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"Wir haben keine Heimat mehr...."

 

 

Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine

Geschichte kulturellen Antisemitismus im

Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts

 

 

Ein Essay von Rainer Hauptmann

Mit einem Vorwort von Herrn Dr. Gottfried Wagner

 

 


 

Für Gundula, Sandra, Natalie, Uwe, Tina,

Daniel +, Georg, Petra, Paul

und mein liebes Mom,

 

 

Frau Anita Hauptmann, + 2008,

 

 


 

Felix Mendelssohn Bartholdy in der Jetzt-Zeit, die „causa Mendelssohn“ – von der

Aktualität eines verdrängten Komponisten – Gedanken zu Rainer Hauptmanns Essay

Wir haben keine Heimat mehr …“ Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte

kulturellen Antisemitismus in Deutschland des 19.und 20.Jahrhunderts

 

Der Verbleib von Person und Werk Felix Mendelssohns ist im Bewusstsein des heutigen

Publikums eher fragwürdig, denn man war, wie der hier vorgelegte Essay von Rainer

Hauptmann im Einzelnen darlegt, nach Kräften bemüht ihn und seine Musik zu

verdrängen und zu verfälschen.

 

Die „Causa Mendelssohn „ war die Vernichtung Mendelssohns, die Verdrängung und

Zerstörung des gesamten Oeuvres und Lebens eines einstmals angesehenen

Komponisten. Sie war ein Verbrechen kultureller Art und reiht sich nahtlos in allgemeine

antisemitische Bestrebungen und Geschehnisse ein, welche sich in letzter Konsequenz

bis zur Vollführung des Holocaust entwickeln sollten. Wer sind die Schuldigen an

diesem Verbrechen, wer waren die Täter? Und wo sind die Zeugen?

 

Die Zeugen werden hier der Reihe nach zu Worte kommen, einer nach dem Anderen.

 

Der Name Richard Wagner wird im Verlaufe dieses fiktiven Verfahrens genannt. Viele

fragen sich: Richard Wagner hat doch wundervolle Opern geschrieben und ist doch

somit eine Säule des heutigen Musiklebens. Was hat Richard Wagner mit

Antisemitismus und Felix Mendelssohn zu tun? Wie sich im Verlaufe des fiktiven

Gerichtsverfahrens herausstellen wird, verkörpert die Person Richard Wagners eine

Hauptrolle im Bestreben, Mendelssohn zu vernichten, ja, er muss dabei als ein

Haupttäter gelten.

 

Richard Wagner ist schuldig an einer Stigmatisierung der Person und des Angedenkens

Felix Mendelssohns, seine Schriften stellten eine Art führend wirksame Sprachregelung

im negativen antisemitischen Umgang mit Mendelssohn dar, welche in ihrer

Verunglimpfung, aber auch in ihrer Mechanik, in ihrem Automatismus bis in unsere Zeit

wirksam bleibt. Richard Wagner war ein antisemitischer Titan, dessen Schriften in

Deutschland und in Gesamteuropa und weltweit exzeptionell gelesen wurden. Sein

musikalisches Werk ist in prominenter Art und Weise von antisemitischen, inhumanen

Gedanken und Empfindungen durchzogen. Ungebrochen widmet man ihm bis in unsere

Zeit weihevolle Festspiele, welche von der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und

kulturellen Elite zur Selbsterhöhung rauschhaft frequentiert werden.

 

Welches Anrecht hat man sein Werk auf deutschen und europäischen Bühnen

bedenkenlos bis heute aufzuführen, besonders an der Bayreuther Wagner Kultstätte?

Die Bayreuther Festspielbühne müsste Aufführungen der Mendelssohnschen Oratorien

und jene der Opern des, gleichfalls von Wagner bis ins Mark geschädigten jüdischen

Komponisten Giacomo Meyerbeer, erfahren, somit eine Konfrontation von Täter und

Opfer auf gleicher Augenhöhe stattfinden. Ohne eine klare Absage von der

antisemitischen Aura stellen die Aufführungen unkommentierter Opern Wagner eine

Beleidigung jener Opfer dar, welche vom Wagnerschen Antisemitismus unmittelbar oder

im weiteren Verlaufe geschädigt wurde.

Das offene Publikum wird im Verlaufe des fiktiven Verfahrens auf die Schönheit der

Mendelssohnschen Musik aufmerksam und die Anhörung ideeller Zeugen bewirken die

Erkenntnis, dass Wagner Unrecht hatte in seiner Behauptung, die Musik Mendelssohns

habe keinen Wert , denn sie beweist, sagt uns damals wie heute das Gegenteil.

 


 

Ohne Mendelssohn ist die Musikgeschichte des 19.Jahrhunderts undenkbar. Der

vorgelegte Text in Form eines fiktiven Prozesses gegen Verunglimpfung des

Komponisten ist ein mutiges Engagement für Mendelssohn und andere Verfolgte.

Hauptmann zeigt leidenschaftlich den aktuellen Wert, die Zeitlosigkeit der Gefühle und

Bewegungen dieser Musik für uns heute auf.

 

Er gibt so seine ehrliche Erkenntnis über die einzigartige musikgeschichtliche

Bedeutung Mendelssohn weiter. Ich wünsche seinem Essay daher viele sensible Leser

und Leserinnen.

 

Gottfried Wagner, Cerro Maggiore, den 27.Juni 2012

 


 

Inhalt

 

 

Vorrede (S. 1)

 

1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne einKünstler würde (S. 3)

 

2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude (S. 7)

 

Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden! (S. 16)

 

3. Der größte lebende Komponist (S. 17)

 

4. Antisemitismus (S. 19)

 

5. Das Judenthum in der Musik (S. 20)

 

6. Ein antisemitischer Eklektizist (S. 27)

 

7. Eine exzeptionell exclusive Menschen-Race (S. 29)

 

8. Von der Neudeutschen Schule (S. 33)

 

9. Von der musikalischen Wahrheit (S. 36)

 

10. Der letzte Deutsche (S. 43

 

11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemerenleben... (S. 49)

 

Intermezzo II: "Felix, thust du nichts?!" (S. 50)

 

12. Von der E-Musik und der U-Musik (S. 51)

 

13. Der schönste Zwischenfall der Deutschen Musik (S. 55)

 

14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette (S. 57)

 

15. Denkmäler (S. 57)

 

16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier... (S. 61)

 

17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut... (S. 61)

 

18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn (S. 66)

 

19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur (S. 67)

 

Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre" im Gewandhaus (S. 69)

 

20. Nur in einem Abstand zu nennen (S. 71)

 

21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten! (S. 73)

 

22. Eine grosse Lösung (S. 78)

 

23. Auch in der Musik hat der Jude nie Kulturwerte geschaffen (S. 88)

 

24. Alles, alles wurde dem Juden zugesprochen (S. 98)

 

Intermezzo IV: die "Hohe Schule" I: Kulturelle Neuordnung nicht nur fürEuropa, sondern für die Welt (S. 102)

 

25. Das Lexikon der Juden in der Musik (S. 103)

 

26. und das Benehmen Mendelssohns, das er als Director angesehen werdenwolle (S. 105)

 

Intermezzo V: Juden bleiben Juden oder von den Ehetagebüchern des RobertSchumann (S. 106)

 

27. Denkmalspflege; nationalsozialistisch (S. 108)

 

28. Ein nordischer "Sommernachtstraum" (S. 113)

 

29. Von bajuwarischen "Sommernachtsträumen" (S. 123)

 

Intermezzo VI: Die "Hohe Schule" II oder "Musik in Geschichte und Gegenwart" (S. 128)

 

30. Die zierlich-empfindsamen Lieder und Duette... (S. 134)

 

Intermezzo VII: Vom deutschen Hausbuche (S. 141)

 

31. Der Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeitoder vom Ende der "zeitlosen" Zeit (S. 142)

 

Intermezzo VIII: Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind (S. 146)

 

32. Grenzen in der Bedeutung dieser Musik (S. 151)

 

33. Sein Platz nach Beethoven und Brahms ist ehrenvoll genug (S. 152)

 

34. Diese Musik wurde ermordet I (S. 153)

 

35. Das erreichbare Höchstmaß an Glätte und Ausgeglichenheit... (S. 154)

 

36. Philosoph. Musici: vom Gewandhausdirecteur Moses Mendelssohn (S. 155)

 

37. Dass Mendelssohn Grenzen hat, sei unbestritten (S. 159)

 

38. Wie ist eine derartige Geringschätzung im Umgang mit einem dochbedeutenden Komponisten überhaupt möglich? (S. 160)

 

39./ 40. Diese Musik wurde ermordet II/ Die Mendelssohn-Falle (S. 163/165)

 


 

Vorrede

 

 

Als Felix Mendelssohn Bartholdy im November 1847 unerwartet starb, hielt das

öffentliche Leben in den Musikstädten Europas und der Neuen Welt erschüttert inne.

Der Tod eines grossen zeitgenössischen Meisters wurde als tragischer, unersetzlicher

Verlust empfunden. Nun ist das Lebensgefühl der Menschen, welche vor mehr als 150

Jahren lebten, nicht per se auf die heutige Zeit zu übertragen. Somit muss uns Musik,

welche die Empfindungen unserer Vorfahren aufs trefflichste reflektierte, nicht

zwangsläufig bewegen.

 

Andererseits erhebt sich die Frage: Auch Schubert, Beethoven, Mozart lebten vor 150 –

200 Jahren, und verliehen den Zeitläuften in politischer, kultureller und emotionaler

Hinsicht musikalisch Ausdruck. Auch sie wurden von der Öffentlichkeit oder dem

unmittelbaren persönlichen Wirkungskreis als Herolde zeitnah humanen Empfindens

gewürdigt. Das ist im Falle der letztgenannten auch so geblieben.

 

Im Falle Felix Mendelssohn Bartholdys hingegen muss plädiert werden, muss im

Zweifelsfalle eine Verbindung der 40ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu unserer Zeit

und unserer Sichtweise nachträglich, quasi synthetisch wiederhergestellt werden. Allein,

die publizistische Darlegung der Gegenwartsrelevanz von Musik, der Musik Felix

Mendelssohns beispielsweise, ist wiederum ein schwieriges, möglicherweise

vergebliches Geschäft. Das Plädoyer sollte auf musikalischem Wege erfolgen.

 

Um aber zum Mindesten Nachweis zu führen, was einstmals unzweifelhaft bestanden,

allzu lange verschüttet und nachhaltiger zurückzugewinnen wäre: die Einschätzung

Mendelssohns als bedeutenden Meisters der europäischen Musikgeschichte, mögen

zu Beginn der Geisteswissenschaftler Hans Mayer und danach der Komponist Robert

Schumann zu Worte kommen:

 

“Mendelssohn hat in einem ganz ungewöhnlichen Sinne alle damals bekannten

Traditionen deutscher Musik verkörpert und in sich zusammengefasst. Er hat sie durch

seine eigenen Schöpfungen und Erkenntnisse erweitert und weitergereicht. (...) Man

kann die Behauptung wagen, daß durch Felix Mendelssohn, gerade in seinem Leipziger

Wirken, nicht nur die Strukturen unseres heutigen Musiklebens festgelegt wurden,

sondern daß es erst durch ihn (...) auch für uns heutige möglich wurde, die Musik und

die musikalische Entwicklung als einen überschaubaren historischen Prozess zu

interpretieren. Auch die Musikgeschichte ist nicht denkbar ohne Leipzig und Johann

Sebastian Bach, ohne Mendelssohn und Philipp Spitta". (Hans Mayer "Der Widerruf"

Frankfurt 1994)

 

Im Juni 1848 musste Franz Liszt im Salon des Hauses Schumann ein deutliches Wort

über sich ergehen lassen:

 

„Meyerbeer ist ein Wicht gegen Mendelssohn, letzterer ein Künstler, der nicht nur in

Leipzig, sondern für die ganze Welt gewirkt hat. Herr, wer sind Sie, daß Sie über einen

Meister wie Mendelssohn so reden dürfen!“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert

Schumann)

 

1

 

 


 

In einem Brief an den Weimarer Komponisten legt Schumann im darauf folgenden Jahre

begütigend nach:

 

„Und wahrlich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen waren –

Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. – mit den Parisern, Wienern, Berlinern, konnten wir

es ebenfalls auch aufnehmen.“ (zitiert nach Walter Dahms, Robert Schumann)

 

Auch die letzten verbrieften Worte Robert Schumanns, aus Endenich an Clara gerichtet,

bevor er vollends in geistiger Umnachtung verharrte, galten dem toten Leipziger Meister:

 

"Die Zeichnung von Felix Mendelssohn hab ich beigelegt, dass Du sie doch ins Album

legtest. Ein unschätzbares Andenken! Leb wohl. Du Liebe! Dein Robert". (zitiert nach

Walter Dahms, Robert Schumann)

 

Sprachliche Präzision, Schlichtheit des Ausdrucks und feinsinniger Intellekt prägen die

Ausführungen des Geisteswissenschaftlers; Engagement, ja Hingabe die Worte des

Künstlers. Beide kommen jedoch zum gleichen Resümee: Bekenntnis der originären

Stellung Felix Mendelssohn Bartholdys innerhalb der Musik des 19. Jahrhunderts. Den

Musikfreunden unserer Zeit erscheint dieselbe ja sicher auch unzweifelhaft

festgeschrieben, in der eigentlichen musikalischen Wortmeldung aber ist sie abseits

weniger hochpopulärer Zugstücke des klassischen Repertoires bislang eher

schemenhaft wahrzunehmen.

 

Das literarische Engagement Schumanns, Mayers, Heinrich Eduard Jacobs, Georg

Kneplers, Karl-Heinz Köhlers, Eric Werners, Arnd Richters; das explizite Engagement

der Dirigenten Otto Klemperer, Kurt Masur, Peter Gülke u. a. galten auch der

Rückbesinnung auf eine zentrale Epoche der bürgerlichen Musikgeschichte: den Jahren

1835 – 47. In jenen Jahren wirkte Mendelssohn am Gewandhaus als Komponist und

Dirigent und reformierte die deutsche Musik nachhaltig.

 

Mendelssohn etablierte im Gewandhaus zu Leipzig die grosse Philharmonische

Gesellschaft, das eigenständig zelebrierte symphonische Konzert, als wichtigste

Institution wachsenden bürgerlichen Kulturbewusstseins. Darüber hinaus wirkte er

maßgeblich auf gesellschaftliche Akzeptanz des Orchestermusikers als Repräsentanten

neuerstehenden philharmonischen Berufsstandes hin.

 

Er öffnete das Gewandhaus, ästhetischer Vorbehalte eigenen musikalischen

Empfindens gegenüber den Avantgardismen mancher Partitur ungeachtet, den

Komponisten Berlioz, Cherubini, Chopin, David, Gade, Hiller, Liszt, Moscheles, Rossini,

Schumann, Spohr, Wagner und sorgte somit durch Aufbau und Pflege zeitgenössischen

Repertoires für eingehendere Beachtung neuer Musik.

 

Das gewaltige Instrumental-und Sakralwerk des Komponisten und Thomaskantors

Johann Sebastian Bach galt Fachleuten im frühen 19. Jahrhundert als Studienobjekt

musikalischer Formvollendung, aber hoffnungslos antiquiert, "unmelodisch, berechnend,

trocken und unverständlich im Publicum bekannt" (Ludwig Devrient, Meine

Erinnerungen an F. M. B. und seine Briefe an mich, Leipzig 1869); ja als unaufführbar.

 

2

 

 


 

Die Musik Bachs und anderer Meister der Barockzeit und Klassik wurde durch

Mendelssohns Initiative Aufsehen erregender Neueinstudierungen der

"Matthäuspassion" nach beinahe 100 Jahren des Vergessens und "Historischer

Konzerte" im Gewandhaus dem zeitgenössischen Musikleben nachdrücklich ins

Bewusstsein gerufen.

 

Der zeitgenössische Musikbetrieb war vor Mendelssohns Wirken in Leipzig ja vorrangig

auf Präsentation von Neuschöpfungen interpretierender Komponisten ausgerichtet. Die

Wiederaufführungen der Bachschen "Matthäus-Passion" und die "Historischen

Konzerte" fungierten somit als Synonym historischen Gewissens, als Exempel

progressiven Übergangs zu "stetiger Produktion neuer und Reproduktion nicht mehr

"neuer" Musik" (fr. n. Mayer)

 

Felix Mendelssohn engagierte sich beharrlich für das Vorhaben, dem musikalischen

Nachwuchs über traditionelle Angebote von Singschulen und Ratsmusiken hinaus an

einer, den Instituten europäischer Musikzentren vergleichbaren Musikbildungsstätte ein

umfassendes Studium zu ermöglichen. 1843 vermochte er es, unterstützt von

Musikverlegern, Gelehrten und Komponisten, in Leipzig das erste deutsche

Konservatorium im Hochschulrange ins Leben zu rufen. Persönlichkeiten der

Musikgeschichte -darunter die Komponisten Albeniz, Bruch, Delius, Eduard Grieg, Leos

Janacek, Svendsen und Miklos Rozsa -erwarben dort die Grundlagen späteren

Ruhms.

 

Diese Initiative der "Begründung eines neuen (...) gemeinnützigen vaterländischen

Institutes" (Testat Dr. Heinrich Blümners 1839) der Tonkunst lebt fort in der "Hochschule

für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig, welche weiterhin jungen

Menschen aller Nationalität zum Studium von Musik und darstellender Kunst in Theorie

und Praxis offen steht.

 

1. Es wäre wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstlerwürde

“Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung

seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich´s gehört; es wäre

wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler

würde.” Mit solchen Worten irritierenden Wohlwollens bereitete der Berliner Komponist

Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in

Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12 jährigen

musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn vor. Die rhetorisch mit allen

Attributen von Aussergewöhnlichkeit beladene, letztendlich aber ergebnislos

verbliebene Gleichung der Konstanten Jude, Taufe, Judensohn und Künstler verrät

nicht, ob es sich um den Ausdruck einer ehrlich empfundenen Hoffnung oder um

Anmaßung handelt.

 

Dessen ungeachtet erlag Zelter jedoch der Versuchung, mit der Feststellung vom

Künstlertum aus jüdischem Hause als einer Causa von wahrhaft eppes rorer Art, die

jüdische Sprechweise dezidiert zu karikieren.

 

3

 

 


 

“Hepp-hepp-hepp! Judenjunge!” rief ein debiles preußisches Fürstenkind den 10jährigen

Felix Mendelssohn und die 14jährige Fanny auf den Strassen Berlins an, bevor er ihm

ins Gesicht spie. „Hepp-Hepp! Judenjung! schrieen Straßenkinder in dem Küstenort

Dobberan an der Ostsee den beiden entgegen, bevor sie sich aufs sie warfen.

Heldenhaft und gleichmütig befreite er die Schwester aus der bedrohlichen Situation;

sicher geleitete er sie heim – erst dort trieben Zorn und Scham ihm die Tränen heraus.

 

Im Jahre 1812 erließ König Friedrich Wilhelm III. von Preussen auf Anraten des

Staatsministers Karl August von Hardenberg ein Emanzipationsgesetz. Es sollte Juden

die preussische Staatsbürgerschaft gewähren und den lediglich vereinzelt an

herausragende Persönlichkeiten öffentlichen Lebens vergebenen würdelosen Status

der “Schutzjudenschaft” ersetzten.

 

“Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam

auszurotten!” (zitiert nach Arndt Richter, Felix Mendelssohn) empfahl indessen der

Berliner Historiker und Historiograph des Preussischen Staates Friedrich Rühs im Jahre

1814. Er reflektiert so die wahrhaftig vorherrschende öffentliche Meinung gegenüber

gleichgestellten jüdischen Bürgern.

 

Auf volkstümlicherer Ebene erregte zeitgleich die Aufführung der antisemitischen Posse

"Unser Verkehr" auf einer Berliner Bühne Aufsehen, welche die jüdische Lebensweise

zum Gespött zu machen suchte. Die Posse agitierte somit gegen das Hardenbergsche

Unterfangen, Juden zu preußischen Staatsbürgern zu machen. Autor war der Breslauer

Augenarzt Karl Sessa. Die Aufführungen von "Unser Verkehr" lösten Unruhen unter den

Zuschauern aus; als der Berliner Komödiant A. A. Ferdinand Wurm sich auf der Bühne

über die jüdischen Speisegesetze und den jüdischen Widerwillen Schweinefleisch

gegenüber mokierte, wurde das Publikum gar handgreiflich gegen ihn. Flugblätter mit

Aufrufen wie "Dass du in "Unserm Verkehr" die Juden verspottest, die Ursach, sie

begreift sich so leicht: bist du selbst doch ein Schwein" straften Autor und Akteure ab.

 

Dennoch verfehlte die Populär-Komödie nicht ihre Wirkung auf breitere Schichten

"gesunden Volksempfindens". In der Berliner Bevölkerung wurde somit die Forderung

erhoben, jüdischen Freiwilligen im Preußischen Abwehrkampf gegen Napoleon künftig

den Erhalt des Eisernen Kreuzes zu verweigern und ihnen vielmehr ein großes

Geldstück an die Kopfbedeckung zu heften.

 

Nicht zuletzt die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominante

romantische Bewegung, altdeutschen, ja mittelalterlich paraphrasierten sowie

christlichen Idealen huldigend, zählte zu den erklärten Gegnern staatsbürgerlicher

Judenemanzipation. Berüchtigt in diesem Zusammenhang waren „Christlich-Deutsche“,

oder „Christlich-Germanische-Tischgesellschaften“, welche die hochrangigen Literaten

Achim von Arnim und Clemens Brentano, sowie der Publizist Adam Müller in Berlin

unterhielten.

 

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Während Rang und Namen gesellschaftlichen Lebens in Berlin, Persönlichkeiten wie

Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Savigny, Heinrich von Kleist, der

preussische Staatsrat Sägemann, Karl Friedrich Zelter sowie die Fürsten von

Lichnowsky und Radziwill, den Salon des Hauses von Arnim/ Brentano regulär

frequentierten, war Juden nebst Franzosen und Philistern die Teilnahme an den

"Tischgeselligkeiten" und "deutschen Fressgesellschaften" satzungsgemäß verwehrt....)

 

Die Romantiker lehnten jedwede Bestrebung zur Realisierung moderner Ökonomie strikt

ab und sahen die Juden als treibende Kraft derselben an. Daher standen letztere im

Zentrum übler Satiren und „Judenscherze“ der „Tischgesellschaften“. Bettina von Arnim

schliesslich wandte sich vom Treiben Ihres Bruders und Ehemannes angewidert ab.

 

Allein für den Zeitraum des Jahres 1815 bis 1850 lassen sich 2500 Manifeste, welche

die vermeintliche Judenfrage im Für und Wieder thematisierten, nachweisen.

 

Letztere eröffnen bereits den ganzen Katalog vertrauter antisemitischer Demagogie

des Kaiserreichs und des 20. Jahrhunderts. Das Spektrum reicht von der

Zwangsassimilierung durch christliche Taufe, der „Veredelung“ und Bekehrung mithilfe

religiös-moralischer Vereine, über Seuchen-und Ungeziefermetaphorik, Betrachtungen

hinsichtlich Sexualamputation, Ausweisung, Austreibung, Deportation nach Palästina bis

hin zu Völkermordphantasien.

 

Der seinerzeit viel rezipierte nationalistische Publizist und Dichter Ernst Moritz Arndt,

der im 20. Jahrhundert vom rassebiologisch grundiertem Wahn des deutschen

Nationalsozialismus als dessen "Vordenker" gefeiert wurde, konstatierte im Jahre 1814,

das dass Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht habe, nicht zu

"verbastarde(n), keine Mischlinge geworden" zu sein. Über Jahrtausende hinweg sei es

vielmehr auf seiner "Urerde" rassisch "rein" geblieben. Nunmehr allerdings, führt Arndt

des weiteren aus, sei das "germanische Wesen im höchsten Maße durch das

Voranrücken der Franzosen und der Juden bedroht, welche letztere mit dem

Prosperieren von "Ungeziefer" zu vergleichen sei. “Verflucht aber seien die Humanität

und der Kosmopolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns

preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung." schliesst Arndt.

 

Der berühmte Zeitgenosse Freiherr vom Stein attestierte Arndt denn auch eine

"Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes". Arndt forderte die

Unterbindung der Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln sowie die

Verwehrung des vollen Bürgerrechtes für die deutschen Juden und "getauften

Judengenossen“. Arndt plädiert im Gegenzug vielmehr für das "Aufgehen"

alteingesessener deutscher Juden vermittels vollständiger Aufgabe der jüdischen

Religion und Kultur und Amalgamierung mit der christlich-germanischen Umwelt. Das

Verschwinden des "verdorbenen und entarteten" jüdischen Idioms wäre, Arndt zufolge,

durch Konvertierung zum Christentum nach 3 Generationen somit möglich.

 

Neben Friedrich Rühs trat auch der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob

Friedrich Fries als Demagoge antisemitischer Vernichtungsphantasien hervor. In einem

1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der

Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten Pamphlet erging sich Fries in

übersteigerten Gewaltmetaphern. In einem 1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung

des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“ veröffentlichten

Pamphlet erging sich Fries in übersteigerten Gewaltmetaphern

 

5

 

 


 

Er und forderte: „Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien, wie es dort allem Volke zur

Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen brennen zu sehen, wie sie dort

die Regierung (...) samt und sonders zum Lande hinausjagen musste. Fragt doch

einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber

und Brotdiebe hasst und verflucht“

 

Im Zenit fremdenfeindlich-menschenverachtender Ereiferungen aber stehen die

Gewaltpathologien des Radikaldemagogen Hartwig von Hundt-Radowsky: Im

"Judenspiegel -ein Schand-und Sittengemälde alter und neuer Zeit" aus dem Jahre

1819 regte er u. a. dazu an, die deutschen Juden den Engländern als Arbeitssklaven für

die indischen Kolonien anzudienen. Neben der Zwangsarbeit auf den weitläufigen

Pflanzungen, erböte sich des weitern die Deportation in die Erzminen. Von Natur aus

über „ein herrliches Spürorgan für alle edeln Metalle und Steine“ verfügend, wäre eine

Tätigkeit dort, - sicherheitsverwahrt von „geheimen Polizeispionen" - gewinnträchtig.

 

Die männlichen Juden wären sämtlich zu kastrieren, die Frauen hingegen in „gewisse

weibliche Erziehungsinstitutionen“ genannte Bordelle zu verbringen um dort den

Machthabern gefügig zu sein. Hundt-Radowsky stellt in Schriften wie dem

"Judenspiegel" oder der 1822/23 in der Schweiz erschienen "Judenschule" des weiteren

hanebüchen-menschenverachtende Behauptungen über das Wesen der jüdischen

"Rasse" auf:

 

"Der Teufel ist barmherziger als ein Jude". Von Geburt an eigen sei den Juden auch

"ihr specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen

gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben." (...) "Eine...Annäherung oder

Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und

sittliches Verderben zur Folge haben. (...) Was Grosses, Erhabenes und Göttliches an

seinem (Jesu Christi) Leben und seinen Handlungen war, das können die Juden,

welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für sich anführen."

 

Des Weiteren ergeht sich Hundt-Radowsky in Gewaltphantasien und -forderungen

hinsichtlich der vollständigen Austreibung und Vernichtung des jüdischen Volkes. Seine

Schriften zählen somit zu den unmittelbaren Anfängen eines eliminatorischen

Antisemitismus und nehmen dabei die deutsche Rassenpolitik und Judenvernichtung im

 

20. Jahrhundert; die Geschehnisse des "III. Reiches" rhetorisch nahezu deckungsgleich

vorweg. Der Historiker Peter Fasel schreibt bzw. zitiert dazu in der Wochenzeitung "Die

Zeit" vom 22. Januar 2004" in seinem Aufsatz "Vordenker des Holocaust":

"Die Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert werden. (...)

Am besten wäre es jedoch, (anstelle eines Verkaufs an die Engländer, welche Hundt-

Radowsky wenig später als missliebige "weiße Juden" brandmarken sollte, Anmk. d.

