderne
zur Darstellung zu bringen beabsichtigte.
In seiner im US-amerikanischen Exil vorgelegten Abhandlung "Größe in der Musik" legt
der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler und Mozartbiograph Alfred Einstein vom
Status Quo der deutschen Mendelssohn-Rezeption in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts trefflich Zeugnis ab:
„Was ist mit der Büste Mendelssohns? Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns
bemühen müssen, ihm die richtige Stellung zuzuweisen: die Überschätzung zu
vermeiden, die ihm zu Lebzeiten (...) in Deutschland und England zuteil geworden ist,
die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. Sie könnteheute zu einer neuen Überschätzung führen; aber sie wäre wohltätig, wenn sie zu einer
neuen Schätzung oder Wertung Mendelssohns führen würde, auf der Grundlage neuer
Kenntnis. Denn er ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit. Man
kennt von ihm gerade das Unbedeutendste am besten, die Stücke, die von
mittelmäßigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlich-
romantischen Geist der Zeit am meisten entsprachen."
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Angesichts einer niederschmetternden Realität nahezu vollendeter Mendelssohn-
Verdrängung und Verleugnung der zwanziger bis vierziger Jahre musste Einstein mit
dieser (dem Wirken Mendelssohns gegenüber keineswegs unkritischen) Meinung somit
zwangsläufig ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben -wenn er denn die Möglichkeit
gehabt hätte, in Deutschland im Jahre 1941 vernommen zu werden.
Wie weiland Kurt Weill im Jahre 1919 machte sich im US-amerikanischen Exil Arnold
Schönberg im Jahre 1935 Gedanken bezüglich der Relevanz Wagnerschen Denkens
über die Fähigkeit des Judentums zu Wort, Ton und Schrift. Er zementiert dadurch die
ungebrochen aktivierte, spezielle, fatale Fernwirkung von Wagners Judenmusikthesen
des Jahres 1869 im Denken exilierter Juden. Schönberg stellte also in einem, in Los
Angeles gehaltenen Vortrag, fest:
„Meine Damen und Herren, als wir jungen österreichisch-jüdischen Künstler
heranwuchsen, litt unsere Selbstachtung stark unter dem Druck einiger Umstände (...)
man konnte kein echter Wagnerianer sein, wenn man kein Anhänger seines
antisemitischen Aufsatzes über „Das Judentum in der Musik“ war“.
Schönberg dokumentiert damit unmittelbar, was nur wenige in dieser Konsequenz
erkannten und aufzeigten: „Es gibt keine Wagnermusik, getrennt von den zersetzenden
Judenfeindlichen und menschenverachtenden Theorien, welche aus der Musik und
damit aus dem musikalischen Ausdruck so reichhaltig hervorgehen, welche die Musik
wiederum so eindeutig inspirierten“.
Schönberg setzt fort: „Und das ist nun der Punkt, an dem man den schrecklichen
Einfluss der Rassentheorie nicht auf die Arier, sondern auf die Juden erkennen kann.
Letztere, ihres rassischen Selbstbewusstseins beraubt, bezweifeln die schöpferische
Fähigkeit eher als die Arier. Sie waren bestenfalls vorsichtig und glaubten nur dann,
wenn sie von Ariern bestärkt wurden, wie im Falle Einsteins oder Kreislers“
Schönberg verdeutlicht, wie schwach, wie eingeschüchtert in ihrem Selbstglauben die
jüdischen Intellektuellen vor einem monumentalen, mentalen demagogischen,
chauvinistisch-rhetorischen Judenvernichtungswerk Wagners also verblieben. Man
musste jenen quasi auf die Schulter klopfen und ermunternd ihnen bestätigen: „ Du
kannst doch auch etwas“. So wie freundlich gestimmte Erwachsene es gelegentlich mit
kleinen verängstigten, verzagten Kindern tun. Wie zahlreich sind die Berichte von
jüdischen Wagnerianern, welche Wagners Schaffen glühend verehrten und welche in im
Bewusstsein der vermeintlich eigenen Winzigkeit vor diesem musikalisch
monumentalem, massiven Gebirge sich in größter, bitterster Not selbst entäußerten:
„Ich bin ein Jude und ich liebe und verehre den Bayreuther Meister“.
Schönberg schließt seinen Text: „Aber im allgemeinen glaubten sie lieber an Arier,
sogar an mittelmäßige. Und leider führte der Mangel an Selbstvertrauen oftmals zur
Verachtung jüdischen Tuns.“
22. Eine „grosse Lösung“
In der Aufklärungsschrift an die deutsche Nation "Erkenne Dich selbst", als erste
Ausführung zur Schrift „Religion und Kunst“ im Jahre 1881 als Bestandteil der
sogemnannten „Regenerationsschriften“ in den Bayreuther Blättern veröffentlicht,
gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich des Juden als “plastischen Dämons des
Verfalles der Menschheit in triumphaler Sicherheit.”
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Er geisselt darin des weiteren den Pluralismus eines Systems wiederstreitender
politischer Parteien als Verderber "ächten deutschen Instinkts" und heimlichen
Deckmantel prosperierenden jüdischen Lebens in Deutschland.
Er fordert die Deutschen daher auf, diesen Parteienstreit zu überwinden und sich, "im
Erwachen zu (...) einfach-heiliger" (nationaler) "Würde", vaterländisch einmütig
zusammenzuschliessen.