Verf.) man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer".

 

Die Juden sollten, das wäre Hund-Radovsky offenbar am liebsten gewesen, nach

Abhaltung eines Tribunals ("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber,

man verfrachte sie, vollständig enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in

unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen "vielleicht ganz (...) von der Erde vertilgt

würden", ohne dass man sich selber die Finger schmutzig machen müsse!

 

Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "Weißen" Juden (im Gegensatz zum

"echten", "schwarzen" Juden, zu welchem Hundt-Radowsky auch die Zigeuner zählte,

also einem, Hundt-Radowsky und seiner deutschen Leserschaft missliebiger Europäer,

Anm. d. Verf.) wird das antisemitische Wahnsystem komplett."

 

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Hundt-Radowsky verneint in seinen Schriften vehement die Möglichkeit, die Juden

vermittels Taufe "verbessern" zu können. "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau

nur ein anderes Zeichen auf den Hintern" schreibt der Demagoge. Die jüdischen

"Schädlinge" blieben, Hundt-Radowsky zufolge, ihrem "zutiefst verderbten Charakter ewig

und unwandelbar gleich, was auch passiert, (...) bis sie endlich durch ein

furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden". " (zit. n.

Fasel

 

Der Judenspiegel wurde im Herbst des Jahres 1819 in Schwarzburg-Sonderhausen,

einem damaligen thüringischen Kleinstaat, vom Verleger Bernhard Friedrich Voigt

herausgegeben. Anstelle des waren Namens Joachim Hartwig von Hundt-Radowsky

firmierte das Pseudonym Christian Schlagehart als Autor des Werkes. Das Buch erfuhr

innerhalb von 3 Wochen zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren.

 

Der "Judenspiegel" wurde in Bayern und Preussen mit der Begründung einer Störung

konfessionellen Friedens indiziert; Hundt-Radowsky sah sich als Volksverhetzer

polizeilicher Verfolgung ausgesetzt. In Baden-Württemberg hingegen stand die Presse-

und Meinungsfreiheit konstitutionell über dem Verfassungsrang konfessioneller

Unversehrtheit, so daß die Schriften Hundt-Radowskys dort weiterhin publiziert wurden

und wo der Judenspiegel in Reutlingen, Cannstadt und, gekürzt, in Ulm Neuauflagen

erfuhr. Noch im Jahre 1848 erlebte das Pamphlet eine Wiederauflage unter dem Titel

"Die Naturgeschichte der Juden", welche in Wien herausgebracht wurde.

 

Die 3bändigen Folgeschriften "Die Judenschule oder gründliche Anleitung, in kurzer

Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden", welche mit 1160 Seiten

zu den umfangreichsten antisemitischen Pamphleten überhaupt zählt, erschien im Jahre

1822/23 in Aarau im Schweizer Exil Hundt-Radowskys. Auch dieses Werk erfuhr eine im

Jahre 1830 wiederum in Reutlingen herausgegebene Wiederauflage, welche unter dem

Titel "Die Juden wie sie waren, wie sie sind und wie sie seyn werden" erschien.

 

2. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude

Zahlreiche jüdische Familien in Deutschland konvertierten zu Beginn des 19.

Jahrhunderts zum Christentum. Sie folgten darin einer weithin verbreiteten Interpretation

von Lehren der Aufklärer Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, religiöse

Fragen dem Prinzip der reinen Vernunft; die Orthodoxie der Vorstellung eines

konfessionsübergreifenden Deismus anheimzugeben und erklärten sich somit bereit, an

der bestehenden christlichen Mehrheitsgesellschaft teilzunehmen.

 

(Dieser zeitgenössischen Interpretation der Schriften Moses Mendelssohns entgegen,

weigerte sich der Philosoph entschieden, selbst zum Christentum zu konvertieren und

wandte sich öffentlich gegen eine derartige Auslegung seiner Lehren, Anmk. d. Verf.)

 

Andere entschlossen sich zu diesem Schritt, um sich vor den bedrohlichen

Folgeerscheinungen eines National-Fanatismus, zu schützen, den der Kantschüler

Johann Gottlieb Fichte ab etwa 1790 propagierte.

 

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“Germanomanie”; eine Philosophie elaborierten Nationalbewusstseins. Diese griff, in

Ermangelung der Realität geeinter deutscher Nation auf Elemente wie “teutsches

Volkstum” und “germanisches Christentum” als alleingültige Fundamente imaginierten

deutschen Vaterlandes zurück. Die Hepp-Hepp-Unruhen, (nach der populären

Strassen-und Gewaltparole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben! Ihr

müsst fliehen oder sterben!", Anmk. d. Verf.) welche im Jahre 1819, von der

fränkischen Residenzstadt Würzburg ausgehend, in Deutschland und europäischen

Nachbarstaaten Gewaltakte gegen jüdische Ansiedlungen und Bürger bedingten,

nahmen zahlreiche jüdische Familienvorstände denn auch als eindringliche Warnung

auf.

 

“Man kann einer gedrückten, verfolgten Religion getreu bleiben; man kann sie seinen

Kindern als eine Anwartschaft auf ein sich das Leben hindurch verlängerndes Martyrium

aufzwingen -solange man sie für die Alleinseligmachende hält. Aber sowie man dies

nicht mehr glaubt, ist es eine Barbarei. -Ich würde rathen, daß Du den Namen

Mendelssohn Bartholdy zur Unterscheidung von den übrigen Mendelssohns annimmst.”

 

Die Worte Jacob Salomons, Felix Onkel väterlicherseits, bestärkten die Eltern in dem

Schritt, ihre Kinder Fanny und Rebekka, Felix und Paul im Jahre 1816 protestantisch

taufen zu lassen. Lea und Abraham Mendelssohn folgten den Kindern erst im Jahre

1822 darin.

 

Im Jahre 1830 gemahnte der Vater, welcher sich hellsichtig gegenüber eines

zunehmend judenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas, nurmehr Abraham M. Bartholdy

nannte, eindringlichst:

 

„Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen. Du musst Dich also Felix

Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen

Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nicht,

schon allein, weil es nicht wahr ist.“

 

Der bereits zu Berühmtheit gelangte Felix folgte dem Rat Abrahams dennoch nicht. Der

Sohn, dem Vater in allem übrigen ehrerbietig gehorsam, widersetze sich dies eine Mal.

 

Obgleich ein tiefgläubiger Protestant, war es ihm ausgeschlossen, die familiäre

Tradition und Identität zu negieren. Es kam schliesslich zu der Übereinkunft, künftig

beide Namen, parallel, gleichberechtigt einander gegenüberstehend; unverbunden zu

nennen. Als Synonym einerseits für das familiäre Erbe und den Schritt in die von

Abraham imaginierte Gewissheit potentieller bourgeoiser Geborgenheit andererseits. Im

übrigen hatten die gepflegte Diffamie Carl Friedrich Zelters, dass Hepp-Hepp-

Judenjung! -Geschrei, welches Felix und Fanny allenthalben entgegenschlug, also die

beharrliche Ansprache eines Stigmas jüdischer Geburt Felix hinlänglich bewiesen: die

bürgerlich-christliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beabsichtigte keineswegs,

Juden, ob getauft oder nicht, dauerhaft und gleichrangig in Ihre Reihen aufzunehmen.

 

Die falsche Schreibweise Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeugt somit die

Ahnungslosigkeit oder gar Bedenkenlosigkeit bezüglich diffiziler jüdisch-deutscher

Befindlichkeiten. Oder schlimmer noch: es verbürgt das allgemein gepflogene

antisemitisch bedingte Bestreben, den Schritt der Mendelssohns in die protestantisch

geprägte Bürgerlichkeit nachhaltig zu negieren. Oder vielmehr, einen auch nicht durch

den Versuch der Namensangleichung überbrückbaren Makel jüdischer Geburt, die

Zugehörigkeit Mendelssohns zur jüdischen "Rasse" als untilgbares Stigma ein für

allemal festzuschreiben.

 

8

 

 


 

Dennoch bekannte sich Felix Mendelssohn Bartholdy uneingeschränkt zu den

kulturellen und historischen Traditionen, der anthropologischen Bewusstheit seines

deutschen Heimatlandes.

 

Abraham Mendelssohn ließ seine Kinder durchaus im Geiste kosmopolitischer Bildung

erziehen und gestattete dem musikalisch bewunderten Jüngling Felix ausgedehnte

Bildungsreisen durch die Kulturnationen Europas. Dieser ging, nachdem Cherubini am

Conservatoire de Paris die Begabung des Jungen geprüft und dem Vater die unbedingte

Befähigung zu zukünftiger musikalischer Profession attestierte, daran, zu prüfen, ob ihm

die europäischen Kulturzentren möglicherweise ebenfalls eine musikalische Heimat zu

finden ermöglichten.

 

Das Ergebnis stand im Jahre 1832 endgültig fest. Noch aus Paris teilt er es zu

Jahresbeginn seinem Mentor Carl-Friedrich Zelter mit:

 

"Wenn ich...nur von den Hauptpuncten meiner Reise Ihnen hätte schreiben wollen, so

hätte ich es eigentlich aus Deutschland thun müssen. Denn wie ich jetzt nach alle den

Schönheiten, die ich in Italien und der Schweiz genossen hatte,...wieder nach

Deutschland kam, und namentlich bei der Reise über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt,

den Rhein herunter nach Düsseldorf, da merkte ich, daß ich ein Deutscher sey und in

Deutschland wohnen wolle...."

 

Einerseits beharrte er auf seinem jüdischen Geburtsnamen und der Bewusstheit seines

jüdischen Großvaters, andererseits aber registrierte er die allgemein um sich greifende

Verketzerung staatsbürgerlicher Habilitation deutscher Juden wachsam.

 

Somit erfüllte ihn das Bekenntnis zu diesem seinem Heimatlande unausgesetzt mit

Befürchtungen. Und so schliesst besagtes Schreiben mit der Erwägung, zukünftig ja

immer noch von den Möglichkeiten europäischer Musikzentren Gebrauch machen zu

können, wenn denn: „die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen,

dann bleibt mir die Fremde immer noch, wo es dem Fremden leichter wird, aber ich

hoffe, ich werde es nicht brauchen.“

 

Dieser Wunsch zumindest wurde Felix Mendelssohn in Persona erfüllt. Wie es mit der

Verankerung des Felix Mendelssohn Bartholdy in Heimat und Fremde insgesamt; der

Ein-oder Ausbürgerung des „historischen Augenblicks“ Felix Mendelssohn (Hans

Mayer) bestellt bliebe, an dieser Stelle zu resümieren, hieße vorzugreifen.

 

Bereits zu Lebzeiten fiel der Komponist und spätere Gewandhauskapellmeister Kritik

anheim, welche sich nicht an der musikalischen Leistung, sondern an der jüdischen

Abstammung Mendelssohns entzündete.

 

Als im Jahre 1833 nach dem Tode Carl Friedrich Zelters die Nachfolge in der Leitung

der Berliner Singakademie zur Wahl stand, votierten 152 Mitglieder für den musikalisch

als farblos überlieferten Kandidaten Carl Friedrich Rungenhagen und 88 für den

Kandidaten Felix Mendelssohn. Obgleich dieser im Jahre 1829 die Akademie mit der

Wiederaufführung der Matthäuspassion zu einem Musikereignis höchsten Ranges

führte, erhoben sich innerhalb derselben Rumor wie: "...die Singakademie sei, durch

ihre fast ausschließliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es

sei darum unerhört, daß man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle".

(zitiert nach Eduard Devrient) "Sie wollten ihn halt nicht haben, den Judenjungen!"

konstatiert Hans Mayer im Rückblick auf die Vorgänge der Berliner Chorwahl und

Mendelssohns Demission vom Amte des Musikdirektors der Stadt Düsseldorf.

 

9

 

 


 

Das Votum gegen einen Chordirektor Felix Mendelssohn kann auch als gezielter, sublim

antisemitisch motivierter Affront gegen die Familie Mendelssohn interpretiert werden.

Diese war personell innerhalb des Chores zahlreich vertreten und trat darüber hinaus

als Mäzen der Akademie auf; nach der Brüskierung Felix zogen sich die Mendelssohns

vollständig von der Singakademie zurück.

 

Manfred Blumner, der Direktor späterer Jahre, führt hingegen zur Rechtfertigung des

damaligen Wahlgeschehens heran: "...daß es vielen, namentlich älteren Mitgliedern

Bedenken erregen musste, einem 23 jährigen Jünglinge an eine soviel persönliches

Ansehen erfordernde Stelle (...) zu berufen" und "ahnten doch viele noch nicht seine

ganze nachhaltige Größe und Bedeutung." (Berlin 1891) Auch von Intrigen, einer

"unappetitlichen Rolle" der "raffgierigen" Doris Zelter (die Tochter Carl-Friedrich Zelters)

und erheblichen Kabalen um die Direktionsnachfolge ist die Rede.

 

In Rückerinnerung an die Tage sensationell wiedererweckter Matthäuspassion im

Frühjahr des Jahres 1829 berichtet Devrient weiter, das Felix nächtens mitten auf dem

Opernplatz stehen bleibend, übermütig rief "daß es ein Komödiant und ein Judenjunge

sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!"

 

Es verweist auf die immens zutagetretende Fähigkeit des Jünglings, sowohl die

unausgesetzt diffuse staatsbürgerliche und soziale Situation als auch das vertraut-

inkriminierende „Judenjungen! Attribut zeitweilig ironisch zu kommentieren.

 

Die literarisch-politisch agierende "Jungdeutsche Bewegung" der 30ssiger und 40ziger

Jahre des 19. Jahrhunderts; dieser gehörten u. a. die Literaten Heinrich Laube, Georg

Büchner, Karl Gutzkow, Theodor Mundt, Ludwig Börne und Heinrich Heine an,

kultivierte neben liberalen, föderalistischen und revolutionären Forderungen auch

erhebliche antisemitische Ressentiments. So sahen sich studentische und publizistische

Aktivisten in den eigenen Reihen wie die Konvertiten Heinrich Heine und Ludwig Börne

stetiger Diffamierung ausgesetzt; wurden beispielsweise als „jungpalästinensich“

verhöhnt.

 

In den Jahren 1835 und 1841 wurde die Familie Mendelssohn zum unmittelbaren Objekt

antisemitisch intendierter Intrigen. Diese hätten in der Folgewirkung beinahe zu

Handgreiflichkeiten Felix Mendelssohns gegen den nachrangigen, den Kreisen der

Zelter-Familie zugehörigen Publizisten Riemer, und somit zu einem Eklat geführt.

 

Prof. Friedrich Wilhelm Riemer, ein Studienrat und Adept Johann Wolfgang von

Goethes veröffentlichte im Jahre 1841 Reminiszenzen an den Dichterfürsten unter dem

Titel: „Mitteilungen über Goethe“. Als Herausgeber des Goetheschen Nachlasses

provozierte Riemer aber bereits im Jahre 1835 mit der indiskreten Publikation der

unzensierten, die Belange zahlreicher lebender Personen wie die Mendelssohns

nunmehr der Öffentlichkeit preisgebenden Korrespondenz des Goethe-Altersfreundes

Zelter.

 

Darunter befand sich auch jenes berüchtigte, bereits Eingangs zitierte Schreiben vom

Judensohne und den Künstlern. Fanny und Felix Mendelssohn brachen, quasi als sie

erfuhren, wie Zelter in Wahrheit über die Mendelssohns, die Juden oder beides im

Zusammenhang dachte, daraufhin auch in der Erinnerung mit dem einstmals verehrten

und geliebten Lehrer. Die innerfamiliäre Erregung angesichts der Affäre,

Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen Riemer das

Haus Mendelssohn überzog, führten möglicherweise zum unerwarteten Tod Abraham

Mendelssohns durch einen Schlaganfall am 19. November 1835.

 

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Doris Zelter, die einstmals unter der Protektion Abraham Mendelssohns stehende

Tochter C. F. Zelters, wurde als intrigant, altjüngferlich und verbittert überliefert. Als Co-

Initiatorin der Publikation des Goethe-Zelterschen Nachlasses, kommentierte sie den

Vorgang in einem an Riemer gerichteten Schreiben verständnislos, aber mit abfälligem

Unterton:

 

„Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf

den Hals geladen, und ich glaube kaum, daß der alte Tempel das Klagegeschrei und

Gequatsche aushält (...) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug“

 

In seinen nunmehr im Jahre 1841 herausgegebenen „Mitteilungen über Goethe“ nutzte

Riemer indes das potentielle öffentliche Interesse am Sujet offenkundig zur Rhetorik in

eigener Sache sowie zu aggressiver antijudaischer Agitation. In Kapiteln wie jenem,

„Juden“ übertitelten, sind Ausfälle gegen assimilierte ehemalige Juden wie Abraham,

Fanny und Felix Mendelssohn zu lesen:

 

"Das Prinzip, aus dem die ganze (jüdische) Nation hervorgegangen, aus dem sie

gehandelt hat...ist indelibel; man denke also nicht Mohren Weiß zu waschen, auch dank

der christlichen Taufe nicht, wie man etwa im Mittelalter den foetor judaicus (den

Judengestank) dadurch zu tilgen glaubte...“

 

Des Weiteren griff Riemer demonstrativ auch die Abraham-Mendelssohn-Affäre des

Jahres 1835 wieder auf. Eingangs verhöhnte er das Angedenken des Verstorbenen mit

Phrasen, welche im Geiste dezidierter persönlicher Entwürdigung auf den Assimilierten-

Status anspielten:

 

"Möge indessen der gute Schwiegerpapa (d. i.: Abraham Mendelssohn) sich durch das,

was Börne und Heine (sic!) über Goethe vor den Augen des ganzen Deutschlands

ausgegossen, zu seiner Satisfaktion mitgerächt, oder, wie man sagt, mitgerochen

haben!“

 

Schwerwiegender erwiesen sich die erneut vorgebrachten Vorwürfe semitischer

Zensurbestrebungen seitens der Familie Mendelssohn. Riemer behauptete in den

„Mitteilungen“ Abraham Mendelssohn habe ihn seinerzeit als Herausgeber der Zelter-

Goetheschen Korrespondenz vermittels anonymen Schreibens unter Druck setzen

wollen, unvorteilhafte Äußerungen des Dichterfürsten über die künstlerischen

Fähigkeiten Wilhelm Hensels; Fannys Bräutigam, zu unterschlagen.

 

Wie wir aus einem Schreiben des Komponisten vom 3. Juli 1841 an den Bruder Paul

Mendelssohn wissen, erregte sich Felix Mendelssohn über „eine so lieblose, mich

empörende Weise“, in welcher Riemer „über Vater gespöttelt und hergezogen“ sei in

hohem Maße.

 

Er erwog allem Anschein nach ernstlich, dem Angedenken des Vaters durch einen

öffentlichkeitswirksamen Ohrfeigenauftritt Riemer gegenüber, Genugtuung zu

verschaffen. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gewandhauskonzerte, Conrad

Schleinitz, brachte den bereits zu hohem Ruhme und Ansehen gelangten Kapellmeister

seines Hauses aber „ernstlich und besorgt“ von diesem Unterfangen ab.

 

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Mendelssohn schrieb dem Bruder des Weiteren:

 

„Lies übrigens das ganze Capitel „Juden“ aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen.

Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise

von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen...aber dass einer den Namen unseres

verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und

darf ich nicht ungeahndet lassen.“

 

In einer Rezension der Ballade Ahasver des Dresdner Dramatikers Julius Mosen (dieser

hatte sich vor allem durch ein Rienzi-Drama namhaft gemacht, welches parallel zur 5aktigen

Erfolgsoper Richard Wagners entstand) aus dem Jahre 1838 dozierte Karl

Gutzkow u. a. über vermeintlich semitische Grundwesenszüge der Titelfigur. Des

Weiteren sprach er sich vehement gegen Bestrebungen staatsbürgerlicher Habilitation

von Juden aus:

 

„Ahasver ist der Jude in seinem nichtigen Materialismus (...), ist der Jude in alledem,

was ihn von dem Berufe, an der Geschichte teilzunehmen, ausgeschlossen hat, der

Jude gerade in seiner Missionsunfähigkeit. Er ist das Schlechte am Judentum, das

Lieblose, Parteiische, Hämische, Zersetzende, er ist gerade alles das, was noch immer

die Emanzipation am meisten verhindert.“

 

Im gleichen Zeitraum artikulierte sich erhebliches antisemitisches Ressentiment seitens

junghegelianischer Philosophen und Frühsozialisten. Letztere vor allem stellten die

Juden ins Zentrum radikalökonomischer Kapitalismuskritik und bezogen sich dabei auf

das tradierte Klischee des Schacherers. Wortführer sozialistischen Antisemitismus

waren Bruno Bauer, Arnold Ruge und Karl Marx. In der Publikation Judenfrage stellt

Bruno Bauer im Jahre 1842 dem Programm staatsbürgerlicher Habilitation die

Forderung entgegen, das die Juden sich vor dem Vollzug bürgerlicher Emanzipation

erst zu „Menschen“ zu emanzipieren, also ihr konfessionelles Bekenntnis aufzugeben

hätten. Karl Marx paraphrasierte die Bauerschen Thesen im Herbst des Jahres 1843

bereits im Titel des Essays "Zur Judenfrage" und wiederholt darin sowohl die

einschlägigen Stereotypen des berechnenden Finanz-und Machtjuden als auch die

frühsozialistische These der Emanzipation, der Erlösung des Menschen aller

Konfessionen von der Macht und Faszination des Geldes. Marx schrieb also:

 

„Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (...) der "Eigennutz". Welches ist der

weltliche Kultus des Juden ? Der "Schacher". (...) sein weltlicher Gott? Das "Geld". (...)

Die Emanzipation vom "Schacher "und vom "Geld", also vom praktischen, realen

Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. (...) Die "Judenemanzipation" in

ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom "Judentum".

 

Eine Gegnerschaft ganz eigener Art erwuchs den Mendelssohns indes in der Person

und Lehre des in jenen Tagen im Pariser Exil lebenden und wirkenden Dichters

Heinrich Heine. Jener, welcher bereits im Jahre 1825 vom Judentum zum Christentum

konvertiert war; sich somit das „Entréebilllet“ zu der, den Juden seinerzeit

verschlossenen europäischen Kultur verschaffte hatte, bereute diesen Schritt ein Leben

lang, gab sich somit zwiespältigen, zwischen Judentum und Christentum

widerstreitenden Empfindungen und allgemeinen Vorwürfen hin.

 

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Umso schärfer als er selbst unter diesem Zustande leiden sollte, beobachtete er von

Paris aus das Walten und Gebaren anderer Konvertiten wie Ludwig Börne und Felix

Mendelssohn. Eifersüchtig gewahrte er die erklärte, ihm selbst verwehrte, vollgültige

Hingabe und Hinwendung Mendelssohns zum protestantischen Glauben. In einem Akt

von Selbsthass beargwöhnte Heine dabei eine, Mendelssohn unterstellte,

hyperkritische evangelische Christianisierung des Konvertiten, welche sich auch beredt

im Werk (Vertonung biblischer Texte und Psalmen) Ausdruck verschaffte.

 

In jener episch-satirischen Dichtung, welche Heine dem verlorenen, aus politischen

Gründen zwangsweise gemiedenen Vaterlande widmete und welche eben darum

„Deutschland – ein Wintermärchen“ heißt, führt Heine einen deftigen, spöttischen

Seitenhieb auf den gefeierten, zeitgenössischen Komponisten, Es heißt also darum in

Caput XVI, Vers21-24: „

 

„Der Abraham hat mit Lea erzeugt; ein Bübchen, Felix heißt er, er hatte es weit im

Christentum, Ist schon Kapellmeister...“

 

Im Jahre 1842 schreibt Heinrich Heine über Mendelssohn und beschwört einen Konflikt

heraus zwischen dem praktisch-musikalisch angewandten Christentum von Felix

Mendelssohn und jenes Giaccino Rossinis, welche sich doch bei einem Treffen in

Frankfurt am Main im Jahre 1836 persönlich, sehr gut verstanden hatten. Dabei

vergleicht Heine das in der „Stabat Mater“ zum Ausdruck gebrachte Christentum

Rossinis als symbolisches, machtvolles Apeninnengebirge mit jenem in Mendelssohn

Oratorium „Paulus“, welches lediglich die Ausmaße eines kümmerlichen Hügels bei

Berlin annähme.

 

Und so steht in der Pariser Zeitschrift „Lutetia“, erschienen in der Mitte des Monats

April 1842: (Erstveröffentlichung in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, in englisch

zitiert in dem und entnommen dem Aufsatz „1848, anti-Semitism, and the Mendelssohn

Reception“ von Donald Mintz) anlässlich einer religiösen Prozession in dem Ort Sète

südlich von Montpellier:

 

Accordingly, the greatest artists in music as in painting have sought to decorate the

overhelming horrors of the Passion with as many flowers as possible and to ameliorate

the bloody seriousness with playfull tenderness – and this is what Rossini did, when he

composed his “Stabat Mater”. (...) I find the „Stabat „ by Rossini more truly Christian

than „St. Paul“, the Oratorio by Felix Mendelssohn-Bartholdy that is praised by Rossinis

opponents as a model of Christianity. (...) I wish to civil about the christianity of the

aforementioned oratorio, because Felix Mendelssohn-Bartholdy is by birth a Jew. But I

cannot avoid indicating that at the age at wich Herr Mendelssohn adopted Christianity –

he was baptised in his thirteenth year – Rossini had already left it and had plunged into

the Secularity of the operatic world. (...) In the same series of concerts we heard the „St.

Paul” of Herr Felix Mendelssohn-Bartholdy, who by this propinquity drew our attention to

him and himself called forth the comparison with Rossini. In the view of the great public,

this comparison in no way come out to the advantage of our young countryman. It is as

if compared the Apennines with the Templower Hill in Berlin. (..)

 

Dabei behauptet Heine hartnäckig, dass Felix Mendelssohn im 13. Lebensjahre

evangelisch getauft wurde. In Wahrheit fand die Taufe Felix Mendelssohns bereits im

Jahre 1816, also in einem Alter von 7 Jahren statt.

 

13

 

 


 

In der Zeitung “Lutetia”, im Anhang: Musikalische Saison von 1844 – Erster Bericht;

Paris, vom 25. April 1844 referiert Heine über Mendelssohns Stil und seine Ästhetik,

spricht dem Komponisten aber die Fähigkeit zu dramatischer Komposition und zu

musikalischer Ergriffenheit durch sein Wirken vollständig ab. Dies Vorurteil sollte in

wenigen späteren Jahren wieder aufgegriffen und publiziert werden. Heinrich Heine

nimmt also eine Vorreiterfunktion der später um sich greifenden Mendelssohn-Ächtung

an.

 

Es steht also in der „Lutetia, 1844“:

 

“Mendelssohn always offers us the occasion to consider the highest Problems of

aesthetics, that is, he always brings up the great question: What is the difference art and

falsehood? In the case of this master, we admire especially his great talent for forms, for

stylistics, his talent for making the most extraordinary his own, his charmingly beautiful

writing, his tenderly filing horns and his serious – I might almost say passionate –

indifference. If we look for a parallel phenomena in a sister art we shall find it in literature

and it is called Ludwig Tieck. This master too knew how to reproduce the most

advantageous qualities, whether in writing or declaiming, and he even understood how

to manufacture the naive; yet he never produced anything that moved the masses and

remained lively in their hearts. The more talented Mendelssohn would more likely

succeed in creating something lasting, but not on the territory where truth, in spite of his

most intense wishes never brought off a real dramatic contribution”.

 

In der Ausgabe der "Neuen Zeitung für Musik" ("NZfM") in Leipzig vom 1. März 1846

agitierte die Meissner Schriftstellerin Louise Otto (1819-95) in einem Artikel namens

"Parteien -Cliquen" gegen den Gewandhausdirektor und Komponisten Felix

Mendelssohn. Ohne ihn namentlich zu nennen, stellte sie in anspielungsreicher

Beschreibung dessen umfangreiches lokales und überregionales Musikengagement als

reaktionäre Egomanen-, Cliquen-und Adeptenwirtschaft dar. Obgleich sich Louise Otto

in der Attacke auf Felix Mendelssohn offenkundiger judenfeindlichen Attribute enthielt,

umriss sie beispielhaft einen zentralen Aspekt antisemitischen Demagogie. Es sollte

wenig später ganz unmittelbar zum Ausdruck kommen und bis in die rassenbiologisch

ausgeprägte Rhetorik des Nationalsozialismus unverändert gebräuchlich sein: der

vermeintliche Hang und die Fähigkeit "des Juden", sich vermittels Cliquenwesens

Vorteile, Einfluss, Beherrschung und Vormacht gar in Kultur und Gesellschaft zu

verschaffen. In der "NZfM" behauptet Luise Otto also:

 

" (...) die einen halten eigensinnig fest an dem Bestehenden, und möchten, daß immer

Alles so bliebe, wie es gerade ist -so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche

nur am Vergangenen sich erfreuen...und denen, welche das Dagewesene nur als

Grundlage wollen gelten lassen, darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören

soll. (...)

 

Da ist z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisiert sich aus den

Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Kompositionen,

sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur was

diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen. (...)

 

Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn,

daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fußstapfen ihm nachtreten,

ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen (...)

 

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Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht...gar nichts anderes übrig, als irgend einer

solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken

sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine

Parteien. (...)

 

Der somit als eigensüchtig und reaktionär dargestellten "Clique" stellt die Autorin in der

Folge die Idealvereinigung einer "Partei" hochherzig Gleichgesinnter gegenüber. In

eindeutiger Bezugnahme auf Mendelssohns Bemühungen um nachhaltigen Rückgewinn

des Bachschen Werkes umreißt sie vorab die Entwicklung eines zielstrebig geschürten

"Parteienstreites". Dieser sollte wenige Jahre darauf zum Ausbruch kommen und die

deutsche Musikwelt bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges bewegen. Wie sich noch zu

zeigen wird, hatte die "Neue Zeitung für Musik" im Benehmen eines maßgeblich tätigen

publizistischen Aggressors an den künftigen Geschehnissen erheblich Anteil und

bereitete demselben in Pamphleten wie diesem offenkundig die ideologische Grundlage.

 

Luise Otto führt also des Weiteren aus:

 

"Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewusstsein huldigen, welche an den Fortschritt,

an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben, welche nicht in die Redensart der

Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was zu erreichen möglich ist, erreicht durch die

grossen Leistungen der alten Meister(...)“

 

Alle diejenigen sollten sich durch festeres Zusammenhalten mit den Gleichgesinnten

sich gewissermaßen als Fortschrittspartei organisieren, "um so leichter der ungleich

stärkeren Schar derer entgegenzutreten, welche von keinem Vorwärts etwas wissen

wollen (...) Diese Leute, welche nie von der Stelle wegzubringen sind, (...) halten (...),

weil sie an gar kein Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege

einschlagen können, weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschritts, da

es viele Wege gibt, welche weiterführen".

 

Im November des Jahres 1846 unterstellte das "Leipziger Tagblatt" Mendelssohn als

Uraufführungsdirigenten von Robert Schumanns 2. Symphony in einer anonym

verfassten Rezension diffuse ”mosaische” Interessen. Er habe im Verlaufe des

Premierenkonzertes -dem begeisterten Drängen des Publikums nachgebend -seine

fulminante Interpretation der vorangestellten Rossini-Ouvertüre "Wilhelm-Tell"

demonstrativ wiederholt, bestrebt, die Uraufführung des Werkes eines deutschen

Komponisten zu diskreditieren.

 

Der Anwurf verleugnet gezielt 2 wesentliche Umstände: die gängige zeitgenössische

Konzertpraxis: d. h. Wiederholung von Darbietungen auf Akklamation hin; des weiteren

die freundschaftlich kollegiale Beziehung zwischen Schumann und Mendelssohn.

 

Wenige Abhandlungen Schumanns/ Mendelssohns erwähnen diese anonym

veröffentlichte, mit antisemitischem Affekt aufgeladene Rezension im Leipziger

Tagblatt. Er findet sich mehr oder weniger ausführlich dargestellt lediglich bei Eric

Werner, Walter Dahms und dem neuen Clara & Robert Schumann-Buch von Wolfgang

Held.

 

Die Zielgenauigkeit solcherart Infamie, beweist die heftige Erregtheit Mendelssohns in

Kenntnisnahme des Anwurfs. Er verweigerte inständig die musikalische Leitung der B-

Premiere des Werkes und künftig jedweder Aufführung einer Schumann-Komposition.

 

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Nur dem gütlichen Einwirken Cécile Mendelssohns und der als Gast im Hause

Mendelssohn weilenden Clara Schumann war es geschuldet, daß das B-Konzert am

16.11.1846 planmäßig durchgeführt wurde.

 

Genannter Anwurf bezeugt vielmehr nachhaltigen publizistischen Einfluss

Jungdeutscher Aktivisten im Vorfeld der Revolution von 1848. Studentische

Männerbünde als maßgebliche Träger des Revolutionsgedanken, geschult an Fichte,

von Hetzschriften Constantin Frantz und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn

angeleitet, formierten das Nationalideal zunehmend in fanatischer Abgrenzung allem

vermeintlich undeutschem Einfluss gegenüber. Aber nicht die Präsenz europäischer

Nachbarstaaten, des romanischen oder slawischen Kulturraums etwa stand im Zentrum

„germanomanischen“ Eifers: er konzentrierte sich auf das vermeidlich Fremde im

eigenen Lande: den Juden.

 

Hochrangige Persönlichkeiten des öffentliche Lebens – exemplarisch für das

Hardenbergsche Ideal vollendeter staatsbürgerlicher Judenemanzipation stehend –

gezielt als „mosaisch“ herabzusetzen, galt demnach als das nationale Gebot.

 

Im Todesjahr Felix Mendelssohns beschwor der Literat Heinrich Laube in einer von

Konkurrenzneid motivierten Polemik gegen Giacomo Meyerbeer und dessen

vermeintliche „Berliner Juden-und Cliquenwirtschaft“ eine Gefahr kultureller

„Überjudung“ Deutschlands herauf. Im Vorwort der Erstauflage seines auf der Bühne

erfolglos gebliebenen Dramas "Struensee" argumentierte er folgendermaßen:

 

"Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die der

Literatur. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn

die Juden sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch, wie sie

es vor zweitausend Jahren waren (...). Ein solches Etwas des fremden Judentums liegt

hier vor und schiebt sich zudringlich in die deutsche literarische Welt, wie denn jeder

Schriftsteller (...) mit Leichtigkeit (...) nachweisen könnte und (...) nachweisen sollte,

da(ß) der Überdrang des jüdischen Moments bedenklich wird für unsere nationalen

Eigenschaften. Dies Etwas ist hier eine bereits tief verzweigte Maxime des Berliner

Judentums (...) aus diesem Elemente des (...) Berliner Judentums im Besonderen

stammt die Taktik Herrn Meyerbeers.“

 

Die Parallelen zu der wenige Jahre später einsetzenden Debatte um eine

vermeintliche semitische Dominanz Mendelssohnscher und Meyerbeerscher

Kompositionen innerhalb der deutschen Musik sind unübersehbar. Der Zeitgeist

zunehmender Propaganda nachhaltiger Entfernung „semitischer Elaborate“ aus dem

kulturellen Kontext, der Bereinigung desselben vom Fremdelement wohnt den Worten

Laubes exemplarisch inne.

 

Intermezzo I: Laß ihm auch den irdischen Lohn werden!

 

Wenige Stunden vor Mendelssohns Tod, schrieb Ignaz Moscheles am Morgen des 4.

November 1847 im Hause Mendelssohn folgende Zeilen und lässt uns somit an einem

meditativen Moment intimster, gleichwohl vergeblicher Betrachtungen teilnehmen:

 

"Dir, o Schöpfer, ist es bewusst, warum Du in dieser Seele des Gemüts angehäuft hast,

die die zarte Hülle seines Körpers nur eine beschränkte Zeit zu tragen fähig ist (...). Kann

unser Flehen nicht diesen Menschen uns erhalten? - Dein Werk ist vollbracht. (...)

 

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-Keiner ist Dir näher gekommen als er, für dessen Dasein wir zittern. -Laß ihm auch

den irdischen Lohn werden! Laß ihn die Liebe zu seiner Lebensgefährtin, die

Entwicklung seiner Kinder, die Bande der Freundschaft, die Verehrung der Welt

genießen!"

 

3. Der größte, lebende Komponist

Die New York Tribune vermeldete am 13. Dezember 1847 der musikinteressierten

Öffentlichkeit: "Am 4. November verschied Dr. Felix Mendelssohn Bartholdy – der

größte lebende Komponist – in seinem 38. Lebensjahr; (...) Dieser vorzeitige Tod, der

für die ganze musikalische Welt ein nicht wieder gut zu machender Verlust ist, wurde

durch eine Gehirnerkrankung verursacht und ohne Zweifel durch schwere geistige

Arbeit herbeigeführt. Seit 1835 lebte er in Leipzig, wo er (...) ein so lebhaftes und

vornehmes Verhalten in sich vereinigte, daß er die Herzen aller gewann... Wahrlich – in

ihm war ein hervorragender Geist...“

 

In jenen Zeiten war der Telegraph gerade erst erfunden, beschränkte sich dessen

Anwendung noch auf Kurzstreckenverbindungen von Landeshauptstädten.

Interkontinentale Informationen konnten also ausschließlich auf dem Seewege

weitervermittelt werden; so nahm der Postweg London – Neu Delhi noch 30 Tage in

Anspruch. Somit zeugt die Veröffentlichung eines Nachrufes auf Felix Mendelssohn

Bartholdy in einem führenden amerikanischen Presseorgan, nur 5 Wochen nach dessen

Tode veröffentlicht, von der grossen Wertschätzung des Genannten auch in den

Städten der Neuen Welt.

 

Eigentümlich im Vergleich dazu bzw. geradezu medioker nahmen sich die Umstände

aus, unter welchen die „Neue Zeitung für Musik“ ihre Leserschaft vom Tode des

Komponisten in Kenntnis setzte. Im Jahre 1835 von der Davidsbündlerschaft Robert

Schumanns in Leipzig gegründet, hatte sich diese über das Ausscheiden des Initiators

aus der Redaktion hinaus, zu einem führenden Organ des deutschen Musiklebens

entwickelt.

 

Die „NZFM“ erschien aktualitätsnah etwa alle 4 Tage und wurde den deutschlandweit

zeichnenden Abonnenten über örtliche Buchhändler zugestellt. Obwohl örtlich

unmittelbar präsent, schwieg sich das Musikorgan über 2 Nummern – die Ausgaben Nr.

38 vom 8.11.1847 und 39 vom 11.11.1847 -hinweg über den Verlust eines

hochrangigen zeitgenössischen Tonschöpfers aus. Erst 11 Tage später, nunmehr in der

Ausgabe Nr. 40 vom 15.11.1847 vermeldete die „NZFM“ den Tod Mendelssohn

Bartholdys unter Vermischtes.

 

Der etwa 1-spältige Artikel wird mit der lakonischen Verweis eingeleitet, daß ja: „der

grosse Verlust, den Leipzig und die Tonkunst der Gegenwart betroffen hat, (...) schon

allgemein bekannt geworden“ sei. Ohne sich -in welcher Weise auch immer -ästhetisch

wertend auf das Lebenswerk des Verstorbenen einzulassen, erschöpft sich die Meldung

in penibel vorgenommener Darstellung der Todesumstände und des

Leichenbegängnisses. Offenkundig am Gegenstande desinteressiert klingt der Artikel

folgendermaßen aus: Was die Kunst an ihm verloren, das brauchen wir hier, die wir ihm

stets mit wahrhaftem Interesse gefolgt sind, nicht auseinanderzusetzen.“

 

Ernst Kossacks Nachruf auf Mendelssohn – erschienen in der Neuen Berliner

Musikzeitung 1/45 (1847) listet befremdlicherweise die "Sommernachtstraum -Musik",

die Bühnenmusik für Antigone, und die Oratorien Paulus und Elias als Mendelssohns

bedeutsamste Werke auf.

 

17

 

 


 

Dese Listung als Vorrangigste Meisterwerke des Komponisten trägt der Bedeutung als

notwendige Gebrauchswerke jener tage Rechnung. Die beiden Schauspielmusiken

exklusive der "Sommernachtstraum"-Ouverture entstanden gar auf Bestellung also im

Auftrag des königlichen Preussischen Hofes. (Mendelssohns Bühnenmusiken und

Oratorien waren zu jener zeit bei Bühnen und den zahllosen Liebhaberchören der

Liedertafeln sehr begehrt. Das Publikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts indes

betrachtete die Oper als höchste musikalische Kunstform. Kossack bezieht sich auf jene

Tatsache, indem er bedauernd schreibt, dass Mendelssohn nur gerade an seinem

Lebensende in der „höchsten Kunstform, der grossen tragischen Oper“ begonnen habe

zu wirken.

 

In den Nummern 45, 47 und 49 des Bandes 27 der „Neuen Zeitschrift für Musik“ aus

Leipzig vom Dezember des Jahres 1847 verübte Dr. Eduard Krüger einen

publizistischen Anschlag auf Mendelssohns Oratorium „Elias“ (Der Herausgeber des

Organs, Franz Brendel sah sich dabei genötigt, anhänglich sein bedauern darüber zum

Ausdruck zu bringen, dass jene Attacken so nahe am Tode des Komponisten geführt

wurden.) Krüger setzt sich dabei verbissen mit der originär-kritisch einhergehenden

Spekulation darüber auseinander, dass das Libretto indifferent in der dramaturgischen

Entwicklung sei Des Weiteren gibt der Publizist seine Behauptung zu bedenken, dass

die musikalische Charakterisierung es nicht ermögliche, zu erkennen, ob man jeweils

einem Engel, Propheten, König, einer Königin, Witwe, einem Baals-Chor oder einem

Fischer Gehör schenkt.

 

Wenige Monate nach Mendelssohns Tode bereits nahm die Wertschätzung des

Komponisten unter den musikalisch gebildeten Bürgern Leipzigs rapide ab, schwand der

öffentliche Zuspruch an Darbietungen seiner Musik im Gewandhause nachweislich.

 

Am 3. Februar 1848, zur Wiederkehr von Mendelssohns 39. Geburtstage, fand

daselbst – nunmehr unter Gades Leitung -die Leipziger Erstaufführung von

Mendelssohns letztem grossen vollendeten Vokalwerk, des Oratoriums "Elias" statt. In

Birmingham erlebte das Werk am 26. August 1846 die Uraufführung unter begeisterter

Anteilnahme von 2000 Zuhörern. Anders als in Gedächtniskonzerten des Werkes,

welche dem Gewandhausmemorial zeitgleich unter würdigeren Bedingungen in Berlin

stattfanden, stieß das Werk in der sächsischen Musikstadt auf vergleichsweise wenig

Interesse und Verständnis. Die örtliche Presse, ja bereits mehrfach im Benehmen

hervorgetreten, eine Abkehr öffentlicher Wertschätzung Mendelssohns herbeizuführen,

nahm den Vorgang sogleich als Bestätigung einer publizistisch konstatierter

Überschätzung und folgerichtiger allgemeiner Abkehr des Publikums vom ehemaligen

musikalischen Idol auf. Mendelssohns Freund, Weggenosse und Nachfolger in

Konservatoriumsdiensten, der Komponist Ignaz Moscheles berichtet darüber:

 

"Das Konzert, zum Besten des Pensionsfonds gegeben, konnte sich

unbegreiflicherweise nur eines zwei Drittel gefüllten Saales rühmen, die ehrfurchtsvolle

Stille, mit der das Werk aufgenommen wurde, ließ einige Blätter behaupten, das

Publikum sei nicht davon ergriffen gewesen. Die ganze Sache rief bei uns und einigen

Gleichgesinnten viel Entrüstung hervor".

 

Es ist schwer, die Ursachen des rapid vonstattengehenden, noch zu anderer

Gelegenheit ersichtlichen Desinteresses der Leipziger Bildungsbürgerschaft zu

räsonieren, ohne gleichsam in Spekulation zu verfallen. Immerhin erwies dieselbe dem

Verstorbenen gerade 3 Monate zuvor beim Hochamt und Leichenzug noch zu

tausenden posthume Reverenz.

 

18

 

 


 

Hatte der zunehmend aggressive Stil, welchen die „NZFM“ im Bestreben dezidierter

Propaganda musikalischer Avantgarde an den Tag legte, das unter den Musikfreunden

Leipzigs vorherrschende Klima mittlerweile vollständig zugunsten aktueller deutscher

Komponisten wie Schumann, Liszt und Wagner beeinflusst?

 

Diese wirkten seinerzeit ja alle dominant in einem, von den Musikzentren Dresden,

Leipzig und Weimar gebildeten, sächsischen Kulturgrossraum.

 

Angemerkt sei, daß, unausgesetzter persönlicher Bewunderung Mendelssohns durch

Schumann zum Trotze, in Mendelssohns letzten Lebensjahre die Beziehungen

zwischen den genannten, mehr noch: zwischen deren Anhängerschaften von

„Mendelssohnianern“ und „Schumannianern“ merklich abkühlten. Irritationen unter den

„Schumannianern“, welche um die Uraufführung der 2 C-Dur Symphonie herum

entstanden, teilweise von der Presse gezielt lanciert wurde, konnten durch den Einsatz

Clara Schumanns und Cecile Mendelssohns ja noch bereinigt werden. Mendelssohn

wiederum erklärte ein halbes Jahr später unmissverständlich im Freundeskreis, daß er,

verbittert über nicht näher überlieferte, unerträgliche, abfällige Bemerkungen des

Kollegen, mit Schumann und seiner Musik endgültig nichts mehr zu schaffen haben

wünsche.

 

Hans von Bülow, von ihm an anderer Stelle mehr, kam im Jahre 1851 in dem Essay

"Das musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner" im Rückblick auf die

Wesensarten kulturellen Leipziger Lebens der späten 40ziger Jahre denn auch zu

folgendem unrühmlichen Ergebnis:

 

"Das musikalische Leipzig hatte sich indessen nach Mendelssohns Tode in

verschiedene Fraktionen gespalten. Schumann ward der Abgott der Einen und bestieg

den durch seines Vorgängers Tod erledigten Thron. Wir sind weit entfernt, dies nicht in

der Ordnung zu finden,; doch wurde diese Erhebung von einer mindestens sehr

überflüssigen Herabsetzung der Verdienste Mendelssohns begleitet., welche dem

Leipziger Lokalpatriotismus , der wie schon den periodisch Abwesenden (wir erinnern

an Gade) , in noch höherem Grade den auf immer Entfernten, den Todten, Unrecht

gibt."

 

Die im März des Jahres 1848 ausbrechenden Revolutionsunruhen bedingten möglicherweise

die Abkehr eines Großteils bildungsbürgerlicher Bevölkerungsschichten von

Überkommenem und deren Zuwendung zu radikalen Positionen auch in den Künsten.

 

4. Antisemitismus

Die unmittelbaren Revolutionsjahre 1848/49 brachten erneut judenfeindliche Exzesse

hervor, welche von nahezu allen ins Revolutionsgeschehen eingebundenen

Gesellschaftsschichten ausgingen. So sind Plünderungen, Misshandlungen,

Enteignungen und Erpressungen aus den Deutschlanden Baden, Bayern, Hessen,

Württemberg, Schlesien und Westpreußen sowie den Städten Berlin, Köln und Wien

dokumentiert.

 

Ungeachtet des jeweiligen Standpunktes, wurden die Juden als verantwortlich für den

Ausbruch der Unruhen, die gesellschaftlichen Umwälzungen, das Gedeihen oder

Scheitern von Revolution und Demokratie betrachtet. Die Progressive beschuldigte die

Juden, als Großbürger und Finanziers das Feudalsystem zu unterstützen oder als

Polizeiagenten und –spitzel einer Rothschildschen Weltverschwörung zuzuarbeiten.

 

19

 

 


 

Die Konservative wiederum sah die Revolution als Werk „rothe(r) jüdische(r) Wühlerei“

und der „Judenverschwörung“ an. Das Kleinbürgertum und die Landstände sahen die

Juden hingegen als revolutionäre Förderer und Urheber, bestrebt, der gemeinhin

verhaßten staatsbürgerlichen Judenemanzipation endgültig zum Durchbruch zu

verhelfen. Das publizistische Zentrum des revolutionären Antisemitismus befand sich in

den Städten Wien und Berlin. Während die Agitatoren der in Berlin publizierten

judenfeindlichen Pamphlete einen vergleichsweise gemäßigten Ton anschlugen, gaben

sich die Publizisten Wiens zunehmend einschlägigen rhetorischen Vernichtungsorgien

hin.

 

Der Korrespondent Paul Eduard Müller-Tellering gelobte in der Broschüre: "Freiheit

und Juden", sich „wie jeder Volks-und Freiheitsmann“ über die „Mittel“ und den „Zweck

(...) Vernichtung des Judentums – in Österreich (...) ohne Schädeleinschlagen“ zu

bedenken und gemahnte des revolutionären Auftrags, das Deutschlands Freiheit nicht

nur den Sturz der 34 Throne“, sondern vielmehr die Beseitigung des Judentums

voraussetzte, denn: „die Tyrannei steckt im Gelde und das Geld gehört den Juden".

 

Flugblätter, wie jenes nachfolgend zitierte anonym publizierte oder letzteres von

„Schmidt“ autorisierte, suchten im Wien des Jahres 1848 hingegen, unmittelbaren

„Volkszorn gegen die Juden“ zu entfesseln. Der Anonymus prophezeite in "Die Juden,

wie sie waren, sind – und bleiben werden":

 

„Judenblut wird in Strömen fließen“ und verdeutlichte somit den potentiellen Opfern,

daß ihre Hoffnung hinsichtlich „völliger Gleichstellung der Confessionen“ auf

„Jahrhunderte weit hinaus gerückt werden“ würde.

 

„Schmidt“ indessen verstieg sich in der „Bittschrift“ unverhohlen zu

Genozidvorstellungen: "Wenn das Christenvolk kein Christenthum und kein Geld mehr

hat", und beides durch eure unablässige Bemühung so gekommen ist, dann, ihr Juden!

lasst euch eiserne Schädel machen, mit den "beinernen" werdet ihr die Geschichte nicht

überleben!“

 

Das erste demokratisch konstituierte Parlament Deutschlands, welches in den Jahren

1848/49 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, sah erklärte

Antisemiten wie den fanatischen Männerbündler und Chauvinisten Friedrich Ludwig

Jahn in den Reihen der Abgeordneten.

 

5. Das Judenthum in der Musik

Im Januar 1850 erkannte auch die musikalische Rezension Mendelssohns erstmals

dezidiert auf einen vermeintlich semitischen Aspekt in dessen Musik. Dr. Eduard Krüger

bemängelte in der "Neuen Berliner Musikzeitung" (NBMZ) in seiner Beurteilung der

aktuell herausgegebenen Drei Psalmen Op. 78, Nr. 6 posthum „sangreiche(n)

Weiberstimmen" welche in Mendelssohns Vokalwerk "rabbinisch belehrend unisonieren"

bzw. eine "in allen M´schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe

Rhythmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert" („NBMZ“

 

v. 2.1.1850). Der zeitgenössisch-musikalischen Resonanz der Psalmen und Oratorien

biblischen Charakters Mendelssohns ungeachtet, spricht Krüger des Weiteren dem

Komponisten die Berechtigung zu sakralem Schaffen generell ab. Die pauschale

Herabsetzung der Kirchenmusik Mendelssohns ging Meinungen zahlreicher

Musikpublizisten jener Tage konform.

20

 

 


 

Diese erregten sich u. a. bereits über die „Judaisierung“ christlichen Kulturgutes oder die

Dreistigkeit der Autorisierung einer Reformationssymphony durch den Enkel des

ursprünglich ja Mausche-ni Dessau gerufenen Moses Mendelssohn.

 

Am 5. Februar des gleichen Jahres erschien in der „NZfM“ der erste Beitrag polemischer

Auseinandersetzungen um Werk und musikalische Ästhetik des bedeutenden

zeitgenössischen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Für die Artikel, insgesamt

den neuesten grossen Bühnenerfolg des Komponisten "Der Prophet" thematisierend,

zeichnete stets der Musiker und Publizist Theodor Uhlig verantwortlich.

 

Hervorstechendstes Merkmal der partiell in Rezensionsform vorgebrachten Pamphlete

ist eine Begrifflichkeit, welche wenig darauf den Basiswortschatz jener, das Werk Felix

Mendelssohns als spezifisch jüdisch und somit pauschal wertloses Musikschaffen,

indizierenden Publizistik darstellte.

 

In dem genannten Beitrag "Der Prophet von Meyerbeer" verweist Uhlig in

mehrdeutigen Worten auf mögliche Ursachen vermeintlicher rhythmischer und

harmonischer "Eigenthümlichkeiten" in der Opernpartitur, deren "Ursache" er weder

offen zu legen noch anhand des vorgegebenen Material musikdramaturgisch zu

verdeutlichen bereit ist.

 

"(...) Der Marsch nämlich, der sich sonst - wie sich von selbst versteht -in der schönsten

Symmetrie 4-und 2-tactiger Rhythmen fortbewegt, beginnt mit folgendem Fünfer: (es

folgt ein 5-taktiges Notenbeispiel vom Beginn des "Krönungsmarsches")

 

Der Demonstration eines Casus Lapsus folgt lediglich der Verweis auf eine kryptisch

anmutende Ursächlichkeit absonderlicher Meyerbeerscher Tonsprache:

 

"Ohne sich in eigene Untersuchungen über eine Erscheinung einzulassen, die wie

jede andere Ungewöhnlichkeit bei Meyerbeer zuverlässig eine tiefe Bedeutung hat,

glaubte der Beurtheiler den Nachahmern des alleinseligmachenden Operncomponisten

das vorliegende rhythmische Rätsel mit der nahe liegenden Aufforderung zur Lösung

nicht vorenthalten zu dürfen."

 

Für sich genommen könnte das Beispiel als ironische Abstrafung angemuteter Wirrheit

im musikalischen Entwurf eines missliebigen Zeitgenossen gelten. Im Zusammenhang

mit den Folgeartikeln und ähnlichen, einmal mehr, einmal weniger zweideutig

vorgebrachten Charakterisierungen besehen, erschließt sich angesichts von Begriffen

wie "tiefer Bedeutung", "Rätsel" und "Lösung" die Perfidität sublim vorgenommener

antisemitisch-dramaturgischer Steigerung in der publizistischen Inszenierung eines

fatalen Niederganges der Musik jüdischer Komponisten.

 

Im weiteren Verlaufe des Artikels verlagert sich das demonstrativ geäußerte Unbehagen

eines deutschen Rezensenten an der Musik Meyerbeers immer offenkundiger auf eine

Schiene amusikalischer Mediokrität. So mit dem ominös vorgebrachten Hinweis auf eine

"natürliche Erklärung" des monierten Sachverhaltes.

 

Im weiteren Verlaufe dieser Serie von Polemiken gegen Meyerbeers „Le Prophete“

verdichtete Uhlig in der „NZFM“ sein Ressentiment gegen das Werk auf ein als das

zentrale Problem anzusehende Argument von „ Gesangsweisen.“ welche „(...) einem

guten Christen im besten Falle gesucht, übertrieben, unnatürlich raffiniert erscheinen“

und erkannte auf eine „(...) mit solchen Mitteln betriebenen Propaganda des

hebräischen Kunstgeschmacks“.

 

21

 

 


 

Er pauschalisiert des Weiteren hinsichtlich „ (...) der Musik vieler jüdischer Komponisten“

welche „alle nichtjüdischen Musiker (...) mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte

jüdische Sprechweise (...) als ein Gemauschele“ empfinden.