Abschliessend konstatiert er: "nur aber, wann der Dämon, der jene Rasenden im
Wahnsinne des Parteienkampfes um sich erhält, kein Wo und Wann zu seiner Bergung"
unter den Deutschen "mehr aufzufinden vermag, wird es auch keinen Juden mehr
geben". Den Deutschen könne somit "gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen,
nur eben unter uns wiederum denkbaren" (antisemitischen) "Bewegung" eine "grosse
Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht" sein, "sobald sie ohne Scheu, bis
aufs innerste Mark unseres Bestehens das Erkenne-Dich-selbst vollzögen, vor der
letzten Erkenntnis nicht zurückwichen". Wagner gibt am Ende des Textes zu bedenken:
"Dass wir, dringen wir hiermit nur tief genug vor, nach der Überwindung aller falschen
Scham, die letzte Erkenntnies nicht zu scheuen haben würden, sollte mit dem
Voranstehenden, dem ahnungsvollen angedeutet sein".
Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äußerungen Phantasien von
gewaltsamer Deportation der Juden oder Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand
germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung. Daß Wagner im Gedanken eines
"Erwachen" Deutschlands im "Erkenne Dich selbst" die Ereignisse des Jahres 1933 Zerschlagung
des Parteienpluralismus sowie der parlamentarischen Demokratie und
triumphales Erstarken einer chauvinistisch-nationalen deutschen Erhebung ideologisch-
literarisch vorwegdenkt, geht aus der Lektüre des Traktates eindeutig
hervor.
Adepten des Bayreuther Meisters wussten dessen Gedankengänge denn auch
zielgerecht zu entsprechen, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schließlich
schwang sich zur "letzten Erkenntnis" empor und war zu der Realisierung einer "großen
Lösung" vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.
Am 3. April des Jahres 1929 hielt der Demagoge Adolf Hitler eine mehrstündige
Kampfrede im vollständig überfüllten Festsaal des Münchner Hofbräuhauses. Darin
richtete er sich gegen Pläne des Schauspieldirektors Max Reinhardts, an der
Veranstaltung Münchner Sommerfestspiele mitzuwirken.
Hitler sprach also u. a.: „Es handelt sich also um den Versuch, uns jüdische Kunst
aufzuoktroyieren (...) dieser Kunstwille entstammt jenem Volk, das aus sich heraus
überhaupt gar kein Kunstempfinden hat, das nicht, wie manche Mitglieder unseres
Münchner Stadtrates meinen, besonders groß ist im Kunstempfinden, sondern das
niemals überhaupt eine eigene Kunst gehabt hat, das grundsätzlich unproduktiv ist und
nur die Kunst anderer Völker zu annektieren in der Lage war, zu allen Zeiten! (...)
Jedenfalls hat das Judentum an sich überhaupt keinen ausgeprägten Kunstwillen,
sondern das Judentum sieht in der Kunst genau das, was es in allem sieht, nämlich eine
Geschäftsmöglichkeit. Es trennt sich von unserer Kunstauffassung meilenweit“.
Hitlers Rede reproduziert bis in kleinste Einzelheiten Wagners Kampfschrift „Das
Judentum in der Musik“ und bezog sich, Jens-Malte Fischer zufolge, überhaupt explizit
auf Richard Wagner.
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”Anders liegen meines Erachtens die Fälle von Felix Mendelssohn und Joseph Joachim,
die man kaum fremdvölkischen Musikgeschichten in dem Maße wie ihre vorgenannten
Rassengenossen zurechnen kann. Mendelssohns beste Werke (...) haben im
künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und
Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen
jener Zeit gehört. (...)
Wenn also auch diese beiden seit 1933 praktisch für Deutschland ausfallen, so
jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer Gesamthaftung desJudentums für die versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als wegen eines absoluten
Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen Bemühens. (...) Niemand hat
ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger – das sollte jenen zu
Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben herabmindern zu
müssen. “ (Hans-Joachim Moser 1938)
In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes war der Umgang der
Repräsentanten deutschen Musikbetriebs mit dem als klassisch verstandenen Oeuvre
der nunmehr als jüdisch apostrophierten Komponisten Felix Mendelssohn, Gustav
Mahler und Jacques Offenbach von Unsicherheit geprägt. Es lagen vielerorts noch
keine Erfahrungswerte vor, was weiterhin gestattet sei oder nachhaltig zu unterbinden
wäre. So war schwerlich einzuschätzen, wie weit die Forderungen der Machthaber in
den Kontext traditionellen E-Musik-Repertoires einzugreifen beabsichtigten. Ob man
sich mit der Negation der Avantgarde und "Musikzersetzung" jüngeren und jüngsten
Datums befrieden, die rein von politischer Willkür betriebene Konterbewegung vor dem
Reiche der Tonalität zum Stillstand kommen würde.
Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Moser, legte somit im Jahre 1938 eine "Kleine
deutsche Musikgeschichte" vor. Mit Worten wie den soeben zitierten, tastete er sich
vorsichtig in vermeintliche Terra incognita vor, an das "Problem Mendelssohn", wie man
es hier einmal zu Recht benennen könnte, heran. In zahlreichen Fällen blieben Schriften
wie diese, Aufführungen Mendelssohnscher Werke gar, ohne Folgen für Autoren und
Musiker. In anderen Fällen erfolgte die Reaktion rasch und unmissverständlich, stellten
sich die Negativerfahrungswerte mit den Prämissen völkischer Kulturpropaganda
postwendend ein.