 

Hans von Bülow, in späteren Jahren ein Dirigent von Weltruf, begann den von

gravierenden Wechselwirkungen gezeichneten künstlerischen Lebensweg als

jugendlicher Musikrezensent Berliner und Leipziger Publikationen.

 

Nicht von ungefähr sekundierte er im gleichen Monat in der Berliner „Abendpost,

democratische Zeitung“ den Bestrebungen Krügers und Uhligs. Er übertraf dieselben

noch in einem signifikanten Akt entschiedenen vorgenommener publizistischer

Demontage des Komponisten Felix Mendelssohn .

 

In der Besprechung der „Zweiten Symphonischen Soiree der königl. Kapelle im Saale

der Singakademie“ vom 23. Februar 1850 ist also anlässlich einer Darbietung der ADur-

Symphony zu lesen:

 

„Man hat Mendelssohn in seinem Leben überschätzt; keinem Künstler ist je alles so

von Statten gegangen; keiner hat je bei seinen Lebzeiten so viel Zeichen der Verehrung

und des Enthusiasmusses von allen Seiten erhalten (...) und er hat seinen Namen

(Felix) im Superlativ getragen.

 

(...) Mendelssohn war kein Mann der Zukunft, er schuf für seine Zeit, für die Gegenwart;

(...) (er) hat nie dem herrschenden Modegeschmack Concessionen gemacht, er hat ihn

sogar geläutert und erhoben.

 

Mendelssohn war aber kein Genie, sondern nur ein außerordentliches Talent, dem

Geschick und scharfer, praktischer Verstand, welches beides den Leuten seines

Stammes in hohem Grade eigen ist, bedeutend zu Hülfe kamen. Der Unterschied

zwischen Talent und Genie liegt (...) darin, daß (...) Talent stets bei seinem Auftreten

mehr Beifall und wirkliche Sympathie antreffen (wird), als das Genie, das zuweilen

abstößt und befremdet. (...)

 

Dafür ist aber dem Genie auch die Unsterblichkeit, d. h. die Popularität gewiss. Doch

diese Entwicklung würde uns zu weit führen, und wir wollen nur noch bemerken, daß die

genannte Symphonie von Mendelssohn (...) weniger Anklang im Publikum zu finden

vermochte, als wir ihr gewünscht hätten (...); im letzten Satze ist jenes neckische,

elfenhafte Element vorherrschend, in welchem die hauptsächlichste Originalität

Mendelssohns besteht."

 

Von Bülow komprimiert somit zweifelsohne kursierende zeitgenössische Vorurteile

gegen Erfolgsautoren, Privilegierte und Erfolgsjuden erstmalig zu einem analytisch

präzise umrissenen Bild des zur Kunst letztlich unberufenen, sich die Kunst lediglich

vermittels diverser biographisch bedingter Privilegien anmaßenden Compositeurs.

 

Er legt gleichsam in Teilen den Katalog einschlägiger, stereotyp referierter

Subjektivismen einer, in der Musikgeschichte wohl einzigartig bestehenden, rein

biografisch hergeleiteten, rhetorischen Zersetzung der Substanz und Intention von

Musik, der Musik Felix Mendelssohns vor. Weitere Publikationen, welche den Katalog

entwertender Mendelssohn-Invektiven abrundeten und vervollkommneten sollten

zeitnah folgen.

 

Da dieser Katalog sich über 150 Jahre hinweg bis in unsere Zeit hinein als wirksam

erweisen und in Publikationen jüngeren, stellenweise jüngsten Datums ihren

Niederschlag finden, seien hier die wesentlichen Stereotypen zusammengefasst:

 

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Felix = Glück; lebenslanger Erfolg, einziger Siegeszug, lebenslange Sorgenlosigkeit,

grosser Reichtum des Vaters, familiäre Geborgenheit, allseits geliebt, Jude, musikalisch

empfindungslos und artfremd, Glätte, Kälte, perfektionistische Formelhaftigkeit,

mangelnde Dramatik und Verweichlichung, Sentimentalität in der Musik.

 

Das die Polemik Uhligs in der „NZfM“ gegen eine vermeintlich vorherrschende

„musikalische Judenschule“ und „Judenmusik“ von Anbeginn auch eine Relativierung

der Musik Felix Mendelssohns intendierte, offenbarte sich wenig später. Uhlig

konstatierte, das das semitisch-musikalische Idiom sich durchaus in unterschiedlicher

Intensität artikuliere, „je nachdem in dieser Musik hier der Charakter des Edlen, dort des

Gemeinen überwiegt“ oder „Eigentümlichkeiten (...) der metrischen Gestaltung, (...) in

einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase (...) hier nur ganz wenig,

dort ganz auffallend (...), bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in

höchster Schärfe, namentlich in seinen Hugenotten, nicht minder auch in seinem

Propheten“ zum Tragen kämen.

 

Die Rezension schliesst mit dem Verweis: „...Ebenso wenig wie die Ihnen analogen

Sprechweisen (...) diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden zu können, wo

sie (...) ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als „Judenschule“

zu bezeichnen weiss.“

 

Uhlig ließ es nicht dabei bewenden, Felix Mendelssohn lediglich im Anhang einer

Diffamierung Giacomo Meyerbeers pauschal herabzusetzen. In einer Rezension der im

Jahre 1843 in Berlin uraufgeführten „Sommernachtstraum“-Schauspielmusik stellt er

bereits die dramatische Wirksamkeit und musikalische Qualität des Werkes dezidiert in

Frage: „(Mendelssohn) mutet dem Zuhörer nicht zu, aus einer Dichtung die

Hauptwesenheiten herauszulesen...Als Mendelssohn die übrige Musik zum

Sommernachtstraum noch nicht geschrieben hatte, wussten die kunstverständigen

Leute bloß für das eine Tonbild der Ouvertüre die allerdings nahe liegende Erklärung

aufzufinden und gaben die Musik desselben für „Elfengeflüster aus. Der Komponist hat

diese Annahme später sanktioniert, zugleich aber auch gezeigt, was alles er in diesem

Tonstücke gewollt und – nicht gekonnt hat...“ (Th. Uhlig, Musikalische Schriften,

Regensburg 1913; da der Autor bereits im Jahre 1853 im Alter von nur 30 Jahren an

einer Lungenentzündung verstarb, handelt es sich wahrscheinlich um eine

zeitgenössisch liegende Rezension der Schauspielmusik).

 

Die Autoren Dr. Eduard Krüger, Theodor Uhlig und Hans von Bülow betätigten sich

neben der Erfüllung ihrer publizistischen Verpflichtungen in Berlin und Dresden in den

Jahren 1850ff auch maßgeblich als Polemiker in der „NzfM“ in Leipzig. Sie zeigten sich

somit dem Umkreis der Weimarer Liszt-„Schule“ und den daraus erwachsenden

Fanatismen zugehörig. Dies lässt folgende Vermutung als legitim erscheinen: Die

Publikation aggressiv oder verhalten antisemitisch agitierender Texte, zum Auftakt einer

Pressekampagne gegen herausragende zeitgenössische Komponisten nahezu

zeitgleich in mehreren Städten und Presseorganen erfolgend, war womöglich das

Ergebnis einer konzertierten, auf Absprachen beruhenden Aktion.

 

Die Kampagne der „NZfM“ gipfelte im September des Jahres 1850 schliesslich in der

Veröffentlichung eines halbwissenschaftlich aufbereiteten Aufsatzes, welcher die

bislang vereinzelt ausgestreuten Polemiken unter der Losung "Das Judenthum in der

Musik" zusammenfasste.

 

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Der Name Karl Freigedank unterzeichnete diesen, der Name eines der damaligenÖffentlichkeit bislang völlig unbekannten Autors freilich. Im Jahre 1869 sollte er sich als

Pseudonym eines aufstrebenden Musikers erweisen, welcher seinerzeit möglichem

Imageverlust vorzubeugen beabsichtigte.

 

Das Pamphlet verbreitet u. a. folgende Thesen:

 

1. Alle Kunst hat ihre besten und stärksten Wurzeln im Volkstum; die künstlerische

Leistung ist abhängig von der völkischen Verbundenheit des Künstlers.

2. Im Bemühen, sich in der harten, zischenden Sprechweise seines Volkes des Idioms

deutscher Sprache zu bedienen, könne der Jude als Fremder lediglich Abstoßendes

und Lächerliches hervorbringen. Vollends unerträglich sei der Versuch im

Gesangsvortrag deutscher Sprache durch einen Juden. Der Artikulation im Idiom der

Landessprache nicht befähigt, habe sich der Jude somit der Frage zu stellen, ob er in

diesem Lande überhaupt kunstberechtigt sei.

3. Der Jude sei von unangenehm fremdartiger Erscheinung und erfülle daher den

Europäer mit instinktivem Widerwillen gegen das jüdische Wesen. Daher habe sich der

Jude, als Individuum sowie allgemeinhin seiner Gattung nach, als Objekt künstlerischer

Darstellung in Malerei, der Musik und auf der Bühne von jeher als ungeeignet erwiesen.

Wer es aber innerhalb der deutschen Kunst niemals zu objektiver Relevanz gebracht

habe; also der künstlerischen Darstellung enthoben blieb, dem könne man

diesbezüglich auch keine subjektive Einbindung zugestehen; ist also zu kompetenter

künstlerischer Betätigung nicht befähigt.

 

4. Der Jude suche sich vermittels Imitation in Kleidung, Bildung und Sprache der

abendländischen Kultur zu amalgamieren. Der wahren Identität dennoch stets

eingedenk, sei er somit von der nationalen Beseligung des Gastlandes ausgeschlossen.

Daher seien ihm die Menschen des Gastlandes, auch im Versuch künstlerischer

Artikulation, emotional nicht erreichbar. Der Rückschluss auf formal perfekte, aber von

seelischer Kälte erfüllte Kopien der Muster nationaler Vorbilder läge somit auf der Hand.

5. Der Jude habe niemals autonom Kunst betrieben, daher stünde dem jüdischen

Tonsetzer einzig das Idiom synagogaler Vokalisen zu Gebote. Dies habe sich

ursprünglichen Adels, Reinheit und Erhabenheit längst enthoben und sei auf den

Zeitgenossen nurmehr in allerwiderwärtigster Trübung überkommen. Daher bediene

sich der Jude bevorzugt jener Elemente musikalischer Diaspora, welche er dem

vertrauten Synagogenton missverständlich als verwandt erachte. Sich von jeher im

Oberflächenbereich abendländischer Musik bewegend, zur Unkenntnis innerster

Beseligung des deutschen Kunstwesens nahezu verdammt, nähme der Jude gewissegefälligste Äußerlichkeiten der Musik als deren Wesen hin und versuche sich nunmehr

in vollendeter Kopie funkelnder Äußerlichkeiten des Originals. Die musikalischen

Reproduktionen aus der Hand des jüdischen Tonsetzers erschienen dem

abendländischen Hörer zweifelsohne fremdartig, kalt, gleichgültig, unnatürlich und

verdreht.

Der Autor beließ es natürlich nicht bei allgemeingefasster Darstellung des

heraufbeschworenen jüdisch-musikalischen Dilemmas.

 

24

 

 


 

Er befleißigt sich vielmehr, es am konkreten, fassbaren, nahe liegenden „Objekt“ zu

veranschaulichen. Daher lesen wir am Ende des Traktates vom „Judenthum in der

Musik" eine Einschätzung von Person und Musik Felix Mendelssohns, welche sich als

folgenschwer herausstellen sollte.

 

Hier im Wortlaut: “An welcher Erscheinung wird uns dies alles klarer, ja an welcher

konnten wir es einzig fast inne werden, als an den Werken eines Musikers jüdischer

Abkunft, der von der Natur mit einer spezifischen musikalischen Begabung ausgestattet

war, wie nur wenige Musiker (...) vor ihm? Alles, was sich bei der Erforschung unserer

Antipathie gegen jüdisches Wesen der Betrachtung darbot, (...) alle Unfähigkeit

desselben, außerhalb unsres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns

verkehren (...) zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur,

dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn-Bartholdy.

 

Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die

feinste mannigfachste Bildung, das gesteigertste (...) Ehrgefühl besitzen kann, ohne es

(...) je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele

ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir (...) der Kunst (...) fähig

wissen, weil wir diese Wirkung zahllos oft empfunden haben, sobald ein Heros unserer

Kunst sozusagen nur den Mund auftat”.

 

Freigedank bemüht sich, eine naturgegebene musikalische Apathie des Juden

Mendelssohn aus dessen Werken, genauer, deren spezifischen musikalischen Idioms

heraus zu präzisieren.

 

Er konstatiert daher gemeinverbindlich eine diffuse allgemeine Empfindung von

Oberflächlichkeit beim Anhören Mendelssohnscher, also dezidiert "jüdischer" Werke und

sucht dabei den Rückhalt analytischen Sachverstandes bei "Kritikern vom Fach", ohne

freilich solche konkreter benennen zu können:

 

"Kritikern von Fach, welche hierüber zu gleichem Bewusstsein mit uns gelangt sein

sollten, möge es überlassen sein, diese zweifellos gewisse Erscheinung aus den

Einzelheiten der Mendelssohnschen Kunstproduktion nachweislich zu bestätigen: uns

genüge es hier, zur Verdeutlichung unserer allgemeinen Empfindung uns zu

gegenwärtigen, daß beim Anhören eines Tonstückes dieses Komponisten wir uns nur

dann gefesselt fühlen konnten, wenn nichts anderes als unsre, mehr oder weniger nur

unterhaltungssüchtige Phantasie, durch Vorführung, Reihung, und Verschlingung der

feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben-und

Formenreize des Kaleidoskopes, vorgeführt wurden , - nie aber da, wo diese Figuren die

Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt

waren (...) Für diesen letzteren Fall hörte für Mendelssohn selbst alles formelle

Produktionsvermögen auf, weshalb er denn namentlich da, wo er sich, wie im

Oratorium, zum Drama anlässt, ganz offen nach jeder Einzelheit, welche diesem oder

jenem zum Stilmuster gewählten Vorgänger als individuell charakteristisches Merkmal

besonders zu eigen war, greifen musste. Bei diesem Verfahren ist es noch

bezeichnend, dass der Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache

besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte.“.

 

Nicht allein, daß Freigedank mit den Schlagworten "unterhaltungssüchtige Phantasie auf

Seiten des Publikums" sowie "Vorführung, Reihung von feinsten, glättesten und

kunstfertigsten Figuren zum Erlebnis eines Farb-und Formenreizes eines Kaleidoskops

vergleichbar"

 

25

 

 


 

die Musik Mendelssohns und anderer Komponisten jüdischer Abstammung

unmissverständlich zu Elaboraten kunstgewerblicher Manufaktur deklariert, ja dieselben

quasi dem Bereich der Jahrmarktsattraktionen zuordnet. Im Zusammenhang mit der im

allgemeintheoretischen Part des Traktates getroffenen, nachfolgend wiedergegebenen,

Charakterisierung allgemeinjüdischer Kulturproduktion betrachtet, legte Freigedank

somit eine folgenschwere Systematik negativer Schlagworte vor. Diese schlugen sich

vor allem in Begriffen wie perfektionistischer Glätte, Kälte, seelenloser Formenhaftigkeit

der vermeintlich in Kopie von Stil und Kompositionsmustern nationaler Vorbilder

entstandenen Werke, mangelnder emotionaler Tiefe aber auch jenem übermäßig

trivialer Sentimentalität mendelssohnscher Musik.

 

Diese sollte – wie sich noch erweisen wird -in schematischer und wortwörtlicher

Repetition die publizistische Rezeption des Gesamtbildes mendelssohnscher Musik bis

in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominieren. Die entsprechenden

Invektive sind leicht erkenntlich: "Was so der Vornahme der Juden, Kunst zu machen,

entspricht, muss daher notwendig die Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur

Trivialität und Lächerlichkeit an sich haben".

 

Wulf Konold brachte das – kulturhistorisch wohl einzigartig dastehende – Phänomen

im Jahre 1984 mit der Einschätzung treffenst zu Punkte, daß die Rede vom Judenthum

in der Musik für einschlägig gesinnte Musikpublizisten, „aber auch Autoren, die den

Verdacht jeglichen Antisemitismus zu Recht von sich gewiesen hätten...eine Art

„Sprachregelung“ hinsichtlich musikgeschichtlicher Mendelssohnrezeption vorgab

 

Als Resultat vorgeblich objektiv, detailliert vorgenommener analytischer Betrachtung der

semitischen Persönlichkeit und Musiksprache Mendelssohns referiert Freigedank seine

Erkenntnis auf vollständige künstlerische Impotenz des Komponisten; genauer, auf

konstant bestehenden Grenzen „alle(n) formelle(n) Produktionsvermögen(s)“ im

Mendelssohnschen Oeuvre. Er trachtet, dem Hörer stets die Unfähigkeit des

Komponisten, literarisch-dramatischen Figuren „die Gestalt tiefer, menschlicher und

markiger menschlicher Herzensempfindungen“ zu verleihen, überdeutlich vor zu führen.

 

Freigedank definiert die, das Mendelssohnsche Werk prägende „ausdruckslose

moderne Sprache“ demzufolge als Resultat und zugleich Vorbild eines „neu-jüdischen

Systems“. Dies sei, auf diese Eigenschaft (dramatischen Unvermögens, Anmk. d. Verf.)

Mendelssohnscher Musik, wie zur Rechtfertigung dieser künstlerischen Verkommenheit

entworfen worden. Freigedank stellt die „ausdruckslose moderne Sprache“

Mendelssohns in unmittelbaren Bezug zum nurmehr historistisch zu rezipierenden

Formalismus des Bachschen Musikidioms. Dies müsse zweifellos als „formell,

pedantisch“ empfunden werden und sei nur durch das übergroße Genie Bachs „eben

erst zum Durchbruche“ zu „rein menschlichem Ausdruck“ hin gebracht worden.

Übergroßem musikalischen Genie also, welches einem Mendelssohn demzufolge

keinesfalls gegeben sei.

 

Die Konstatierung eines von Mendelssohn in den Bereich der deutschen Musik

implizierten und von seinen Nachfolgern perfektionierten „neu-jüdischen Systems“,

schliesst den Kreis zum ersten Teil Freigedankscher Allgemeinbetrachtung

„musikalischen Judentums.“

 

Dort war ja von verzerrter, oberflächlicher Wahrnehmung zeitgenössischen

Musikschaffens aufgrund fragmentarisch im Bewusstsein verbliebenen Idioms der

 

26

 

 


 

Synagogenmusik, von Resultaten jüdischen Komponierens, welche „fremdartig, kalt,

sonderlich, gleichgültig, unnatürlich“ erscheinen, die „Eigenschaft der Kälte,

Gleichgültigkeit“ und „Trivialität“ aufweisen würden, die Rede.

 

Im Zusammenhang betrachtet, bedeutet die Konstatierung des, auf vermeintlich

vorväterlich überlieferter semitischer Unkenntnis und Unfähigkeit zur Artikulation im

Idiom europäischer Musiktraditionen beruhenden „neu-jüdischen Systems“ in der Musik

wohl schlichtweg folgendes:

 

Freigedank unterstellt Mendelssohn und seinen semitischen Mitstreitern Moscheles,

Joachim, David etc. die zielstrebige Zersetzung völkisch-kultureller Basis vermittels

„ausdruckslos“(er), also emotional kraftloser, musik-dramatisch uninspirierter „moderner

Sprache“. Also letztendlich den Versuch der, die Schwächung der Lebenskraft des

deutschen Volkes bedingenden Verseuchung kulturellen Erbes mit dem semitischen

Bazillus substanzieller künstlerischer Impotenz.

 

6. Ein antisemitischer Eklektizist

Damit war das Thesenpapier eines auf der hochrangigen Ebene vermeintlicher

kulturwissenschaftlicher Erkenntnis rezipierten Antisemitismus gestellt.

 

Genauere Betrachtung freilich deckt auf, wie konstruiert sich der Thesengang

Freigedanks insgesamt darstellt. Wie stark er, en Detail besehen, auf mangelnde oder

verdrängte Sachkenntnis oder reine Spekulation verweisend, ex kathedra verkündeten,

aber unbelegten Behauptungen geschuldet ist.

 

Allein die Haupttheorie von der angeblich naturgegebenen Unfähigkeit des Juden zur

Kunst ist auch nach damaligem kulturwissenschaftlichen Kenntnisstand nicht haltbar.

Als Freigedank im Judentraktat dieselbe exponierte, fortentwickelte und ultimativ

festschrieb bewegte er sich vielmehr – ob in Kenntnis der Vorgänger oder unbeeinflußt,

sei dahingestellt – in der Tradition berüchtigter antisemitischer Demagogen. So

behauptete der bereits genannte Hartwig von Hundt-Radowski im "Judenspiegel" aus

dem Jahre 1819 schlichtweg:

 

"Allein zu den schönen und bildenden Künsten, welche den Geist veredeln und das

Auge erfreuen, hat kein Mauschel Talent....Selbst schaffen können die Juden, als

Künstler vollends nichts, denn so stark auch ihre physische Zeugungskraft ist, so sehr

fehlt es ihnen an aller geistigen Schöpfungskraft. Als Gott sein herrliches Bild, den

Menschen schuf, wollte der Teufel ein Epigramm darauf machen, und fabrizierte einen

Juden. Die Kinder Israel können nur nachäffen und nachahmen, allein ihre

Nachäffungen sind, gleich Ihnen, gemeine widerliche Karikaturen.“

 

Auch Karl-Friedrich Grattenauer, von ihm sei an anderer Stelle noch ausführlicher die

Rede, erging sich bereits im Jahre 1803 in einer „Erklärung an das Publicum über meine

Schrift "Wider die Juden“ in Betrachtungen hinsichtlich Judentum und Kunst: „

 

„Grattenauer schreibt also: „Sind sie nicht in der Regel so wenig Produzenten als

Künstler, und plündern sie dennoch nicht beide durch ihren Handel und Wucher?“

 

27

 

 


 

Der kirchliche Publizist und Verleger Johann Gottfried Herder schliesslich erkannte im

Jahre zuvor in dem Essay "Bekehrung der Juden" in der "Anthologie Adrastea", Bd. 4,

Leipzig 1802 auf eine Diskrepanz zwischen jüdischer Existenz im Speziellen und

künstlerischer und ökonomischer Produktivität im Allgemeinen:

 

Es heißt bei Herder unter anderem: „ „Wären sie Seehelden, Künstler, Landcolone; bei

den Reichtümern, die sie besaßen...hätten sie längst etwas Außerordentliches zu

Stande gebracht, in Ländern und Zeiten, wo sie nichts hinderte, in jeder Kunst die

Ersten zu werden! Die Kunst, worin sie die Ersten wurden, zeigen sie fortwährend.“

 

Die pauschal ausgegebene Behauptung kreativen und besonders musikalischen

Mangels des Judentums aufgrund originär tonloser jüdischer Sprechweise wiederum

findet sich bereits in Werken des 18. Jahrhunderts und Zeiten zuvor. Vor allem in einer

im Jahre 1788 von Johann Nikolaus Forkel in Leipzig herausgegebenen Allgemeinen

Musikgeschichte erlangte der Aspekt im Kapitel "Musik der (alttestamentarischen)

Hebräer" umfassende, abwertende Erörterung. Dennoch vergibt es sich der Autor

keineswegs, von der frühgeschichtlichen Mediokrität rituellen hebräischen Vokalisierens

zur adäquat unbefriedigenden Situation unmittelbarer Gegenwart des Jahres 1788

überzuleiten, wenn er schreibt:

 

„In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein

musikalisches Beten, welches in einerlei Ton entweder gleichsam gebrummt oder

gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrei.

 

Wenn diese Art des Gesangs ein Überbleibsel aus alten Davidschen Zeiten ist, und sich

bis auf uns (...) fortgepflanzt hat, so muss es um die Musik der Hebräer eine erbärmliche

Sache gewesen sein".

 

Da Forkels Allgemeine Musikgeschichte musikalisch Professionellen auch in der ersten

Hälfte des 19. Jahrhunderts als Standardwerk galt, Riemanns Lexikon der Tonkunst und

der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" in unseren Tagen vergleichbar,

könnte es möglicherweise, im Gegensatz zu den verstreut publizierten Schriften

politischer Antisemiten, der Recherche zum "Judenthum in der Musik" gedient haben.

 

Das von Herder, Grattenauer, Hundt-Radowsky und Karl Freigedank gleichlautend

gefällte Urteil gründet sich vornehmlich auf ein christlich-überhebliches Unvermögen,

sich mit der spezifischen Relation jüdischer Konfession und Kultur in der Diaspora zu

den musischen Künsten auseinanderzusetzen.

 

Oder besser gesagt: die Genannten überheben sich, im vollen Bewusstsein, die

Traditionen jüdischer Kultur nicht zu kennen und auch nicht zur Kenntnis nehmen zu

wollen, dennoch zu verallgemeinernder Abrede jüdischer Kreativität. Die überkommene

Relevanz jüdischer Musik zu Konfession und Ritus, das auch im arabischen Raum

bestehende Verbot der Abbildung menschlichen Konterfeis, die grosse Tradition im

literarischen Bereich der Mythen und Sagen, deren erstes und nachhaltigstes Werk

sicher bereits in der Vorlage des alten Testamentes zu definieren wäre. All diese

anthropologischen Faktoren blieben der christlich-chauvinistisch vorgenommenen

Analyse der Frage, dass das Judentum in der Diaspora zeitweilig keine Kunstwerke im

strenggefassten abendländischen Sinne hervorbrachte, schlichtweg außen vor.

 

28

 

 


 

Im Rückblick auf eine nunmehr 200jährige Geschichte demagogischen Publizierens

gegen das Judentum in Politik, Kultur und bürgerlicher Gesellschaft offenbart sich eine

fatale Gepflogenheit, eine Tradition, welche allen diesen Demagogen gemeinsam ist,

deren Schrifttum wie ein Leitfaden durchzieht:

 

Vom Ressentiment gegen das jüdisch-fremde angeleitet, übernahmen die Autoren

pauschale diffamierende Resümees von Vorgängerpublikationen, gaben

anthropologische Theorien und vermeintliche historische Fakten bereitwillig und

ungeprüft wieder, wenn dieselben sich der eigenen inkriminierenden Sichtweise

einfügten.

 

Wie wir noch sehen werden, gaben zahlreiche Musikkundler des Wilhelminismus und

des 20. Jahrhunderts die rhetorischen Negationen Mendelssohn Bartholdys Hugo

Riemanns u. a. in wortwörtlicher Anlehnung wider, schrieben die Rassenfanatiker und

Kulturwissenschaftler des Nationalsozialismus satzweise aus Freigedanks Pamphlet ab.

 

Damit stellt sich auch die Frage, ob die selbsternannten Experten des Fachgebiets

kultureller Traditionen innerhalb des Judentums, die beurteilte Materie jemals

authentisch erfuhren. Ob Forkel und Freigedank beispielsweise im Verlaufe eines

Synagogenbesuches den rituellen Kantus eigenständig erlebten oder sich

musiktheoretisch mit demselben auseinandersetzten. Die ersichtliche Häme

karikierender Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs lassen eher auf lustvoll

transportierte und überzeichnete Aversionen schließen, welche sich seit Beginn der

Neuzeit längst im Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise festgeschrieben

hatten.

 

Anbetrachts konkreter Vorleistungen Theodor Uhligs, Hans von Bülows und Dr. Krügers;

in Kenntnis rückwärtigen Katalogs antisemitischer Rhetorik, welcher sich dem Zeitgeist

der Jahre 1848 – 50 andiente; lässt sich nunmehr mit grosser Sicherheit annehmen:

Freigedank erwies sich auf dem Gebiete kulturanthropologischen Antisemitismus als

genau das, was er „dem Juden“ auf dem Gebiete der Kunst und vor allem der Musik per

se vorwarf. Als Eklektizist!

 

Das Pamphlet vom „Judenthum in der Musik“ animierte wiederum zu weiteren

einschlägigen Polemiken und verschärfter Propaganda von Kunst als nationaler Frage

und Ersatzreligion eines erstarkenden Ideals deutscher Vereinigung im Geiste Fichtes.

 

7. Eine exceptionell exclusive Menschen-Race

Dr. Krüger, der – aus dem Umfeld der „NZfM“ in der Ära Robert Schumann

hervorgegangen -nunmehr als Pionier publizistisch-antisemitischer Analyse von

Mendelssohnscher Musik gelten muss, ließ Freigedanks "Judenthum" denn auch

"Gedankengänge über Judentümliches" folgen. Er begrüßte zu Anfang die

„wiedergewonnene Preßfreiheit, denn 1846-48 war es zwar sehr leicht, Schriften gegen

das Christentum (...) zu bringen, aber sehr schwer, ein offenes Wort über die Juden zu

sprechen.“ Er beklagt des weiteren, daß das deutsche Volk „den Eindringlingen nicht

wehrt, (...) Tagesgötzen bejubelt, die es selber verachtet (...) ihm (...) das Mark der

Väter verloren gegangen, vor dem die moderne Windbeutelei nicht bestanden hätte“.

(„NZfM“ vom 1.10.1850)

 

29

 

 


 

Eduard Bernsdorf hingegen entlarvt am 15.10.1850 wiederum in der „NZFM“ eklatante

Schwächen in Freigedanks analytischer Beweisführung und erhebt infolgedessen den

Vorwurf mangelnder anthropologischer Seriosität und der Demagogie.

 

„Der grosse Gelehrte Freigedank (...) spricht“ (Mendelssohn) „in der Tat künstlerische

Fähigkeit und Bildung nicht ab (...); aber die Wirkung, die unsere Kunstheroen auf ihn

hervorgebracht haben, hat er beim Anhören seiner Sachen nicht finden können (....) Wie

aber dieser Mangel an Wärme (...) mit seinem jüdischen Ursprunge im Zusammenhang

stehen soll, das hat uns der Verfasser durchaus nicht bewiesen. Er spricht...nicht über

den jüdischen Komponisten (...) bei ihm hat er nichts jargonierendes nachgewiesen, ihm

wirft er die Synagoge nicht vor, nur den Meister Bach...“

 

Schwerwiegender noch ist der am 25.1.1851 in der "Illustrierten Zeitung" (Leipzig)

erhobene Verweis des Musikers und Musiktheoretikers Johann Christian Lobe auf

einen wesentlichen protorassistischen Aspekt der in der „NZfM“ begonnen Debatte:

 

„Daß die christliche Taufe dem Juden nichts hilft, zeigt Freigedank ja dadurch, daß er

Mendelssohn stets als einen Juden behandelt, der doch als Christ geboren, getauft,

erzogen und begraben worden ist.“

 

Judentum musste sich, Freigedank zufolge, demnach letztendlich durch andere

Aspekte als jenem „mosaischen" Bekenntnisses definieren. Durch die geburtsmässige

Zugehörigkeit zu einem fremden, nichteuropäischen Volk oder vielmehr:

geburtsmässige Zugehörigkeit zu einer fremden, nichteuropäischen Rasse!

 

Freigedank argumentiert dabei in der Tradition des Urhebers der im frühen 19.

Jahrhundert verkündeten Gewalt-und Vernichtungsmetaphorik, Karl Wilhelm Friedrich

Grattenauer.

 

Dieser publizierte bereits im Jahre 1791, also dem Beginn der germanomanischen

Kampagne Fichtes zeitlich konform gehend, Vertreibungsdemagogie in der Studie:

"Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, Stimme eines

Kosmopoliten, Germanien 1791". (Das Buch wurde in Leipzig verlegt.) Im Jahre 1803

konstatierte er in der Schrift: "Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere

christlichen Mitbürger" erstmalig: „Daß die Juden eine ganz besondere Menschen-Race

sind, kann von keinem Geschichtsforscher und Anthropologen bestritten werden.“

 

In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum "Judenthum in der Musik" erörterte ein A.

Escherich "Die Judenemancipationsfrage vom naturhistorischen Standpunkte aus"

besehen in der renommierten "Deutsche(n) Vierteljahresschrift", Heft 4 von Oktober des

Jahres 1848. Auch Escherich kommt darin zu dem Schluß, daß „Die Juden...eine

exceptionelle Bevölkerung (bilden) und zwar nicht als (...) Varität einer bestimmten

Race, sondern mit exceptionellen, exclusiven Eigenschaften unter allen Racen. Und

diese auszeichnenden Eigenschaften sind (...) constant durch alle Jahrhunderte und

Klimate, charakterisieren...Stamm und (...) Individuum, (...) erstrecken sich auf die

Naturgeschichte dieses Volkes, (...) seine körperliche Gestalt, seine Fruchtbarkeit, (...)

seine Lebensdauer, (...) seinen geistigen und moralischen Charakter.“

 

Des Weiteren stellt Escherich dann auch die Frage nach der künstlerischen Berufung

dieser "exceptionell exclusiven Race" im Allgemeinen und besonderen.

 

30

 

 


 

Während die Juden üblicherweise als eifrige und geschickte Sammler und Eklektizisten

in Erscheinung träten, welche sich des Fundus kulturellen Erbes des Abendlandes

zugunsten eigenen Elaborierens zielstrebig bedienten, sei Mendelssohn Bartholdy im

Besonderen als der bedeutendste Komponist des Jahrhunderts anzusehen. Allerdings

sei er als grosse Ausnahmeerscheinung aufzufassen, sein Wirken hinsichtlich

mosaischen Irrens in künstlerischen Gefilden vollkommen atypisch.

 

Die von Freigedank zum Ausdruck gebrachte protorassistische Tendenz war bis dato

gemeinhin ungebräuchlich, die Pamphlete Grattenauers und Escherichs stellten

Ausnahmen in den von konfessionellen oder ökonomischen Standpunkten dominierten

antisemitischen Publikationen dar. Lobe interpretierte daher die Metapher von der

„Erlösung Ahasvers“ durch „den Untergang“ des "Juden" am Ende des Traktates "Das

Judenthum in der Musik" bereits ironisch als Aufforderung zum Judenmord:

 

„Also weg mit allen Juden. Wenn dann. (..) die Juden alle erschlagen vor uns liegen,

und wir übrig gebliebenen Christen als triumphierende Mörder mit blutigen Fäusten

dastehen, dann sind wir wahrhafte Menschen und (...) „einig und untrennbar verbunden

 

– untereinander und mit den Juden.“

Im Juli 1851 resümiert der damalige Herausgeber der „NZfM“, Franz Brendel den

„wahren Sturm“ in der zeitgenössischen Medienwelt, welchen die Veröffentlichung der

Freigedankschen Thesen in der hauseigenen Zeitschrift hervorgerufen habe.

 

Um den Ruf der „NZfM“ scheinbar doch etwas besorgt, impliziert er der Publikation

nachträglich eine Relativierung bezüglich gebildeter und ungebildeter Juden; letztere vor

allem wären doch der Gegenstand Freigedankschen Theoretisierens gewesen. Im Text

des „musikalischen Judenthums“ hingegen findet sich dafür allerdings keinerlei

Anhaltspunkt, da ausschließlich „der Jude“ veranschaulicht; von „den Juden“

gesprochen wird.

 

Obgleich sich die unmittelbaren publizistischen Reaktionen, welche das Pamphlet

hervorrief, Mitte des Jahres 1851 scheinbar legten, war die These gestreut. War die in

einer der renommiertesten Publikationen zeitgenössischen deutschen Kulturlebens

vertretene antisemitische Kulturtheorie nunmehr salonfähig, unter gebildeten Kreisen

diskussionswürdig.

 

So erkennt beispielsweise Wilhelm von Lentz, Beethovenkapaziät und Staatsrat des

russischen Zaren im Jahre 1852 auf ein „hebräisches Element, das in den Gedanken

Mendelssohns erkennbar ist, (das) ihn hindern wird, die ganze Welt ohne Unterschied

von Zeit und Ort zu erobern.“ Ferner rücken erneut „die psalmodierenden Gesänge der

Synagoge“ als „Typus, der in der Musik Mendelssohns nachklingt, wie in seinem

Denken der jüdische Geist eine Rolle spielt“ ins Zentrum von Betrachtungen. (v. Lentz,

Beethoven und seine 3 Stile, 1852, Kassel 1855).

 

Da der Traktat auch massiv kontroverse Reaktionen provozierte (vergl. Johann Christian

Lobe), verlegte sich die „NZfM“ wieder vermehrt in die Unverbindlichkeit "objektiv"musikalisch

betriebener Agitation gegen den Opernfürsten Giacomo Meyerbeer.

 

Nichts desto Trotz streute die Publikation auch in den Folgejahren unausgesetzt

Ressentiments gegen Felix Mendelssohn aus, so in den oftmals in lakonischen Tonfall

vorgenommenen Rezensionen der posthum veröffentlichten Werke.

 

31

 

 


 

Was beabsichtigten die Initiatoren einer lancierten öffentlichen Semitismus-Debatte im

Musikbereich?

 

Es war ihnen um eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse im

zeitgenössischen Musikbetrieb zu tun. Musikalische Avantgardisten suchten quasi auf

gewaltsamen Wege, mit publizistischen Mitteln, Einfluss innerhalb der musikalische

Hemisphäre zu erlangen. Was die avantgardistisch-musikalische Wortmeldung allein

nicht bewirkte, sollte schleichende Erschütterung des Fundamentes bewirken, auf

welchem das Ansehen der Erfolgsmusiker Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo

Meyerbeer beruhten.

 

Die Synthetik in der Konzeption des, hinsichtlich Ursache und Wirkung vollendet

konstruierten, aber vor allem spekulativ untermauerten Medienunterfangens "Das

Judenthum in der Musik"; die Schizophrenie der auf Ebenen öffentlicher und intimer

Subjektivität vielfach aufgespalteten Urheber lässt ein Schreiben des hinter dem

Pseudonym Karl Freigedank verborgenen Komponisten Richard Wagner an Felix

Mendelssohn vom 6./7 .Juni des Jahres 1843 erkennen. Wagner versichert sich darin

dem Komponisten gegenüber u. a. des Stolzes darüber: „...der gleichen Nation

anzugehören, die Sie und Ihren Paulus hervorgebracht hat.“

 

Meyerbeer, musikalisch im fernen Paris residierend, war den nihilistischen

Bestrebungen nahezu entzogen.

 

In der zeitgenössischen Rezeption des vermeintlichen Antipoden im eigenen, deutschen

Bannkreis, schlug sich der publizistische Gewaltakt hingegen nachhaltig nieder.

Erheblich bestärkt durch ein diffuses Klima feudaler Restauration, postrevolutionär

germanomanischen Einheitsfanatismus und traditionell kultiviertem Antisemitismus einer

Generation opportunistisch-neokonservativer Leistungseliten aus dem Umfeld ehedem

jungdeutscher Männerbünde. Das europäische Ausland kommentierte die den Ruf Felix

Mendelssohn Bartholdys beschädigenden publizistischen Invektive befremdet. So

resümiert der englische Kritiker Henry Fothergill Chorley im Jahre 1853 -also nur

sechs Jahre nach Mendelssohns Tod:

 

”Traurig, aber wahr ist's dennoch, daß seine Landsleute ihrer Reputation für Ehrlichkeit,

Treue und Verehrung von Genie und Tugend keine Ehre gemacht haben; denn in der

Zwischenzeit haben sie ihre Haltung (...) geändert, einem Mann gegenüber, den sie zu

seinen Lebzeiten geehrt und umschmeichelt hatten....”

 

Und Donald Tovey merkt in seinem phänomenalen, bedeutsamen Mendelssohn-Artikel

in der gewichtigen Enzyklopaedia Britannica, 1911 verfasst, trocken an:

 

And in the early Wagner-Liszt reign of terror his was the first reputation to be

assassinated. That of the too modest and gentle „Romantic“ pioneer soon followed; but

as being more embarrassing to irreverence and conceit, it remains a subject of

controversy. Meanwhile, Mendelssohn’s reputation, except as the composer of a few

inexplicably beautiful and original orchestral pieces, has vanished.“

Sir Donald F Tovey §“Mendelssohn“ the encyclopaedia britannica 11th edition

Cambridge 1911, XVIII.p 124

 

32

 

 


 

8. Von der Neudeutschen Schule

“Zum einen ist das Mendelssohn-Bild...geprägt durch eine Bewertung, deren Basis nicht

kompositionstechnische Einwände gegen seine Musik oder sich wandelnder

Geschmack ausmachen, sondern in der der musikalische Parteienstreit der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts mit mehr oder weniger verhüllt vorgetragenen

antisemitischen Vorurteilen vermengt ist.(...)

 

Eine Aufarbeitung der Mendelssohn Rezeption hat zugleich eine quasi aufklärerische

Aufgabe: zu zeigen, wie sehr sich (...), knapp vierzig Jahre nach dem Ende des Dritten

Reiches, in dem die schon zuvor betriebene Verteufelung Mendelssohns ihren

Höhepunkt fand, die Urteile auf sachfremde “Argumente” stützen” schreibt Wulf Konold

in seiner Studie "Felix Mendelssohn und seine Zeit" aus dem Jahre 1984.

 

Was heißt das im Einzelnen:

Das Werk Mendelssohns verfiel einer eklatanten musikalischen Fehde, die sich ab 1850

zwischen "Neudeutschen Musikern" und "Traditionalisten" entwickelte. Die

"Neudeutschen Musiker", welche sich in Weimar um die Komponisten Franz Liszt und

Richard Wagner sammelten, forderten die Radikalität des musikalischen Ausdrucks

entgegen formalistisch akademischen Beschränkungen ein. Die "Traditionalisten" um

Robert Schumann und Johannes Brahms, propagierten hingegen die Bewahrung, aber

stetige Reformierung überkommener musikalischer Formen von Symphonie, Quartett,

Oratorium etc.

 

Unter Federführung des Musikkritikers und Redakteurs Franz Brendel -dieser

übernahm im Jahre 1845 die Redaktion der renommierten "Neue Zeitung für Musik" von

Robert Schumann -zog ein chauvinistischer Geist in das bislang unabhängige Organ

imaginärer Davidsbündler ein.

 

Während sich Schumann als Musikpublizist auf die Erörterung musiktheoretischer

Fakten beschränkte, ohne die ästhetische Reserviertheit gegenüber Kompositionen der

"Neudeutschen" zu verhehlen und Mendelssohn es generell ablehnte, sich Presse

zunutze zu machen, öffnete Brendel die Musikzeitung führenden Polemikern wie Karl

Freigedank, Theodor Uhlig, Hans von Bülow und Felix Draeseke.

 

In einem Editorial, zum Ende des Jahrgangs 1852 verfasst, verlieh Brendel dem Ziel,

welchem sich die "NZfM" fürderhin gänzlich widmen sollte, unmissverständlich

Ausdruck: "Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst

bevorsteht, nach allen Seiten entschieden zu vertreten.“ (...)

 

Theodor Uhlig, geboren im Jahre 1821, wirkte ursprünglich als Violinist im Dresdner

Hofopernorchester. Dort machte er die Bekanntschaft mit dem von Februar des Jahres

1844 – bis Mai 1849 als Dresdner Hofkapellmeister agierenden Richard Wagner,

dessen Intimus er vor allem in den Jahren nach 1849 wurde. In der Zeit des Schweizer

Exils des in die Dresdner Maiaufstände verwickelten Komponisten war Uhlig somit ein

wertvoller Kontaktmann Richard Wagners zu den Musikzentren Dresden, Leipzig und

Weimar. Da Uhlig fest in den Freundes-und Wirkungskreis des Hofoperndirigenten

Wagner eingebunden war, trat er ab 1849/ 50, neben Franz Liszt und Hans von Bülow,

verstärkt als Publizist und Propagandist Wagners und der "Neudeutschen" hervor.

 

33

 

 


 

Herausgeber Franz Brendel, geboren im Jahre 1811, gestorben im Jahre 1868, war von

Hause aus Philosoph und widmete sich erst ab 1840 musikalischen und

musiktheoretischen Fragen. Als nahezu fanatischer Verfechter der Prinzipien

musikalischer Fortentwicklung und Moderne, erhob er den obligaten Verzicht auf die

Errungenschaften der Barockzeit, der Klassik oder Romantik eines Mendelssohn oder

Schumann zum Dogma.

 

Er ernannte, der Funktion eines Chefideologen der Neudeutschen Schule

entsprechend, die „romantischen Realisten“ (Robert Gutman) Franz Liszt, Hector Berlioz

und Richard Wagner zu deren Leitfiguren. Brendel übertraf somit die progressiven

Forderungen Schumanns und der in den Jahren 1833 bis 1844 versammelten

"Davidsbündler" bei weitem. Diese agitierten seinerzeit vordringlich gegen die

Seichtigkeit musikalischer Tagesware und die Schludrigkeit eines Konzertbetriebes, der

vor allem planlos zusammen gestellte Potpourri-Konzerte nach dem Prinzip des PrimaVista-

Musizierens hervorbrachte. Die von Brendel 1859 im Verlaufe einer

Tonkünstlerversammlung im Leipziger Schützenhof initiierte Gründung einer

"Neudeutsche Schule" verhalf dem Musiknihilismus schliesslich zu bedeutsamem

institutionellen Rang.

 

Im Jahre 1852 gab der Komponist Richard Wagner; somit eine Schlüsselfigur des

neudeutschen musikalischen Dogmas, die Denkschrift „Zum Vortrag Beethovens“

heraus, in welcher er Felix Mendelssohn, als Dirigenten besehen, jedwede innere

Anteilnahme bei der Interpretation Beethovenscher Kompositionen absprach.

 

Es heißt dort: „Mendelssohns Ausführung Beethovenscher Werke bezog sich stets auf

die nur rein musikalische Essenz derselben, nie aber auf deren dichterischen Gehalt,

den er gar nicht fassen konnte – sonst hätte er ja auch selbst etwas ganz anderes

zutage bringen müssen. Mich hat Mendelssohns Direktion, trotz seiner grossen

technischen Feinheit, immer in der Hauptsache unbefriedigt gelassen, es war mir

immer, als ob er sich nicht getraute, das sagen zu lassen, was Beethoven sagen wollte,

weil er selbst mit sich nicht im reinen darüber war, ob da eigentlich etwas gesagt sei,

und was? So hielt er sich immer mit dem feinsten musikalischen Witze an den

Buchstaben, und glich darin unseren Philologen bei ihrer Auslegung der griechischen

Dichter, an denen diese immer nur den Buchstaben, die Partikeln, die Lesarten usw.

auszudeuten haben, nie aber dem Gehalt.“

 

Wagner sah sich selbst in Überhöhung der Tatsachen in der Rolle als Beethovens

einziger und wahrer Dirigent und Interpret und konnte somit einen jüdisch-stämmigen

Konkurrenten, gleichwohl jener ja nicht einmal mehr unter den Lebenden weilte, nicht

neben sich dulden. Er zerstörte somit zielstrebig den herausragend Ruf den sich

Mendelssohn zu Lebzeiten als Leiter der Gewandhauskonzerte und Symphonischen

Interpreten erworben hatte auf rhetorischen und publizistischem Wege. Inhaltlich knüpft

er dabei an die in „Das Judentum in der Musik“ konstatierten Thesen von der

vermeintlichen Unmündigkeit der Juden, den wahrsten innersten Wert urdeutschen

Erbes, sei es als Autor, sei es als Interpret, zu erfassen an.

 

Was auch Wunder: bei Karl Freigedank und Richard Wagner handelte es sich doch

um ein und dieselbe Person. Erst später, erst im Jahre 1869 sollte Wagner den Mut

finden sich, als Autor jener umstrittenen Judenschrift öffentlich zu zeigen.

 

Anfangs des Jahres 1852 äußerte sich auch der Publizist G. A. Keferstein in der Neuen

Berliner Musikzeitung kontrovers in Sachen Mendelssohn-Rezeption.

 

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Er bezog sich dabei unter anderem auf die Musik zu „Ödipus in Kolonos“, die Rezitative

und Chöre des unvollendeten Oratoriums „Christus“ und das Finale der gleichsam

unvollendeten Oper „Loreley“. Keferstein blickt dabei auf sein zehn-bis zwölfjährige

Bemühen eines permanenten Verweises darauf zurück, das mendelssohn letztendlich

überschatzt würde

 

Nichts desto Trotz gibt der Autor den Tatbestand zu Erkennen, dass „the excellent

services of a man, who in every thing in art that a fortunate talent can learn and achieve

through iron dilegence stands honorably beside the best of recent times (zitiert nach

Donald Mintz.) und nähert sich damit dem Gesichtspunkte Heinrich Heines vom

elaboriert zu Werke gehenden und dadurch fruchttragenden Talente anstelle des

produktiven spontanen Genies, an, welchen dieser 1844 in der Zeitschrift Lutetia

niedergelegt hatte, an.

 

Keferstein verweist darin unter anderem auf den spekulativen Umstand, dass das

Libretto des Christus-Fragmentes elaboriert, ohne innere organischer Notwendigkeiten

zusammengestellt worden sei und damit jenem des Paulus gleiche. Schliesslich giebt

der Publizist immerhin zu bedenken, dass „a great deal can be learned from the study of

Mendelssohn’s works whatever posterity´s final Judgement would be. (Mintz)“

 

In den Jahren 1848 bis 1852 legt Brendel das Wollen und die Zielrichtung der, von der

Revolution des Jahres 1848 beflügelten, neudeutschen Welle in mehreren Aufsätzen,

welche in der Neuen Zeitung für Musik erschienen, fest Er bezieht sich darin explizit auf

die Notwendigkeit eines Nationalen-neudeutschen Erwachens der Musik und der

Komponisten und wendet sich erklärtermaßen gegen „Kosmopolitische Deutschfranzösisch-

italienische Komponisten wie Meyerbeer. Damit legt Brendel die Zielrichtung

der musikalischen Expression vor, welche die zweite Hälfte des Jahrhunderts

dominieren sollte.. „Tastes and interests had turned toward the issues of expression and

characterization as the second half of the century understood them. For these Tastes,

much of Mendelssohn’s Music was simply irrelevant. Despite the growth of the historical

repertory, this irrelevanz was fatal”. Mintz verweist dabei auf das beethovensche

Musikalische Erbe und stellt dabei fest, das jenes durch die jeweilige Re-Interepretation

und Neu-Interpretation späterer Generationen modern geblieben sei. Aber jene

Zeitgenossen Brendels standen vor der scheinbaren Unmöglichkeit, Musik zu

reinterpretieren, deren Ausdrucksformen obsolet geworden sei. So stellten die Zeit-und

Weggenossen Brendels die von mendelssohn oft gebrauchte Form des Chorals in der

Kirchenmusik vollständig in Frage. Es waren die Zeiten um 1850 herum, in denen

Wagners Theorien, Schriften und Kompositionen erheblich an Einfluss gewannen. Es ist

ein Kuriosum der Geschichte, das Wagners Judentumpamphlet erst mit der um 1848

erkämpften Pressefreiheit zu publizieren möglich war. Mintz schliesst seine

Betrachtungen zu Mendelsohns Rezeptionsgeschichte mit der Feststellung, das

Mendelssohns oftmals in Formen und Genres gegossen war, in Musik, welche von der

musikalischen Revolution überholt und erledigt worden wäre. Because this is so, the

Mendelssohn Reception mirrors the conflicts and trends at mid-Century: questions about

the future and utility of the established musical-genres to be sure , but also about the

nature and direction of religion and its role in life. And behind varying views about this

matter there are great complexes of social attitudes for which the religous arguments in

part a surrogate. To this mix we need to add German and general European anti-

Semitism, a sentiment that grew to a movement and culminated in the Holocaust.

 

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Mendelssohn’s reputation was tosses about by these currents and counter currents,

perhaps more than that of any of his significant contemporaries, and so it is not

surprising that his reputation declined so rapidly in the eyes of the advanced public soon

after his death.

 

1860 machte sich der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros Gedanken um den

Zwiespalt zwischen aktuellem neudeutschen Fortschrittsstreben hin zum musikalischen

Drama auf der einen und einer Position konservativer Verharrung in den

mendelssohnschen Idealen der absolut verstandenen Tonkunst auf der anderen Seite.

 

Er fragt sich dabei also: „ob die Richtung Wagner-Liszt zu der Bedeutung gelangt

wäre und soviel Terrain gewonnen hätte, als sie tatsächlich gewonnen hat, wenn nicht

Mendelssohn in der Blüte seiner Kraft und seines Wirkens der Welt durch einen

plötzlichen Tod entrissen worden wäre. Mendelssohns Wirken, Streben und Schaffen

lässt annehmen, dass er als ganz entschiedener Gegner aufgetreten wäre.“

 

9. Von der musikalischen Wahrheit

Der Musikwissenschaftler und Publizist Adolph Bernhard Marx wiederum agitierte im

Zeichen einer schwerlich zu fassenden musikalischen “Wahrheit” nachhaltig gegen

“Verweichlicher” der Musik, ”Nachbildner” und ” unwahre Komponisten”. Marx war seit

dem Jahre 1830 als Dozent für Musikgeschichte an der Universität Berlin und später als

Herausgeber der "Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung" tätig, in welcher Dr.

Eduard Krüger im Jahre 1850 die Kampagne dezidiert antisemitisch intendierter

Musikrezeption eröffnete. Marx war einstmals ein enger Jugendfreund Felix

Mendelssohns mit eigener, aber glücklos verbleibender kompositorischer Ambition. Da

Marx sich dem Komponisten durch eine zunehmend abstrahierend musikphilosophische

anstelle einer angewandten Beschäftigung mit der Tonkunst entfremdete; diesen des

Weiteren um Geld und musikalische Protektion bedrängte, zerbrach die Freundschaft im

Jahre 1839. Marx vernichtete daraufhin die gesamte in seinem Besitz befindliche

Mendelssohn-Korrespondenz. Inwiefern sich eine etwa 10 Jahre später massiv

bezogene Position des „nachkantischen Ästheten“ (Werner) gegen das Oeuvre Felix

Mendelssohns auch der enttäuschten Freundschaft verdankt, ist nicht geklärt.

 

In Publikationen wie "Die Musik des 19. Jahrhunderts", im Jahre 1855 in Leipzig

herausgegeben, stellte Marx Mendelssohn nun als Prototyp solcherart „Verweichlicher“

etc. der Musik heraus. In genannter Musikgeschichte konstatiert Marx u. a. das diesem:

„(...) die eigentliche Macht und Höhe des Dramas nicht gegeben (...); ja, seinem fein

zurückhaltenden, mehr anempfindenden als ursprünglich schöpferischen Wesen im

Grunde widersprechend (war.)

 

Er führt weiterhin aus, daß – „im wahren Gegensatze“ zum Genie ein Talent wie

Mendelssohn „den (meist beglücktern) Beruf (habe), auszubilden und nachzubilden,

auch einseitig zu verbessern und zu verschönen oder annehmlicher zu machen, (also)

den dämonisch hochaufgerichteten Gedanken des Genius mit der Schwäche und Furcht

der Welt durch vermittelnde Zwischengestalten, die Nachbildungen sind,

auszugleichen.“ . Folgerichtig reüssiere Mendelssohn vornehmlich im "glücklichen

Salonwort" der "Lieder ohne Worte", in dem "ein mädchenhafter Hang (...) jedes kleine

Gefühlchen" musikalisch transponiere.

 

36

 

 


 

Auch hier wird ein später so folgewirksamer Titanen-& Heroenanspruch an Kunst

bedeutungsvoll vorformuliert. Freigedank spekulierte in seinen Ausführungen

schlichtweg auf diesen Anspruch und Mendelssohns naturgegebene Unfähigkeit,

demselben gerecht werden zu können.

 

Marx indessen versucht, keineswegs frei von polemisierendem Tonfall, den seinerseits

vorgenommenen Abgleich von heroischem Anspruch und konkreter musikalischer

Wirklichkeit zu Mendelssohns Ungunsten, ästhetisch und psychologisch, also

wissenschaftlich methodisch nachzuweisen. Marx muss also als Autor einer

Mendelssohn-Demagogie von musikwissenschaftlich-spätromantischem Gesichtspunkte

aus gelten. Diese sollte sich spätestens Mitte der 60ziger Jahre bis zur Unkenntlichkeit

der einzelnen Komponenten mit der dezidiert antisemitisch intendierten Mendelssohn-

Rezeption der Neudeutschen vermengen. Das der erste Protagonist letztgenannter

Argumentationsweise, Dr. Krüger, ein Autor der von Marx editierten Berliner

Allgemeinen musikalischen Zeitung war, ist dabei ein Detail von Interesse und

Pikanterie.

 

Des Weiteren gibt Marx den Stereotyp des schwächlichen, feinnervigen, emotional

überregbaren Musikers Mendelssohn vor, welchen zahllose Musikhistoriker und

Publizisten bis in die 80ziger Jahre des 20. Jahrhunderts als verfestigtes Klischee

kolportieren sollten.

 

Die Erkenntnis vom Drama, welches nicht in erster Linie für Mendelssohns Schaffen

prägend war, ist faktisch korrekt, verkennt aber vollständig die Motivation dieser

Zurückhaltung dramatisch-musikalischen Affektes gegenüber. Während Marx die

Gründe in der vermeintlich schwächlichen Ausprägung des Charakters und der

Unfähigkeit dramatischen Empfindens sucht, stand Mendelssohn in Wahrheit der

dramatischen Entäußerung in der Kunst mit ästhetischem Vorbehalt gegenüber.

 

Mendelssohn war durch die strenge, stetig zu Fleiß, Pflichterfüllung, sittlicher

Läuterung und Contenance anhaltende Erziehung im Elternhause vollständig vom

verinnerlichten und dem grossen Vorbilde Johann Wolfgang von Goethe vorgegebenen

humanistisch-klassizistischen Ideal menschlicher und gesellschaftlicher Erhebung durch

erhellendes, läuterndes kulturelles Gut durchdrungen,

 

Dies ließ Mendelssohn die Komposition von Erregtheit, dramatischer Entäußerung,

romantischer Zerrissenheit, Nachtseiten der Seele und expliziter emotionaler Abgründe

letztendlich suspekt, möglicherweise unanständig erscheinen. Dramatik vollzieht sich in

Mendelssohns Kompositionen stets anschaulich, wenn das, ethischen Belangen

verpflichtete musikalische Sujet seinerseits einen dramatischen Verlauf nimmt, wie im

alttestamentarischen Epos "Elias" vorliegend.

 

Gleichsam regte das Erlebnis der Naturgewalten, geschichtlicher Orte und Augenblicke

wie im Falle Schottlands und der gleichnamigen Symphony; oder diese der Dichtung

und dem Volksmärchen implizite Spannung, welcher wir beispielsweise die Ouvertüre

von der Schönen Melusine verdanken Mendelssohn zu hochrangiger dramatisch-

musikalischen Äußerungen an. Andererseits ließ Mendelssohn einer dramatischen

Entwicklung freien Lauf, wenn sich das musikalische Material absolut aufgefasster

Kompositionen in der Durchführung zu höchster formaler und emotionaler

Binnenspannung verdichtete.

 

37

 

 


 

Diese vollzieht sich dann allerdings aus Momenten höchster geistiger und musikalischer

Konzentration und ist oftmals -vorausgesetzt, Meisterdirigenten und Pianisten

vermochten es, dem hohen musikalischen Gehalt Mendelssohnscher Werke vollends zu

entsprechen -daher in ihrer Spannung fast nicht erträglich.

 

Man mag diese humanistische Haltung zu Fragen der Musik und der Kunst , den ideal

verstandenen Anspruch ästhetischer Zucht und Selbstzucht teilen und kultivieren. Man

mag ihn subjektiv ablehnen und anderen Ansprüchen und Erfahrungen innerhalb der

vielfältigen Möglichkeiten musikalischer Artikulation nachgehen.

 

Mendelssohns Auffassung vom Ziel musikalischen Wirkens ist zweifellos genauso wenig

„wahr“, wie es die von den "Neudeutschen" erstrebte Symbiose von Musik und Drama

oder die spezielle absolute musikalische Wahrheit Bernhard Adolph Marx jemals war

und ist. Als intimer Jugendfreund noch aus den Tagen der bei Carl Friedrich Zelter

genossenen Singschule trug Marx mit dramaturgischem Rat maßgeblich zur Konzeption

der immerhin als genial apostrophierten "Sommernachtstraum-Ouvertüre bei. Im

Gegensatze zu manch nachgeborenem, inkognito urteilendem Kollegen, hätte er

zumindest die authentischen Ursachen einer spezifisch Mendelssohnschen Verhaltung

gegenüber einer Relation von Musik und Drama besser kennen müssen.

 

Eine bemerkenswerte Abhandlung der Problematik adäquater Mendelssohn-

Nachbereitung vollzog die „Berliner Feuerspritze“ im Jahre 1855 in ihrer Rezension vom

 

12. November einer Festaufführung des Oratoriums „Elias“, welche der Sternsche

Gesangverein Berlin Mendelssohn zum Gedenken ausrichtete. Hans von Bülow

zeichnet dafür wiederum als Verfasser. Kunstfertig entledigte er sich dabei einer

offenkundig ungeliebten Aufgabe in einzigartig glückreichem Vollzug des Paradoxons

einer Quadratur des Kreises. Genauer: der repräsentativen Würdigung eines

Komponisten und seines Werkes zu akklamieren und des Weiteren den Anlass zur

Herabsetzung des musikästhetischen Spektrums aus der Neudeutschen Sicht einer

Musikdramatiker -Partei desselben zu missbrauchen.

Von Bülow Schreibt also:

"Die Tonkunst sollte ihren eigenen Festtagskalender haben. Die schöne und würdige

Feier. welche der Sternsche Gesangverein dem Gedächtnisse Felix Mendelssohns und

sich selbst zu Ehren durch die Aufführung des "Elias" am 8. November veranstaltete,

erweckt den Wunsch, auch andere grosse Tondichter der Vergangenheit in ähnlicher

Weise gefeiert zu sehen. Merkwürdig, dass sogar ein Institut, dem der genannte

Meister, oder vielmehr sehr bewusst absichtlich sich ferne hielt, dass das Königl.

Opernhaus durch eine Vorstellung des "Sommernachtstraumes" einer solennen

Anspielung ganz ausnahmsweise sich -unschuldig machte. Es war kein Zufall, dass

Felix Mendelssohn in seines Genius` Irrtum von diesem durch den Tod entrissen wurde,

als er dem - Irrtum der modernen "Oper" sich zuzuwenden begriffen war.

 

Was hätte Mendelssohn, -von dessen specifisch musikalischer Begabung auch der

Gegner zugeben muss, dass er der nächste ist nach Mozart, -in dem musikalischen

Drama Vollendeteres leisten können, als Mozart im "Don Juan" schon geleistet? Einem

solchen, immerhin nur genialen Reproduzieren würde aber eine ästhetisch-historische

Berechtigung im höheren Sinne gefehlt haben".

 

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Schließlich begibt sich von Bülow gar in die Rolle des Propheten und verkündet dem

zeitgenössischen Auditorium in allwissender Vorausschau, das auch ein in den Jahren

gereifter Komponisten niemals substantielles, dem Anspruch neudeutschen

„Fortschrittsprinzips“ gemäßes , zu vollbringen fähig gewesen wäre:

 

"Diese flüchtige Andeutung soll nur der in der posthumen Verehrerschaft des grossen

Musikers ziemlich verbreiteten sentimentalen Ansicht entgegen, als ob Mendelssohn,

wenn ihn nicht ein frühes Ende erreicht, noch Höheres, Unvergänglicheres geleistet

haben würde, als wir von ihm besitzen. Diese Ansicht steht auf einer Stufe mit der

bekannten Aufgabe, welche ein Pensionsvorsteher seinen Zöglingen stellte: "Würde

Egmont Klärchen geheiratet haben, falls er nicht hingerichtet worden wäre?"

 

Wir glauben dem Genius weit freier und begeisterter zu huldigen, wenn wir

aussprechen: "Der Elias ist das den hohen Geist seines Schöpfers am umfassendsten

und resümierendsten darlegende Werk, in welchem er seine Mission erfüllt und

vollendet hat".

 

Zunehmende Öffentlichkeitswirksamkeit und Publikumserfolge der Werke

"neudeutscher" Tonsprache (vor allem der Bühnenwerke Richard Wagners und der

Oratorien und symphonische Rhapsodien Liszts) bewogen die Ideologen der

"Neudeutschen Schule", ihren Kreuzzug gegen alles dem Fortschrittsprinzip vermeintlich

im Wege stehende zu verschärfen. Nachdem man Felix Mendelssohn als vormalige

Leitfigur bekämpfter traditionalistischer Ästhetik plangemäß „erledigt“ hatte und

Meyerbeers Bühnenwerke sich bis auf weiteres resistent gegen das Unterfangen

rhetorischer Unterhöhlung erwies, rückten nun die „konservativen“ Romantiker Robert

Schumann und Johannes Brahms ins Blickfeld neudeutschen Interesses. Mitte der

50ziger Jahre des 19. Jahrhunderts bemühte man sich intensiv, Schumann der

Neudeutschen Idee einzuverleiben; ja ihn neben Opernreformer Richard Wagner

gleichsam zu einer neudeutschen Leitfigur des symphonischen Sektors aufzubauen.

 

Hans von Bülow stellte Schumann im November 1853 noch ganz selbstverständlich als

Repräsentanten einer „neuen(n) romantischen Schule“ Wagner und Berlioz gleich

(„NZfM“ 11/12/1853), Franz Liszt propagierte von Weimar aus Schumanns

Vorkämpfertum „musikalischen Fortschritts“. Im Jahre 1860 richtete die Neudeutsche

Schule ein Schumann-Fest in Zwickau aus.

 

Clara Schumann, im Vernehmen, es mit einer Propagandaveranstaltung zu tun zu

haben, auf der das Angedenken Ihres Mannes zu ideologischen Zwecken missbraucht

würde, lehnte eine Teilnahme als Pianistin und Ehrengast ab.

 

„Ich kann doch nicht dahin gehen, um ein solches Fest mit den Menschen zu

begehen, die ich aus tiefster Seele (als Musiker) verachte“. Joseph Joachim bestärkte

sie in dem Entschluss, indem er ihr eindringlich mögliche publizistische Folgewirkungen

einer Teilnahme der Witwe Schumanns vor Augen hielt. Er gemahnte, es könne im

Nachhinein als Beweis dessen herangeführt werden, „dass Schumann mit den neuesten

Fortschritten zur Unmusik gemeinsame Sache gemacht habe".

 

Nachdem Reflektionen der Neudeutschen auf Robert Schumann im Jahre 1860 im Eklat

endeten, schlug die publizistische Stimmung seitens der "Neudeutschen" schlagartig

um. Führende Repräsentanten der Schule wie Hans von Bülow und Felix Draeseke

bedachten das musikalische Angedenken Schumanns mit offenkundiger Häme.

 

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Es überrascht wohl kaum noch, daß die biographische und musikalische Relevanz zu

Person und Werk Felix Mendelssohns als Leitfaden und Begründung musikalischer

Mittelmäßigkeit des Schumannschen Oeuvres herangeführt wurde. Bereits im Jahre

1856 schloss ein im Berliner Echo veröffentlichter Nachruf, daß mit dem Tode Robert

Schumanns ein „Ausläufer der Mendelssohnschen Richtung“ zum Ende gelangt sei.

„Vorwiegend Eklektiker und scharf kritisch sichtender Verstandesmensch, konnte man

ihn (Schumann) mit Recht den musikalischen Lessing nennen.“ resümiert der Nekrolog

des Weiteren.

 

Geflügelte Worte brachte die neudeutsche Publizistik in die Schumann-Rezeption ein.

So verdankt dieselbe Felix Draeseke jenes viel strapazierte Verdikt: „Schumann hat als

Genie angefangen und als Talent aufgehört.“ Hans von Bülow wiederum prägte die

signifikante Metapher des Felixschülers Robert Schumann heraus und streicht somit

den von Felix Mendelssohn ausgeübten Einfluss vermeintlicher klassizistischer

Stagnation hervor, in dessen Leipziger Fangstricken sich Schumann zeitlebens

verfangen habe, schlimmer noch: welcher Schumann „verdorben“ habe. Bülow

konstatierte im Jahre 1860 also resignativ: „War der Mensch genial, bevor er bei Felix in

die Schule ging, Leipziger Kaufleute zu hüten.

 

Des Weiteren geißelte von Bülow die „Schumannsche Intervallheulerei“ als unerträglich

und verkündete demonstrativ, jedwede „Halbdillettantenmusik lieber als eine

Schumannsche Symphonie (aufzuführen), deren bloße Lektüre ihm eine Tortur (sei)“.

Bülow kündigte des weiteren einen grossen Schlag, die Veröffentlichung einer

Broschüre an, welche die gegen Berlioz agitierende „Instrumentationsleere“ der

verhaßten Schumannianer-Partei ins Lächerliche ziehen und daher „die Form einer

kleinen Handgranate“ erhalten solle. Walter Dahms zufolge, ließ sich Hans von Bülow,

seinem Vorbild Richard Wagner dabei nicht unähnlich, von emotionalen Wallungen

oftmals zu Pauschalmeinungen hinreisend. Und nur so erklären sich Aussagen und

Zeugnisse, welche sich in Bewunderung und Zuneigung einerseits, scharfer Ablehnung

und Diffamie andererseits zeitweilig vollständig widersprechen. Was einmal in

Zynismus und Häme abgetan, findet zu anderer Gelegenheit wiederum zu Worten

warmherziger Verehrung. Neben den Faust und Genoveva–Kompositionen Robert

Schumanns, sowie dessen frühen Klavierwerken beispielsweise Musik und Wirken Felix

Mendelssohns!

 

Man kann sagen, daß sich im Falle Robert Schumanns eine rezeptionsgeschichtliche

Entwicklung anbahnte, welche derjenigen Felix Mendelssohns zeitweilig ähnelte.

 

Nicht in der gleichen Intensität und Nachhaltigkeit; da der entscheidende Aspekt

fremdenfeindlichen Ressentiments im Falle Schumanns nicht zur Verfügung stand.

 

Dennoch prägten sich in jener Zeit Fehlrezeptionen seines Werkes heraus, welche

sich im musikalischen Bewusstsein und musikgeschichtlich allgemeingültig verfestigten

und noch heute um Schumanns Oeuvre herum irrlichtern. In der Hauptsache prägte

sich seinerzeit das unsinnige, spekulative Argument heraus, dieser „habe nicht

instrumentieren können“, die Symphonien „seien schlecht, intransparent und zählebig

instrumentiert“.

 

Überhaupt habe Schumann ja am originärsten fürs Piano geschrieben, habe sich dem

symphonischen Satz vom Pianistischen her genähert und für die Symphonik kein

rechtes Empfinden aufgebracht.

 

Diese Stereotypisierungen fanden zu einiger musiktheoretischer Erörterung, an

Versuchen, die Symphonien durch nachträgliche Retuschen (Mahler) zu „korrigieren“

 

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und somit für das Repertoire zu „retten“, fehlte es nicht. Angesichts synonymer Abfolge

rezeptionsgeschichtlicher, Parallelitäten, von Intention und Argumentation, Ursache und

Wirkung traditionalistischer Musiker wie Mendelssohn und Schumann, stellt sich nun die

Frage, warum es das Werk des einen zu „retten“ galt, während dasselbe des anderen

brachlag. Die Gründe dafür dürften wohl kaum im Bereich des Musikalischen zu suchen

sein!

 

Dennoch waren die Anhänger traditionalistischer Ästhetik den Umtrieben aggressiv

neudeutscher Rhetorik keineswegs gänzlich rückhaltlos ausgesetzt. Neben den

genannten Schumannianern um Joseph Joachim, Clara Schumann und dem Publizisten

Herrmann Grimm verfügten dieselben mit der von Mendelssohn ins Leben gerufenen

Musikakademie über einen gewichtigen, einflussreichen Stützpunkt. Des Weiteren erbot

sich in der Person des berufenen zeitgenössischen Komponisten Johannes Brahms ein

respektabler Widerpart gegen den in den 7oziger und achtziger Jahren des 19.

Jahrhunderts erdrückend übermächtigen Schatten des neudeutschen Musikdramatikers

Richard Wagner, welcher mit dem brillanten Feuilletonisten Eduard Hanslick einen

einflußreichen publizistischen Mitstreiter an seiner Seite hatte. Joseph Joachim hatte im

Herbst des Jahres 1857 brieflich mit dem ehemaligen musikalischen Weggefährten

Franz Liszt gebrochen und begründete seine Weigerung, an einer Tonkünstlerfeier zum

 

100. Geburtstag des Weimarer Großherzogs Carl August teilzunehmen

folgendermaßen:

"Die Beharrlichkeit Deiner zutrauensvollen Güte, mit der Du (...) Dich zu mir neigst,

um mich dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt zu sehen, hat für

meinen bisherigen Mangel an Offenheit etwas beschämendes. Hätte ich nicht dass

tröstende Bewusstsein, dass dieser Mangel an Offenheit nicht Feigheit sei, und

vielmehr mit dem besten Gefühl verwandt war, das (...) die tiefe Wahrheitsliebe und die

Tiefe Neigung zu Dir (...) ein Stachel für Dich zu werden (...) imstande sein könne. (...)

 

Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugänglich; sie widerspricht allem, was mein

Fassungsvermögen aus dem Geist unserer Grossen (...) als Nahrung sog.

 

Wäre es denkbar, dass ich je dem entsagen müsste (…) was ich als Musik empfinde,

Deine Klänge würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden Öde ausfüllen. Wie

sollt ich mich (...) da mit denen verbrüdert sehen -die die Verbreitung Deiner Werke mit

allen Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe machen? (...)

 

Ich kann euch kein Helfer sein und darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein

haben, die Sache, die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So muss ich

denn auch Deine liebe Aufforderung zur Teilnahme an den Festlichkeiten in Weimar

unbefolgt lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um als Heuchler (...) gegenwärtig

zu sein."

 

Die Funktion des Konservatoriums als Reservoir des humanistisch inspirierten,

musikalisch absolut ausgeprägten Kompositionsideals Mendelssohns erwies sich vor

allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings als eine zweischneidige.

 

Einer vielfach überlieferten kulturgeschichtlichen Erfahrung entsprechend, wonach

Adepten kaum jemals die vom Initiator eines Reformwerks vorgegebenen

Idealvorstellungen auf gleicher Höhe weiterzuführen in der Lage waren, agierten

demzufolge auch die Getreuen des ehemaligen Leipziger Generalmusikdirektors und

Hochschulleiters. Diese waren vor allem Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann,

Ferdinand David, Julius Rietz, und Niels W. Gade; letzterer ein zeitgenössisch

hochangesehener Komponist dänischer Herkunft.

 

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Lassen wir noch einmal Hans von Bülow als Zeitzeugen und Kommentator zu Worte

kommen:

 

"Eine andere Partei hielt dagegen treu an dem Todten fest, aus Pietät, aus

persönlicher Freundschaft, aus musikalischer oder nationaler (d. h. semitischer,

Anmrkg. d. Verf.) Sympathie, und weihte nun den überlebenden Quasischülern

(Nachbetern) Mendelssohns eine größere Beachtung als früher. Dahin gehörten

namentlich die Praktiken, denen an einem Nachfolger des Dirigenten Mendelssohn

gelegen war und die einen solchen in Rietz fanden..." (Zitiert aus dem Aufsatz "Das

musikalische Leipzig in seinem Verhalten zu Richard Wagner")

 

Als Vorstände des Konservatoriums trachteten die Genannten, den von Felix

Mendelssohn authentisch ausgeprägten Istzustand ideal angeleiteten ambitionierten

Musizierens mustergültig festzuschreiben.

 

„Er hat mich an das ihm so liebe Institut berufen; ein Wirken daran mit ihm wäre mir eine

tägliche Freude und Genugtuung gewesen, das Wirken daran ohne ihn bleibt mir Pflicht

und heiliges Vermächtnis. Ich muss nun für uns beide arbeiten."

 

So beschied Ignaz Moscheles -im Oktober des Jahres 1846 von Felix Mendelssohn

ans Konservatorium berufen -seine Gattin Charlotte in ihren Erwägungen einer

Rückkehr nach England nach Mendelssohns unerwartetem Verscheiden. Treffender

lassen sich Vorstellungen und Geisteshaltung kaum zusammenfassen, mit welchen die

Nachlaßverwalter vermeintlich Mendelssohnschen Gründungs-und Arbeitsgedankens

am Leipziger Musikkonservatorium an diese Aufgabe herangingen.

 

Ausdrücke wie "Pflicht" und "heiliges Vermächtnis" legen den Verdacht auf ein gewisses

Maß von Fundamentalismus, Dogmatik, „konservierende“, ein Ideal für alle Zeiten

festschreibende, formal in sich erstarrende Gralshüterschaft bei der Bewältigung dieser

Aufgabe nahe. In diesem Bemühen übersahen die Repräsentanten eines expliziten

Leipziger Konservatoriumsstils jedoch das Bestreben Mendelssohns, die propagierten

musikalischen Formvorgaben konzeptionell, harmonisch und klangsprachlich um eigene

Erfahrungen und Einsichten zu erweitern. Bereits in den 50ziger und 60ziger Jahren des

 

19. Jahrhunderts verfestigte sich, dem hohen Ruf und weitreichenden

kompositionstheoretischen Einfluss des Institutes zum Trotze dort ein Akademismus

substanzarmer unflexibler Musikkonservative. Im Sinne der charakteristischen Adorno-

Maxime: „Mendelssohn – gegen seine Liebhaber verteidigt!“ bedingte diese Haltung die

fehlgeleitete Vermächtnispflege eines Klischees, welches sich auf die zeitgenössische

Einschätzung der originären musikalischen Kompetenz des Konservatoriumsgründers

im Nachhinein unglückselig auswirken sollte.

Zum einen firmierte das im Akademismus verharrende Konservatorium zu Leipzig in

verallgemeinerter öffentlicher Wahrnehmung als „Mendelssohn-Schule“, galten

Absolventen desselben – gleich dessen, ob es sich um heute möglicherweise zu Recht

vernachlässigte Kompositeure wie Martin Blumner, Friedrich Kiel, Ludwig Meinhardus,

Karl Reinecke und Robert Volkmann Joachim oder wahrhaft inspirierte Tonschöpfer wie

Max Bruch oder Edvard Grieg handelt - pauschal als „Mendelssohnianer“ und Epigonen.

 

Des Weiteren unterfing sich das Konservatorium -vor allem unter der Ägide des

Thomaskantors Moritz Hauptmann -in der musikästhetischen Diskussion gegen die

Bestrebungen "neudeutscher" Avantgardisten zu polemisieren. Hauptmann trachtete

danach, Repräsentanten Neudeutscher Musik dem Konservatoriumsbetrieb so weit als

möglich fernzuhalten, um den bestehenden Ruf zentralen traditionalistischen

kompositionstheoretischen Lehrens in Deutschland und Europa keinesfalls zu

gefährden.

 

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Dies gab selbstredend Anlas zu aggressiv vorgetragenen publizistischen Retouren

neudeutscher Ideologen auf das Konservatorium als „Mendelssohn-Schule“; ließ somit

den Konservatoriumsinitiator erneut zum Ziel rhetorischer Attacken werden.

 

Das Wort von den epigonalen „Mendelssohnianern“ machte die Runde, der

nazarenisch-erbaulichen Kleinmeisterei postbachscher und -Mendelssonscher

Oratorien, der pianistischen Kleinwerke, welche bei Mendelssohn noch mit wahrer

poetischer Empfindung erfüllt, sich nunmehr in kitschigem Sentiment ergössen; die

Begriffe „Geschmacksgefährlichkeit des Mendelsohnschen Vorbildes“ (Riemann) oder

der pianistischen „Salonmusik“ kamen auf.

 

Dem spezifischen Unterfangen einer Konsolidierung des Mendelssohnschen Erbes

zumindest dienlicher erwies sich die publizistische Tätigkeit Hanslicks. In der Rezension

einer Veranstaltung der Wiener Singakademie in der Zeitungsrubrik "Aus dem

Konzertsaal" aus dem Jahre 1858 entlarvt er, neben einer erwartungsgemäß vom

traditionalistischen Standpunkt aus geführten Suada gegen die Verrottung

musikästhetischer Gepflogenheiten, hellsichtig die Intention des gegen Mendelssohn

betriebenen "neudeutschen" Nihilismus:

 

„Die Degradierung Mendelssohns zu einer „falschen Zwischenbildung“ in der

Geschichte der Musik muss wohl die Ansicht in sich schließen, daß wir ohne diesen

Auswuchs viel weiter wären. Darauf ist zu erwidern, daß im Gegenteil in Mendelssohns

Erscheinen gerade zu dieser Zeit und in diesem Zusammenhang eine der weisesten

Fügungen der Kunstgeschichte liegt. Ohne seine Formschönheit, sein reines, klares

Gestalten wäre (...) die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der „Zukunftsmusik“

erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen.“

 

Im Jahre 1869 gab sich der Komponist Richard Wagner öffentlich als Verfasser einer

zweiten, überarbeiteten Fassung des "Judenthums in der Musik" zu erkennen. Unter der

Protektion des Bayernkönigs Ludwig II. hatte er mit den Uraufführungen von "Tristan

und Isolde" und den "Meistersingern" in München endgültig die Anerkennung eines

Opernreformers und Musikdramatikers gefunden. Mit der wachsenden Popularität

seines musikalischen Werkes nahm auch der Einfluss des Theoretikers Richard Wagner

auf das kulturelle und geistige Leben des späten 19. Jahrhunderts zu. Somit griffen

auch dessen antisemitischen Ansichten um sich, welche er in weiteren verschärft

argumentierenden Schriften erhärtete.

 

10.Der letzte Deutsche

 

Jens Malte Fischer vertritt in seiner fulminant recherchierten und verfassten Schrift

„Richard Wagners „Das Judenthum in der Musik“ (welcher die Fakten zur Gestaltung

aller dem Judenpamphlet gewidmeten Abschnitte hiesiger Ausführungen entnommen

sind) die These, das erst die Zweitpublikation des Traktates „der eigentliche Sündenfall“

des Wagnerschen Antisemitismus gewesen sei.

 

Im Gegensatz zu dem perfiden und feigen Versteckspiel des jungen mittellosen

exilierten, weithin verkannten Musikdramatikers um das Pseudonym „Karl Freigedank“

herum, unterzeichnete ein nunmehr erstarkter und breitgefächert akzeptierter Richard

Wagner mit dem eigenen vollen Namen. Das Pamphlet erschien im März 1869 als

Broschüre im J. J. Weber Verlag in Leipzig. Wagner versah es mit einem kurzen

Vorwort und einer langen Erläuterung im Nachsatz.

 

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In den Jahren zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und den siebziger

Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die allgemeindeutsche Judenemanzipation und

Konfessionsgleichstellung rasche Fortschritte gemacht. Wagner sah sich im Jahre 1869

mit einem Ausmaß „drohenden“ Einflusses von gleichgestellten Juden in der

Gesellschaft gegenüber, welches seine wiedererstarkten antisemitischen Aggressionen

und Aversionen dem Judentum gegenüber hervorrief.

 

Die Neupublikation von „Das Judenthum in der Musik“ muss also als unmittelbare

Reaktion auf diesen Gleichstellungsschub im Jahre 1869 gesehen und verstanden

werden. Einen wesentlichen Einfluss auf die antisemitischen Eruptionen Wagners im

Jahre 1869 hatte der Aufsatz „Was ist deutsch?“, welcher dem Briefwechsel Wagners

mit König Ludwig II. entnommen ist. Darin versuchte Wagner mit allen ihm zu Gebote

stehenden publizistischen Mitteln den König (allerdings völlig ergebnislos) für seine

antisemitische Einstellung zu gewinnen.

 

Noch im Jahre 1882, im Zuge von Querelen zwischen Wagner und Ludwig II. um dieÜberlassung der Königlich Münchnerschen Hofkapelle und deren jüdischen Leiters für

die Uraufführung von Parsifal in Bayreuth, schreibt Wagner an den König prophetisch

vorausgreifend:

 

„Der ich mit mehreren dieser Leute freundlich mitleidsvoll und teilnehmend verkehrte,

konnte ich dies doch nur auf die Erklärung hin ermöglichen, dass ich die jüdische Race

für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass

namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht

bin ich der letzte Deutsche , der sich gegen den bereits alles beherrschenden

Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste“.

 

Überhaupt machte Richard Wagner anlässlich des von ihm selbst und seiner

künstlerischen, finanziellen und politischen Maßlosigkeit verschuldeten Scheiterns

seiner Münchner Pläne und den erneuten Gang ins Exil nahezu fiktiver „jüdischer

Verschwörer“ in München verantwortlich.

 

Dies stachelte den in der zweiten Hälfte der 1860ziger Jahre angewachsenen Zorn

Wagners gegenüber der insgesamt als feindlich imaginierten „jüdischen Race" auf,

welcher in der Aufsehen erregenden Neupublikation des „Judenthums in der Musik“

eben am Ende jener 1860ziger Jahre einmündete.

 

Die zersetzende, Wagners Text und Musik als Ingredienzien eines gewaltigen Bluffs

verortete Rezension der Uraufführung der „Meistersinger“ in München durch den Kritiker

Eduard Hanslick ließ das Fass antisemitischer Aggression in Wagners Denke

sprichwörtlich überlaufen und gab somit einen letzten Anschub der Neuedition des

Judentraktates.

 

Der Wiener Rezensent Eduard Hanslick hatte sich von der anfänglichen Bewunderung

des jungen Richard Wagner zum nunmehr schärfsten und gefährlichsten Gegner des

selbsternannten Musikdramatikers entwickelt. Die Tatsache, dass Hanslick Jude war,

stachelte Wagner zu besonderem Hass gegenüber dem mächtigen Rezensenten auf

und verleitete ihn dazu, diesen mit der Figur des Merkers (also Kritikers) Sixtus

Beckmesser in dem Personenstab der „Meistersinger“ zu karikieren. (Die Figur sollte

anfangs sogar Hans Lick heißen.)

 

Hanslick schrieb also: „Nicht die Schöpfung eines echten Musikgenies haben wir

kennengelernt, sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers , welcher -ein

schillerndes Amalgam von Halbpoet und Halbmusiker – sich nach der Spezialität seines

in der Hauptsache lückenhaften in Nebendingen blendenden Talentes ein neues

System geschaffen hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner

konsequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist“.

 

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Hanslick legt dabei die beiden zentralen eklatanten Schwächen im Getriebe von

Wagners gesamten musikdramatischen Wirken bloß. Die Tatsache das der „Halbpoet“

Wagner die Poesie stets nur zweckdienlich, anhand der Massvorgabe seines

dramatischen Anliegens betrieb, bedingt, das solche sklavisch linear aufgefasstes

Versgeschmeide sich niemals zu der Wirkmächtigkeit eines unbedingten freien

Aufschwungs an einem entgrenzten, poetischen Horizont fähig sein kann.

 

Des weiteren verdeutlicht Hanslick, dass der „Halbmusiker“ Richard Wagner,

beschwert auch von seiner mangelhaften musikalischen Ausbildung, eine wiederum

nur der tonkünstlerischen Entsprechung eines verbalen und dramaturgischen

Leitfadens, oder besser: eines Konstruktes dienende, ohne Ansehen harmonischer

Gesetzmäßigkeiten und des formalen Gestaltungswillens, geschaffene lineare Musik

vorlegte, welche rein musikalisch besehen, schlichtweg nichts taugt.

 

In der Neupublikation ereiferte sich Wagner unter anderem über die Heimat-und

Musikstadt Leipzig und schmäht dabei auch wieder das Andenken Mendelssohns,

welcher der Stadt eine „eigentliche musikalische Judentaufe“ erteilt und jene dadurch

zur „Judenmusikweltstadt“ gemacht habe. Ausfälle wie jene gegen das „moderne

Israel“, den „Judenjargon“, das „Musikjudentum“ und die „Musikjuden“ folgten.

 

Wer sich angesichts dieser Schlagworte unwillkürlich an die verbürgte Hetzsprache

des Nazi-Regimes erinnert fühlt, tut dies zu recht: so unglaublich vieles war schon

bereits von Wagner aus-und vorformuliert worden und brauchte nur aufgegriffen und

angewandt zu werden.

 

Zentraler Punkt des Schreibens ist die Suggestion einer abwegigen paranoid

empfundenen „jüdischen (Musik-) Weltverschwörung gegen Person, Werk-und Ruhm

Richard Wagners“. (J. M. Fischer)

 

Was Wagner in Wahrheit selbst mit nachhaltigem Erfolg betrieb, die umfassende

Zerstörung des Werkes und Ruhmes eines angesehenen Komponisten mit

publizistischen Mitteln, wähnt er mit pathologischem Eifer, quasi wie ein Schattenboxer,

auch gegen sich selbst gerichtet.

 

Er schrieb also: „Denn über Eines bin ich mir klar: so wie der Einfluss, welchen die

Juden auf unser geistiges Leben gewonnen haben, und wie er sich in der Ablenkung

und Fälschung unserer höchsten Kulturtendenzen kundgibt, nicht ein bloßer, etwa nur

physiologischer Zufall ist, so muss er also auch als unleugbar und entscheidend

anerkannt werden. Ob der Verfall unserer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung

des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könnte vermag ich nicht zu

beurteilen weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist.“

 

Wagner blickt also dabei prophetisch in die Zukunft und sieht dort Kräfte

heraufdämmern, welche er in seinen Schriften mit gewaltigen Worten wiederum selbst

heraufbeschworen hatte.

 

Wagners Person geriet denn in den späten 1860ziger und in den 70ziger Jahren auch

zu einem Empfänger von quasi umfassendem, unbedingtem, royalem Anspruch

zahlloser antisemitischer Denk-und Hetzschriften oder wurde, besser gesagt, darüber

hinaus gar zum geistigen Führer einer neuen antisemitisch-politischen Bewegung in

Deutschland.

 

Im Privatleben Wagners, welches sich so treffend in Cosimas Wagners Tagebüchern

überlieferte, herrschte denn auch die Meinung vor, mit der Neupublikation des

 

45

 

 


 

Judentraktates den Anfang der Antisemitismusbewegung der 1870ziger Jahre gegeben

zu haben und so reflektierte Cosima Wagner im Tagebuch stolz und frohgemut: „Wir

lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang

dieses Kampfes gemacht hat“.

 

Jens-Malte Fischer fasst im Abschluss seines Kapitels „Die Wirkung der Broschüre

von 1869“ denn auch folgerichtig zusammen: „Er (Wagner) gab der zehn Jahre später

ausbrechenden massiven Antisemitismuswelle eine Art Anschubfinanzierung, und so ist

seine und Cosimas Befriedigung darüber, daß die Broschüre den Anfang gemacht habe,

leider von der historischen Wahrheit nicht sehr weit entfernt.“

 

Und so schrieb Eduard Dühring im Jahre 1881 in seinem Pamphlet „Die Judenfrage als

Rassen-, Sitten-und Kulturfrage“, welches sich zu einem maßgeblichen Werk innerhalb

des deutschen Antisemitismus der Kaiserzeit entwickelte (in der 5.ten Auflage aus dem

Jahre 1901: (So) „soll ihm das Verdienst nicht bestritten werden, als selbstständiger

Schriftsteller schon früh in die Judenfrage eingegriffen und einige mit der Kunst

zusammenhängende Eigenschaften sowie die geheime literarische Verfolgungssucht

der Juden zur Sprache gebracht zu haben“.

 

Das Fatale an der Neupublikation der Judenschriebs ist doch jenes: In einem Umfeld

des obskuren Publizierens antisemitischer Wirrköpfe, welche die zeitgenössische

Intelligenz nicht akzeptierte oder ernst nahm, werden hier die antisemitischen Thesen

von einer gewichtigen, weithin berühmten Musikpersönlichkeit deutschen ja

europäischen Ranges öffentlich vertreten.

 

Der von Wagner und seinem Gefolge initiierte, von der Gründung Wahnfrieds an bis

zum Untergang Bayreuths im Jahre 1945 bestehende Bayreuther Kreis, verbreitete

unausgesetzt über das Sprachrohr der Bayreuther Blätter die von Wagner und seinem

Ruhm so fatal geadelte, in den Rang eines deutschen und europäischen Diskurses

erhobene antisemitische Denke Wagners.

 

Jens Malte Fischer gemahnt in dem Kapitel „Die Nachwirkung“ aus „Richard Wagners

Das Judentum in der Musik“ eindringlich die Gefährlichkeit dieser zersetzenden, alle

Bindungen bürgerlicher Ordnungen bis zum Ausflocken der einzelnen Bestandteile und

Gesetzmäßigkeiten agierenden oder reagierenden Thesen.

 

Und somit ist eine allgemeine „meist ausgesprochene, gelegentlich auch

unausgesprochene Traditionslinie der Berufung auf Richard Wagner in allen Aspekten

der Judenfeindschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts ungebrochen bis ins „Dritte Reich“

hinein feststellbar, und vor allem im Zusammenhang von Kunst und Kultur, speziell von

Musik“ (Fischer).

 

Um 1870 herum trat auch der Leipziger Publizist August Reißmann; ein ehemaliger

Konservatoriumsschüler Felix Mendelssohns mit Schriften an die Öffentlichkeit. In

diesen vermochte er es kaum, das Werk dieses Komponisten im Stande gebotener

ästhetischer Eigenständigkeit zu beurteilen. Vielmehr unterwarf er es erneut dem

alleinigen Maßstab musikalischen Fortschritts. Es verdeutlicht sich erneut, wie dominant

sich dieses von der "Neudeutschen Schule" kultivierte Dogma in jenen Jahren

gebärdete – wie sehr die sachlich ästhetische Analyse von Musik als eines Sprachrohrs

nur in eigener Sache damals verunmöglicht war.

 

Reissmanns Mendelssohn-Traktat ist allein durch sein Benehmen bemerkenswert, die

antisemitischen Theorien und speziell auf Mendelssohn gemünzten abfälligen Invektiven

 

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einer angeblich oberflächlichen angekränkelten jüdischen Psyche sowie synthetischen

künstlerischen Empfindens aus Wagners "Judenthum" nahezu identisch in den

unverdächtigeren Tonfall "objektiv" musikwissenschaftlichen Theoretisierens übertragen

zu haben. Er gab somit einer Entwicklung eines Kataloges musikalisch absolut

vorgetragener, scheinbar von den offenkundigen antisemitischen Stossrichtung des

Wagnerschen Traktates gänzlich befreiter, negativer Mendelssohn-Stereotypisierung

erheblich Vorschub.

 

Reissmann schreibt also:

"Mendelssohns ganze Erziehung hatte in ihm früh jenen genialen Sinn für

Formvollendung ausgebildet, der es im Grunde verhinderte, dass seine Individualität

sich wirklich selbstschöpferisch und neu gestaltend vertiefte (...) Früh leitete ihn das

Bewusstsein von der idealschönen Form, in welche er seine Individualität zu ergießen

strebte, diese aber war weder sehr tief noch überaus reich ausgestattet (...) Mit

rastlosem Fleisse (...) hatte er sich die unumschränkte Herrschaft über alle Mittel der

musikalischen Darstellung angeeignet, aber er verwendet diese immer nur nach dem

durch seine Individualität beschränkten Maße (...) Er stellt seine leichter entzündbare

Phantasie, sein rascher und mächtiger erregtes Interesse unter die Herrschaft fremder

Einflüsse.

 

Bach und Händel, Mozart und Beethoven (...) gewinnen Anteil an seiner Innerlichkeit

aber nur so weit sie eben Raum darin finden, sodass diese selbst nicht gerade

gewaltiger und tiefer wird. (...) Mendelssohns Phantasie wird von der des Dichters nur

angeregt; der Meister empfindet die fremde Dichter-Individualität nur in dem

beschränkten Rahmen seiner eigenen und vermag sie daher auch nicht umzudichten

(...) Selbst jetzt, nachdem uns der ganze Mendelssohn bekannt ist, wird es nicht leicht,

in den Liedern op. 8 und 9 die besondere Weise seines Empfindens zu erkennen, weil

hier das Fremde und Angelernte überwiegt. (..) Sie sind alle im Sinne und Geiste der

größten Meister empfunden, aber der Ausdruck ist auf jenes Maß zurückgeführt und

abgeschwächt, das ihm für die ganz grosse Allgemeinheit Giltigkeit gibt und daher den

Liedern die weiteste Verbreitung sichert. Die Lyrik Mendelssohns wurde so (...) zur

Massenlyrik. (...)

 

Mendelssohn führte mit seinen "vierstimmigen Liedern im Freien zu singen" auch dem

Chorliede alle die in seiner Individualität abgeklärten Elemente des Musikempfindens

seiner Zeit zu (...) Der vierstimmige Liedergesang stellt nirgends Anforderungen, die

außerhalb der Individualität unsres Meisters liegen. Subjective Vertiefung wie die

Verdichtung zu grossen und weit angelegten Tonbildern sind dem Chorliede ebenso

fremd wie unserem Meister. Die besonderen Feinheiten des Empfindens finden natürlich

nur so weit Berücksichtigung als sie sich im Chorliede darstellen und dem

Gesamtempfinden vermitteln lassen -und hierin ganz besonders liegt Mendelssohns

unübertroffene Meisterschaft. " ("Die drei grossen Meister der musikalischen Lyrik" in

"Die Tonhalle", Leipzig vom 9.11.1869)

 

In Erörterungen der "Kunst-und Kulturgeschichtlichen Bedeutung" Mendelssohns

verweist Reissmann zwar auf den hohen Rang der "ewig gültigen Kunstwerke, welche"

Mendelssohn in "schöpferischer Wirksamkeit für die gesamte Kulturentwicklung",

hervorgebracht habe, gibt aber des gleichen zu bedenken, daß man Innovation

vergleichbaren Ranges hinsichtlich "Weiterbildung der Kunst" und eines "neuen

Ton(es)...der zur Weiterverfolgung anregte" nicht zu erkennen vermöge.

 

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Verblümt, in umsichtig, taktvoll erwogener Formulierung, wird hier der Einschätzung

Vorschub geleistet, das Mendelssohns Musik zwar unbestreitbar den Geschmack zeitgenössischer

Hörerschaft vollgültig befriedigte, Hörern künftiger Generationen aber wohl

kaum noch wesentliches zu sagen vermöchte.

 

Solch Ausmaß nachhaltig um sich greifender Mendelssohn-Verfemung riefen Freunde

und Weggefährten wie den Komponisten und Dirigenten Ferdinand Hiller zur

Verteidigung von Namen und Rang Mendelssohns auf.

 

Hiller veröffentlichte im Jahre 1874 ein Gedenkbändchen, welches der Öffentlichkeit

"Briefe und Erinnerungen" zugänglich machte. Im Vorwort machte Hiller aus dem Anlass

der Publikation keinen Hehl und schrieb daher:

 

"Verehrer Mendelssohns haben es mir vorgeworfen, nicht schon vor längerer Zeit mit

Mitteilungen über ihn hervorgetreten zu sein. Vielfache Gründe hielten mich davon ab.

(...)

 

Jetzt aber trete ich um so freier mit diesen von dem Dahingeschiedenen so

liebenswerte Züge enthaltenen Blättern hervor, als er, einer der schönsten und hellsten

Sterne am Himmelsgewölbe deutscher Kunst, gerade in seinem Vaterlande, von dem

Unverstand, der Urtheilslosigkeit und dem Neide Angriffe erfährt, welche nur denen, von

welchem sie ausgehen, zur Unehre gereichen; denn der Glanz, in welchem sein Name

erstrahlt, zu verdunkeln wird ihnen nimmer gelingen. Das Gold widersteht dem Roste.

("Felix Mendelssohn-Bartholdy, Briefe und Erinnerungen, Köln 1874)

 

In den 70ziger Jahren des 19 Jahrhunderts verfielen Rezensenten zunehmend darauf,

Mendelssohns Klavierwerke explizit in den Rang oberflächlich brillanten

Demonstrationsrepertoires pianistischer Fähigkeiten von Nachwuchskünstlerinnen zu

erheben. So schrieb die "Tonhalle" im April des Jahres 1870:

 

"Fräulein Mehlig spielte die Pianopartie des schönen Es-Dur Trios, Phantasiestücke von

Schumann, Präludium und Fuge von Mendelssohn (...) Hier war ein großes Feld reicher

Kontraste! Schumanns tief innerliches Phantasiestück neben Mendelssohns maßvollem

und glattem Präludium".

 

Am 2.ten November heißt es ebenda:

„ Wenn wir in dem herrlichen Bachschen Präludium und Fuge, (...) von den großartig

unruhigen Tonwellen und dem markigen Fugenthema fortgerissen wurden, so war auch

die Klangwirkung des Mendelssohnschen Adagios von dem weichesten Charakter

durchweht."

 

Am 7. Dezember schrieb die "Tonhalle" wiederum:

 

"Einen höchst erfreulichen poetischen Reiz gewährten die Claviervorträge der

sechzehnjährigen Frl. Emma Brandes aus Schwerin. Wenn eine so jugendliche

Persönlichkeit sich an ein Stück wagt, wie das G-Moll-Concert von Mendelssohn, (...) so

will das viel sagen. (...) Wir mussten uns bei dem Spiel der Frl. Brandes gestehen, was

zu ahnen noch kein Künstler bei uns veranlasst hatte, daß das G-Moll-Concert dem

Ausführenden, wenn er von musikalischer Intuition durchdrungen ist, bei dem Spielen

dieses scheinbar mehr für die glänzende Entwicklung wahrer Technik geschriebenen

Stückes Gelegenheit giebt, alle Vorzüge eines vortrefflichen Clavierspielers zu

offenbaren.

 

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Abschließend sei die Ausgabe vom 14.12.1870 zitiert:

 

"Die noch im kindlichen Alter stehende Pianistin Laura Kahrer, welche sich bereits in

mehreren bedeutenden Städten mit Erfolg produziert hat, gab ein Concert, das in vieler

Beziehung Staunen zu erregen geeignet war. (...) Die Handgelenke (...) sind auffallend

elastisch und befähigen zu erstaunlich leichtem und graciösem Octavenstaccato und

überhaupt leise über die Tasten hingehenden so genannten Mendelssohnschen

Clavierfiguren."

 

11. Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben!

"Glücklicher Mensch! Dich erwartet wohl nur ein kurzes Ephemeren-Leben, aber Liebe

Glück und Kunst haben es aus Licht und Wärme Dir gewoben! Zieh hin und sinke, wenn

es sein muss, wie alles Schöne im Frühlinge dahin!"

 

Euphemistisch belegt Adele Schopenhauer die außerordentlichen Wirkung, welche der

12-jährige Knabe Felix auf die Schwester des Philosophen und allgemein ausübte.

 

Darüber hinaus nimmt sie prophetisch die Geschicke Felix Mendelssohns in

zwiefacher Hinsicht vorweg. Den Lebensweg des Komponisten zum einen; äußerlich

wahrnehmbar scheinbar ein einziger Höhenflug.

 

Zum zweiten: den stereotypen Rückschluss von privilegierter Biographie auf die

musikalische Substanz von Kompositionen, welcher sich in zunehmend veräußerlichter

Betrachtung des Sujets durch Musikologen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

herausbildete. Vom 3. Weg, dem inneren Weg des musikalischen Humanisten in eine

substantielle emotionale und musikalische Melancholie hinein, in die Gewissheit um das

Vergehen einer Epoche, welche entscheidende gesellschaftliche Veränderung durch

Kultur und Bildung für möglich hielt; in die finale Gewissheit, versagt, das Hauptziel,

vermittels Musik die Menschen innerlich zur Vervollkommnung und Erkenntnis

anzuleiten, nicht erreicht zu haben, konnte Adele Schopenhauer nichts vorausahnen,

wollten besagte Musikologen nichts erahnen.

 

Sie überlagern sich mit der sachfremden Argumentation einer Musikwissenschaft

späterer Zeiten, welche die idealisierte Gleichsetzung der Betrachtung von Werk und

Person eines Komponisten zum Dogma erhob.

 

Bedeutsame Musik: komponiert von einem Menschen, dem es, frei von materiellen

Sorgen, geliebt, künstlerisch von jeher gefördert und vorbehaltlos akzeptiert,

nachweislich immer wohl erging? Wie wäre das möglich?

 

In einer übersteigert-romantischen Vorstellung jener Jahre von Kunst als

entsagungsvoller Verpflichtung rang das wahre Genie -der Heros des Judenaufsatzes abseits

von Anerkennung oder Lebensglück um meisterliche musikalische Wahrheit.

 

Erst spät oder niemals fand so das Werk bedeutender Künstler zu Lebzeiten

Anerkennung. Das persönliche Leid des Künstlers als zuverlässigster Indikator

künstlerischer Größe, dem Maßstab einer beinahe mathematisch vorgenommenen

Relativierung unterworfen: Je mehr persönliches Leid, desto bedeutsamer das Werk.

 

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Wies nicht allein der Vorname Mendelssohns symbolträchtig darauf hin, wie sehr sich

Gedanken an Genialität und Meisterschaft hinsichtlich seines Werkes ausschlossen:

"Felix" - "der Glückliche"!

 

Intermezzo II: "Felix! Tust Du nichts?!"

 

rief Mutter Lea stets, wenn der Knabe sich ins Plaudern verstieg und er sich somit des

Müßiggangs hingab. Auch der zum Manne herangereifte Felix Mendelssohn mochte

diesen zu unablässigem Bildungsfleisse anspornenden Ruf innerlich noch oftmals

vernommen haben.

 

"Nun ist Glückhaben noch kein persönliches Verdienst; entscheidend ist, wie einer sein

Glück empfängt und verwaltet (...) Betrachten wir also die Lebensstationen dieses in der

Tat vom Glück begünstigten Künstlers, der (...) das ihm Zugefallene täglich in harter

Arbeit bis zur Erschöpfung sicherte, (...) der mit der Bürde "Glück" in einem nur kurzen,

sich selbst verzehrenden Leben fertig werden musste." gibt Eduard Kleßmann in "Die

Mendelssohns -Bilder einer deutschen Familie" im Hinblick auf die tiefschichtiger

erkennbaren Aspekte eines Felix Mendelssohn Bartholdy zuerkannten Übermaßes

glücklicher Lebensumstände zu bedenken.

 

Das stereotyp wiedergegebene Genrebild vollendeter Sorgenlosigkeit ignoriert

demzufolge das Desinteresse Mendelssohns an potentiellem großbürgerlich-

materiellem Müßiggang.

 

Allein die Leipziger Jahre zeigen Momente einer Schaffensverpflichtung auf, welche

nahezu etwas Getriebenes, Psychopathologisches in sich tragen. Die Vermutung, daß

die Ruhelosigkeit eines im innersten Wesen zutiefst unsicheren Menschen, die sich

auch in leichter Reizbarkeit, den verbürgten raschen Dirigiertempi und der Häufigkeit der

Tempovorgaben Presto, Molto vivace, Molto allegro con fuoco in den Kompositionen

äußerte, zu Überarbeitung, Depression und vorzeitigem Tode des Komponisten

beitrugen, liegt nahe.

 

Das Klischee schmerzgeboren titanesker Kreativität des Genies, welchem ein in

pastoral-ätherischer Idyllik dargestellter "Felixissimus" nicht zu genügen vermochte,

wurde von der Musikpublizistin La Mara in ihrer Darstellung von "Musikalischen

Studienköpfen" trefflichst bedient. Auch hier firmiert nicht der wahre Name einer Autorin;

die eigentlich auf den Namen Marie Lipsius hörte. Gleich zu Beginn ihrer Darstellung

heißt es:

 

"Auf lichten Höhen wandelte er sorglos dahin, unangefochten von Nöthen und

Bedrängnissen des gemeinen Lebens, frei von Zwiespalt und Kampf, wie sie die

Künstlerseele so häufig beschweren".

 

Als ob ästhetisches Räsonieren und kreatives Handeln den Anforderungen des

Kriegsfalles unterworfen sei, der Künstler sich in Wahrheit also am Maßstab

vaterländischen Gemeindienstes als substantiell erzeigte, behauptet La Mara Lipsius in

wahrhaft martialischer Gestimmtheit:

 

"Ein Heldencharakter freilich wird nicht im Sonnenlichte gezeitigt, er bedarf der Schatten

und Kämpfe von grossen Schmerzen.

 

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So ist auch Mendelssohn kein Heldencharakter geworden, nicht das, was man einen

Heros der Töne nennt. Ihm fehlt die genialische Überfülle, die himmelanstürmende

Kraft, die kühne Ursprünglichkeit, die jenen macht.

 

Nicht in die nächtigen Tiefen innerlichen Ringens und Kämpfens ist er

hinabgestiegen, eine Welt in sich befriedeter Schönheit und wolkenloser Klarheit ist es,

darin seine Muße zu verweilen pflegt.

 

Aus solch Zerrbildnis heraus betrachtet, überzogenen Ansprüchen an

Allgemeinverbindlichkeit kulturellen Wirkens sowie Versäumnissen hinsichtlich

biographischer Wahrheitspflicht geschuldet, war wohl kaum noch angemessene

Darstellung des Oeuvres eines so beschriebenen Kompositeurs vorstellbar.

 

La Mara leistet viel eher einem verhängnisvollen Kulturdarwinismus vom Schlage

Wagners Vorschub, welcher die Künste dem Gesetz des Pathos unterwarf. Das

Pathetische allein ist diesem zufolge groß und wahr; nur der Künstler, welcher des

Lebens Mühsal den Pathos abrang.

 

Das von La Mara vorgestellte Bild gemahnt an die symbolträchtige Fabel von der Grille

und der Ameise. Letztere bemüht sich im Verborgen und finsteren um

überlebenswichtiges Gut, während die Grille sich Sommers tändelnd, musizierend im

flüchtigen Beifalle sonnt und den Winter nicht zu überstehen vermag.

 

12. Von der E-Musik und der U-Musik

Auch die Kluft zwischen den Ebenen Populärmusik und Hochkultur bestärkte eine

Musikwissenschaft, welche Werk-und Rezeptionsästhetik von Musik als selbstverständliche

Einheit auffasste, in ihrem Vorbehalt, es letztendlich nicht mit einem E-

sondern mit einem U-Musiker zu tun zu haben. Die akademische Musikpflege durch

Musikologen, Rezensenten und professionelle Instrumentalisten begann das Bild

Mendelssohns als “Epigonen, faden “Klassizisten” und “schwindender Größe”

festzuschreiben. Die Präsenz seiner Werke auf den Konzertpodien schwand.

Chorgesänge und Klavierkompositionen erfreuten sich in der Haus-und Volksmusik

hingegen ungebrochener Beliebtheit.

 

Nun offenbart sich darin eine aus allen kulturellen Traditionen vertraute Tendenz

intellektueller akademischer Erhabenheit, welche sich mit Heranbildung und dem

wachsenden gesellschaftlichen Einfluss bildungsbürgerlicher Strukturen ausprägte.

 

Es war im 18. und frühen 19. Jahrhundert weniger Ausnahme als Regel, daß

Kompositionen der bedeutendsten Tonschöpfer Volkstümlichkeit erlangten oder gar

gezielt für den populär-oder semipopulärmusikalischen Bereich entstanden. Mozart

hatte keinerlei Schwierigkeiten, neben den erschütternden psychischen Vertiefungen

des "Requiem" und der Titusoper auch Vogelfängerarien für die Wiener Vorstadt zu

schreiben. Mozart-Kompositionen wie das nurmehr volksliedhaft rezipierte „Komm,

lieber Mai und mache....“, das berückende „Rondo alla turca“ für Klavier sowie die

Streicherserenade „Eine kleine Nachtmusik gingen ins bürgerliche Populärmusikgut ein.

 

Auch das Schaffen Haydns („Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee...“ nach der

Symphony Nr. 94 „Mit dem Paukenschlag“ und jenes Beethovens ("Für Elise") blieben

nicht ohne Einfluss darauf.

 

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Melodien aus Carl Maria von Webers „Der Freischütz" wurden bereits Tage nach dem

überwältigenden Premierenerfolg in den Strassen Berlins nachgesungen und –gepfiffen.

Lieder wie „Der Lindenbaum“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Franz Schubert

oder „Guten Abend. Gute Nacht“ von Johannes Brahms zählten im 19. und frühen 20.

Jahrhundert zum Volksliedgut. Die Musikforschung hantiert hier in der Abstrafung

populären mendelssohnschen Volksgutes gegenüber jenem von Mozart, Haydn oder

Brahms offenkundig mit zweierlei Maß.

 

Der Vorwurf bezeichnender, exorbitanter Popularität einzelner Mendelssohn-

Kompositionen lässt vielmehr Subjektivismus, Voreingenommenheit erkennen. So bleibt

nur noch eines von Interesse: wann der gemeinhin sanktionierte Bruch zwischen

populär-musikalischer und neuzeitlich professionell aufgefasster Musiktradition exakt

einsetzte; wen der akademische Bannstrahl traf, wen er verschonte. Eric Werner

definiert die Auflösung gemeinschaftlicher Verwurzelung von „Kunst“ und

„Gebrauchsmusik“ in der Tradition höfischen Musizierens in der sich zunehmend

verbürgerlichenden Ägide Franz Schuberts, also den Zeiten des Metternichregimes in

den Jahren um 1820. Die Instrumentalmusik spaltete sich demzufolge in die nunmehr

unvereinbaren, autonom sich fortentwickelnden „Ebenen der „reinen“ Kunst, die

klassisch-romantische Kammer-und Symphoniemusik sowie die Ebene des Populären

jedweder Operetten-und Tanzmusik jener Zeit und der Salonmusik für Klavier, Harfe

oder das kleine Ensemble der Gartenrestaurants“

 

Die auf solch chronologischer, kulturgeschichtlicher Betrachtung beruhende Analyse

musste also resümieren, das Mendelssohn als „seriöser“ Musiker den „Fehler“ beging,

diverse, nurmehr „Kleinmeistern“ zuerkannte, Populärmetiers wie romantische

Männerchöre, „Lieder, im Freien zu Singen“, Duette und Quartette, Klavierminiaturen

etc. weiterhin bedient zu haben. Möglicherweise mit dem Drang zu solchen Formen gar

seinen wahren künstlerischen Gehalt aufgedeckt zu haben. Aber auch dieser Weg führt

in der Frage: definitive Einschätzung eines Komponisten aus seinem kleinteiligen

Füllwerk heraus keineswegs weiter. Andere Komponisten haben eine Unzahl von

Gelegenheitskompositionen geschrieben oder mit ihrem Werk dezidiert auf

Populärformen Bezug genommen, ohne im Ansehen im Mindesten Schaden genommen

zu haben.

 

Schubert, Schumann und Brahms haben gleichwohl Vokalduette und –Quartette und

Männer-, Frauen-, Gemischtchorsätze a capella bzw. instrumental minimal begleitet

komponiert, Klavierpoesien schätzen wir vergleichbar bei Robert Schumann. Gerade

das Oeuvre Richard Wagners weist einen immensen Bestand von

Gelegenheitskompositionen, Repräsentativ-Chören und –Märschen etc. auf; Werken,

welche dem musikalischen Niveau des eigentlichen Musikdramatikers in keiner Weise

entsprechen und demzufolge heute vergessen sind. Das kammermusikalisch als hoch

stehend eingestufte „Siegfried-Idyll“ entstand nachweislich als improvisiert, im

Treppenhause dargebotenes Geburtstagsständchen an Wagners Gattin Cosima.

 

„Sowohl der „Pilgerchor“ und der „Einzug der Gäste auf Wartburg“ aus der Oper

„Tannhäuser“, als auch die Chorensembles des „Fliegenden Holländer“, die

Vasallenchöre in „Lohengrin“ orientierten sich unmittelbar am Vorbild Mendelssohnscher

Männerchortableaus; der von Mendelssohnscher Feiermusik inspirierte Brautchor im 3.

Akt Lohengrins zählt neben dem Hochzeitsmarsch aus der "Sommernachtstraum"-Musik

zum Archetyp romantischer Hochzeitspiècen.

 

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Des Weiteren gehören die „Holländer“ und „Tannhäuserchöre“ zumindest noch heute

zum Kernrepertoire größerer Feuerwehr-, Polizei-und Volkschorvereinigungen. Welche

seriöse Musikrezeption sähe den Wert zahlreicher Opern vor allem der mittleren Periode

von Verdis Schaffen dadurch geschmälert, daß sie sich exzessiv des hochpopulären

Idioms italienischer Banda-Musik bedienten. Der grosse Johann Strauss II hat kaum

anders als für populär-oder repräsentativmusikalische Anlässe geschrieben und gehört

selbstverständlich zum Repertoire führenden Symphonieorchester aller Länder und

Kontinente. Die Beliebtheit der Mendelssohn-Chöre: Oh, Täler weit, oh Höhen...“, „Wer

hat Dich, Du schöner Wald...“, der Lieder: „Es ist bestimmt in Gottes Rath.“, „Auf Flügeln

des Gesanges...“, des „Frühlingsliedes“ und anderer nachträglich mit Texten

versehenen "Lieder ohne Worte" sowie des anrührend-ätherischen Weihnachtsliedes

„Hark, the herald angels sings.“ verliehen Mendelssohns Schaffen in den Augen der

Musikwissenschaft in steigendem Masse etwas anrüchiges.

 

Das Phänomen ist erneut dem Heroisierunggedanken von Kunst in der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts geschuldet. Musikern, die als "deutsch", als "Heros" geschätzt

wurden, die um ihr Werk "gerungen", "gelitten" hatten, gestand man den „reinen

Volkston“ in den Populäräusserungen als wahre und authentische Äußerung

bedeutender Meister zu. Die Populärnummern derselben wurden quasi durch den

idealen Tiefgang reinen absoluten Schaffens kanonisiert. Wie wenig zuvor dargestellt,

stellte man Mendelssohns Musik seinerzeit in Gesamtheit als „fein-empfindsam,

„sentimental“, „weibisch“, „geschmacksgefährlich“ und somit „jüdisch“ dar. Da dem

Konzertwerk Mendelssohn Bartholdys die genannten Attribute „Genios“ etc.

weitestgehend abgesprochen wurde, mochte man die Populärwerke demzufolge für die

übelsten sentimentalsten Auswüchse eines in sich fragwürdigen, seichten Schaffens

nehmen.

 

Hellsichtig verwies der Musikpublizist Wilhelm Heinrich Riehl bereits im Jahre 1850 auf

jene Aspekte einer kultursoziologische Biographie Mendelssohns, welche dessen

postmortale Reputation durch „sachfremde“ Erörterung und Rückschlag auf das

musikalische Resultat zu gefährden imstande waren.

 

Riehl veröffentlichte in diesem Jahre innerhalb seiner Anthologie von Musikalischen

Charakterköpfen den Essay "Bach und Mendelssohn aus dem socialen

Gesichtspunkte", welcher sowohl als Nachruf auf Felix Mendelssohn als auch eine

Würdigung des Thomaskantors Bach zu dessen 100. Todestag verfasst wurde. Riehl

zählte eingangs als Unbefangener wahrheitsgemäß die humanen und soziologischen

Vorzüge des Tonschöpfers Mendelssohn auf. Diese wurden später in den Werken

anderer Autoren, in vergleichbarer rhetorischer Konzentrierung oder besser;

Überspitzung vorgebracht und sollten der musikbiographisch stereotyp vorgebrachten

Entwertung, ja Karikierung des Vorbildes dienen. Mendelssohn war somit „ein vielseitig

gebildeter, gesellschaftlich gewandter, wohlhabender, fein gesitteter Mann, in fast ganz

Deutschland bekannt, in allen auserlesenen Zirkeln gesucht.“

 

Wenngleich Riehl auch die Darlegung, wie sich „jüdelnde Schreibart“ jener Tage

musikalisch darstellte, schuldig bleibt; umreißt er doch schlüssig die integrale Position

Mendelssohns innerhalb eines zunehmend von bildungsbürgerlichen Idealen

ausgeprägten und getragenen Musiklebens des frühen 19. Jahrhunderts.

 

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Riehl schreibt also:

 

„Er war der erste Musiker, welcher so recht für die „feine“ Gesellschaft – im guten Sinne

des Wortes musizierte. (...) So schrieb auch Mendelssohn im Geiste dieser gebildeten

Gesellschaft, die sich jetzt ausgleichend und vermittelnd über alle Stände hinzieht (...)

 

Es war bei seinem Auftreten etwas ganz neues, einem modern eleganten Musiker zu

begegnen (...), der Lieder setzte, ohne sich die einfältigsten Texte zu wählen, der

Kammermusik schrieb, ohne langweilig, und Salonmusik, ohne frivol zu sein, einen

Tondichter jüdischer Abstammung, der nicht jüdelte, während fast alle christlichen

Lieblingskomponisten des Tages jüdelten. (...) Keine andere Kunst hat einen Mann

aufzuweisen, der in seinem künstlerischen Schaffen so ganz inmitten des sozialen

Lebens unserer gebildeten Kreise gestanden hätte und wiederum so von diesen

verstanden und gewürdigt worden wäre wie Mendelssohn".

 

Die augenscheinliche Affinität Mendelssohns zu seiner bildungsbürgerlich-

musikalischen Umgebung, erweist sich auch in der fruchtbaren Tätigkeit des sich

dezidiert als Humanisten und Citoyen verstehenden Komponisten in Leipzigs Klima

aufgeklärten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Im Gegensatz dazu sollte das Modell

einer zentralen, königlich preußischen Musikdirektion in Berlin, welche Friedrich

Wilhelm IV. von Preussen dem Komponisten andiente, so gar nicht funktionieren. Nicht

allein daher, weil diese den aktuellen Entwicklungen im Kulturbetrieb nicht mehr

entsprach.

 

James Webster legte das primitiv konstruierte Schema, aufgrund dessen sich im späten

 

19. sowie im 20. Jahrhundert in semantischer Deckungsgleichheit bildungsbürgerliche

relevante Vorurteile gegen Felix Mendelssohn herleiteten, in einem präzise erstellten

Diagramm dar:

Vorstellungen, die zum "Problem Mendelssohn" beitragen:

 

Kultur und Ideologie; Herkunft bzw. Persönlichkeit

 

Bürgerlichkeit

 

Reichtum; begünstigter sozialer Status

 

Zugang zu bedeutenden musikalischen Persönlichkeiten

 

Harmonisches Leben, ohne Kampf und Leid

 

Jüdische Abstammung

 

Wunderkind; Leichtigkeit beim Komponieren

 

Erfolg

Bemühungen um Erfolg; Anpassung an die Zuhörer

Ideologie der Bejahung; Aufrichtigkeit; christliche Frömmigkeit

 

 

Musikgeschichte

 

Klassizistisch im Stil bzw. in der Wahl der Gattungen

 

Gründliche konservative Musikerziehung; Pflege alter Musik

 

Analyse (=Ästhetik)

 

Thematische Konstruktion

 

Melodisch; gleichmäßig; korrekter, kunstvoller Satz

 

Mangel an Prozessualität bzw. Problematisierung, Pflege alter Musik

 

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Rhythmus

 

Periodengebunden; einheitlich

 

Einförmig bzw. undynamisch

 

Form

traditionell; übersichtlich

Überkommen; bloßes "Gehäuse"; undramatisch; unklassisch

 

 

Kammermusik

Faktur zu orchestral (z. B. Tremolo)

Innenstimmen "zu viel", dem bescheidenen Inhalt bzw. Dynamik gemäß

 

 

Folgerungen für die Beurteilung von Mendelssohns Musik

 

Oberflächlichkeit; konventionell; sentimental

 

Mangel an künstlerischer Authentizität (Gewicht, Ausdruck, Tiefe)

 

Mangel an historischer Authentizität (unzeitgemäß; epigonal)

 

Naiv (im Schillerschen Sinne); Mangel an Besonnenheit

 

Gattungsunterschiede

Nur kleinere bzw. periphere Gattungen ganz erfolgreich;

"Elfenmusik, Scherzi, Programmouvertüren, Lieder ohne Worte

"Zentrale" Gattungen nur bedingt erfolgreich: Sinfonie, Konzert, Kammermusik,

größere Vokalwerke

 

 

"Weiblich" und/oder "jüdisch" eingestuft

 

13. Der schönste Zwischenfall der deutschen Musik

Was mag in der Psyche derjenigen, welche dieses auf pseudorevolutionär genialisch

ausgeprägter Kulturdoktrin beruhende Schema konzipierten sowie derer, welche es inallgemeiner Übereinkunft bereitwillig rezipierten, eigentlich vor sich gegangen sein?

 

Im Vorwurf mangelnder künstlerischer Substanz Mendelssohns, welche sich angeblich

vermittels Anbiederung an herrschende Gesellschaftsschichten und den

vorherrschenden Publikumsgeschmack zu kompensieren trachte, manifestierte sich vor

allem folgendes: ein Dilemma stetigen Missverhältnisses zwischen künstlerischem

Anspruch und dem Zustand bürgerlichen Seins neudeutscher Musiker und deren

Umfeld.

 

Wie die Biographien führender Repräsentanten derselben zeigen, waren jene

materialistischer oder politischer Konformität keineswegs abhold (Wagner, Liszt). Waren

zu jener wahren Höhe, welche man einem Mendelssohn – genanntem Schema folgend

 

– insistierend absprach, selbst nicht berufen. (Dr. Eduard Krüger, Dr. Franz Brendel,

Theodor Uhlig, Hans von Bülow, Cosima Wagner).

Eine Systematik egozentrischer Schizophrenie deutet sich an: diejenigen, welche Kunst

in der Funktion unausgesetzten gesellschaftlichen Widerstandes begriffen, auf ästhe

 

 

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tischen Fortschritt, politische Umwälzung drängten, zielten gleichzeitig aber auf

künstlerische Akzeptanz und Vormacht sowie stetige mäzenatische Förderung durch

kulturbewegte Bourgeoisie und das Feudalsystem ab.

 

Mit der symbolträchtig systematischen Anprangerung mendelssohnscher

Gesellschaftsrelevanz leisteten jene vor allem eines: die öffentlichkeitswirksame

Aufarbeitung eines Problems ästhetischer und gesellschaftlicher Arriviertheit, welches

sie letztendlich nur mit sich selbst auszuhandeln hatten.

 

Der Dirigent Hans von Bülow, einstmals ein Pionier gezielter Mendelssohn-und

Schumann-Attacke, wurde in dem Masse zum erklärten Propagandisten

Mendelssohnschen Orchesterwerkes (ab Mitte der 70ziger Jahre d. 19. Jhdts.), wie er

sich aus dem Schatten Wagners zu lösen vermochte. Und so ist in den Frankfurter

Notizen des Klavierschülers Vianna Da Motte aus dem Frühjahr des Jahres 1887 ein so

viel milderes Mendelssohn-Wort von Bülows als jene in stürmischer Jugendzeit

geäußerten verbürgt:

 

"Ein Lied ohne Worte von Mendelssohn ist für mich ebenso klassisch, wie ein Gedicht

von Goethe".

 

Die Musikpublizistik jener Jahre, als Genre nicht eigentlich künstlerisch tätig, war zu

dieser Zeit in einem existentiellen Dilemma expandierender musikalischer Expressivität

und strikter bürgerlicher Konventionen befangen. Dem großbürgerlichen Hörer

entsprechend war sie, angesichts des Phänomens Mendelssohn Bartholdy, mehr denn

je einer Situation signifikanter Schizophrenie unterworfen.

 

Elementen wie materieller Sicherheit, einer penibel nach Ständen und Schichten

separierenden Sozialordnung und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt, erwartete der

großbürgerliche Musikbetrieb vom Künstler als pittoresk präsentiertem Enfant Terrible

in staunender, erschauernder Ergriffenheit genialische Extraordinarität und soziale

Nonkonformität. Folgerichtig ward dem „Künstler“ Mendelssohn also verargt, vermittels

glücklich geführter Ehe, beschaulichem Hausstande und umfassender gesellschaftlicher

Integrität exakt die Dinge zu symbolisieren, welche in sonstigen Lebensbereichen als

Dogma bürgerlicher Lebensführung sanktioniert wurden.

 

Uneingestandenen, unartikulierten Ansprüchen geschuldeter Zwiespältigkeit

unwillkürlich hingegeben, war sich das bis zum Anbruch der "Informationsgesellschaft"

tonangebende Grossbürgertum über seine Erwartungshaltung an den Künstler und

Musiker aber scheinbar niemals gänzlich im Klaren.

 

Den aktenkundigen Finanzschmarotzern, Schürzenjägern und Umstürzlern in

Persönlichkeiten wie Richard Wagner; eigenbrötlerisch verschrobenen, bindungsunfähig

lebenswandelnden Komponisten wie Beethoven, Schubert und Bruckner bis zum

heutigen Tage frenetisch ergeben, verwehrte das bourgeoise Publikum dem

Generalmusikdirektor König Friedrich Wilhelms IV. von Preussen und des

Gewandhauses, Ehrendoktor der Universität Leipzig und Familienvater den Einzug in

den musikalischen Olymp. Desgleichen bescheidet es einer grossen deutschen Mimin

wie Elisabeth Flickenschild, welche sich auf Wohnungssuche befand, wie seinerzeit

jener Hamburger Honoratior und Hausbesitzer: An Kaspers vermieten wir nicht!

 

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Im Jahre 1886 gab Friedrich Nietzsche in der Denkschrift: Jenseits von Gut und Böse

demzufolge ein folgenschwer-geflügeltes Mendelssohn-Wort vor:

 

” Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik

genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war

von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht

kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um

seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell

vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.”

 

Nietzsche führt Mendelssohn dabei als Belastungszeugen gegen die Romantik Webers,

Spohrs, Marschners, Schumanns und Wagners heran, zeigt aber wahrhaftig, wie

nachhaltig sich das von „Neudeutschen“ lancierte Bild des heiteren Sentimentalisten,

der nur die Aufgabe wahrnahm, die Überleitung vom Genie Mozarts und Beethovens

zum Genie Wagner herzustellen, damals bereits einprägte.

 

14. Geschmacksgefährliche Lieder und Duette

"Diese gewisse Weichheit bildet einen Grundzug von Mendelssohns Wesen, dem nur

das Graziöse, Capricciöse und Brillante soweit den Widerpart halten, daß es nicht als

Weichlichkeit und Sentimentalität erscheint. (...) Im kleinen Rahmen (...) nicht nur mit

seinen "Liedern ohne Worte", sondern auch mit seinen Liedern, besonders aber den

Duetten (...) ist Mendelssohn unleugbar sogar geschmacksgefährlich geworden."

 

Als Herausgeber einer neben "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) bis zum

heutigen Tage führenden Enzyklopädie des Musiklebens schreibt die Autorität Hugo

Riemann im Jahre 1901 eine Sichtweise voller Widersprüche fest. Bezüglich des

Instrumentalwerkes beruft Riemann sich zwar auf Robert Schumanns Eloge vom

"Mozarts unseres Jahrhunderts", brandmarkt andererseits aber "Weichlichkeit und

Sentimentalität" der "im kleinen Rahmen" der Hausmusik verdächtig erfolgreichen

musikalischen Aussage Mendelssohns, welchen Wagner in seinem zuvor als

"überscharf" und "ungerecht" eingestuften Pamphlet dankenswerterweise Einhalt

geboten habe.

 

Darüber hinaus trägt Riemanns Beurteilung der Tendenz romantisierenden Musizierens

jener Tage "vermittels starker Verbreiterung der Tempi, agogischer Verzögerungen in

den Kadenzen" (K.-H. Köhler) keinerlei Rechnung. Jene ließen durch Überbetonung

chromatischer Stilistiken in Melodieführung und Harmonik die Musik Mendelssohns

fernab kompositorischer Absicht sentimentalisiert-persiflierend erklingen. Riemanns

Einschätzung prägte gleichsam als Kathederwort die Mendelssohn Rezeption innerhalb

der deutschen Musikwissenschaft für Jahrzehnte.

 

15. Denkmäler

Im Jahre 1868 trat in Leipzig anlässlich des 125 jährigen Bestehens der

Gewandhauskonzerte und der 25 jährigen Gründungsfeier des Konservatoriums ein

Komitee für „die Errichtung eines dem Gedächtnis Felix Mendelssohn Bartholdys

 

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gewidmeten Denkmals“ erstmalig zusammen. Es eröffnete damit ein wenig rühmliches

Kapitel in der Beziehung dieser hochrangigen Musikstadt zu ihrem entschiedensten

Mentor.

 

Da es sich um eine Privatinitiative Leipziger Honoratioren handelte, standen keine

öffentlichen Mittel für Planung und Durchführung des Projektes zur Verfügung, dessen

Kosten auf 45000 Taler veranschlagt wurden. Der Vorstand des Komitees stellte daher

einen Finanzplan auf, welcher vorsah, die Summe u. a. durch die Erträge lokal und

überregional ergehender Spendenaufrufe sowie durch die Veranstaltung von

Benefizkonzerten und Vermögensveranlagungen aufzubringen. Spendenaufrufe wie

jener wurden somit in der regionalen und überregionalen Presse als repräsentative

Annonce abgedruckt:

 

„Das Interesse für den Mann, dem die ganze musikalische Welt zu so großem Dank

verbunden ist, findet also seinen Mittelpunkt in dem Leipziger Leben des Künstlers und

Menschen, dessen Bedeutung die Nachwelt durch ein dem Wirken desselben

angemessenes Denkmal zu würdigen die Pflicht hat.

 

Um diese längst erkannte Ehrenschuld abzutragen, sind die Unterzeichneten zu einem

Verein zusammengetreten und fordern alle Freunde des Meisters auf, in

zweckdienlicher Weise die beabsichtigte Errichtung einen Felix Mendelssohn-Bartholdy-

Denkmals in Leipzig fördern zu helfen. Insbesondere werden Chor-Gesellschaften und

Gesangsvereine ersucht, zu dem angegebenen Zwecke Aufführungen zu veranstalten

und den Ertrag derselben an den unterzeichneten Verein einsenden zu wollen".

 

Die Finanzierung des Vorhabens vollzog sich schleppend; im Verlaufe eines 24 jährigen

Prozesses von der Stiftungsinitiative bis zur Denkmalseinweihung offenbarte sich ein

trübes bürgerliches Klima, welches die einstmals liberale Bürgerstadt Leipzig

zunehmend prägte.

 

Am Ende dieses quälenden Vorgangs war deutlich, das der Zeitgeist die Verbundenheit

der lokalen Bürgergesellschaft einem wesentlichen Repräsentanten großbürgerlicher

Kultur gegenüber aufgekündigt hatte und sich einer vom Komitee per Annonce

konstatierten „Ehrenschuld“ nicht mehr bewusst war.

 

Im Jahre 1869 waren erst 1400 Taler eingegangen, welche sich kaum aus

Bürgerspenden zusammensetzten, vielmehr von der vereinsnah einzuschätzenden

Konzertdirektion des Gewandhauses und Erlösen eines Benefizkonzertes eingebracht

wurden.

 

Die vollständige Abkehr des Leipziger Publikums vom Werke Mendelssohns in den

70ziger Jahren verdeutlicht kaum eine Begebenheit trefflicher als jene: Hans von Bülow

absolvierte im Jahre 1872 als Pianist eine Tournee, welche von Berlin über Warschau,

Hamburg, Hannover und Düsseldorf bis nach Aachen zahlreiche deutsche Städte

umfasste. In Berlin und Leipzig gab von Bülow jeweils einen dem Klavierwerke Felix

Mendelssohns gewidmeten Konzertabend. Frithjof Haas schreibt dazu in seiner von

Bülow-Biographie: "Zu seiner (von Bülows) grossen Enttäuschung hatte der Komponist

seit seinem Tod gerade in Leipzig, dem Ort seines Wirkens, an Beliebtheit verloren. In

der Presse war zu lesen, kein Pianist außer von Bülow könne es heute wagen, zwei

Stunden lang nur Mendelssohn zu spielen!"

 

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Die darauf folgenden Jahre führten zu keinem erhöhten Stiftungsaufkommen aus der

Stadt Leipzig selbst heraus, vielmehr engagierten sich Musikliebhaber aus ganz

Deutschland vermittels Personenspenden oder Benefizinitiativen. Sogar in den

Metropolen London und Paris wurden durch Benefizkonzerte Gelder zugunsten des

Denkmals eingeworben. Ein betrüblicher Aspekt am Rande der Konzertinitiativen

zugunsten eines Denkmals des Komponisten ist zweifellos, daß erst jene auch dessen

Musik wieder stärker in den Vordergrund zu stellen vermochten.

 

Der Hausverlag Felix Mendelssohns, das renommierte Unternehmen Breitkopf & Härtel

suchte im Jahre 1875 helfend einzugreifen und publizierte eine Sonderbeilage. Diese

wurde allen Neuauflagen der Kompositionen Mendelssohn beigefügt und warben im

Namen des Komitees um Zuwendungen.

 

Im Jahre 1878 entspann sich ein Presseeklat in Leipzig um die Arbeit des Komitees und

brachte das lokale Spendenaufkommen vorerst vollends zum versiegen. Die Presse

thematisierte dabei u. a. den merkwürdigen Umstand, dass die dem Komitee

verpflichteten Honoratioren zwar allenthalben um Gelder warben, selbst aber bisher

nichts dem Fond beigesteuert hatten.

 

Angesichts dessen nimmt es nicht verwunder, daß Felix Mendelssohn Bartholdy die

erste Gedenkstätte denn auch anderwärts errichtet wurde; es entstand bereits im Jahre

1860 in England, wo die Bürger der Stadt Snydenham ein Standbild des Komponisten

auf der Terrasse des dortigen Kristallpalastes errichteten.

 

Waren es Ende der 60ziger Jahre des 19 Jahrhunderts noch Gründe verminderter

Wahrnehmung des Komponisten aufgrund der von der Neudeutschen Schule

geschürten Querelen um dessen Musik, lässt sich das Desinteresse der 70ziger und

80ziger Jahre eindeutig auf den unverhohlenen Judenhass zurückführen, welcher sich

der Bürgerschaft zunehmend bemächtigte. Leipzig sollte sich in jenen Jahren zu einer

Hochburg geistigen Antisemitismus entwickeln, welcher sich von der diffus

protorassistischen Antipathie der Revolutionsjahre nunmehr zur Reinform erklärten

Rassenhasses der Gründerzeit ausprägte. Publikationen, welche unter Antisemiten

reichsweit als Standardlektüre galten, wurden in Leipzig konzipiert und verlegt.

 

Ines Reich hat mit ihrem Beitrag "In Stein und Bronze – Zur Geschichte des

Mendelssohn-Denkmals" zum 1. Leipziger Mendelssohn-Kolloquium von 1993 den

Gesamtvorgang Denkmal hervorragend dargestellt. Sie schreibt so u. a.:

 

„Die Gartenlaube“, ein Massenblatt kleinbürgerlicher Belehrung und rührenden

Familiensentiments, wurde in Leipzig herausgegeben und bot der Leserschaft u. a. auch

eine Fortsetzungsserie antisemitischer Aufklärung. Diese legte dem Publikum

beispielsweise dar dass, "die soziale Frage (...) im wesentlichen eine Judenfrage (sei),

alles übrige ist Schwindel.“ Theodor Fritsch, ein führender Publizist und Ideologe des,

als alleinigen „Zweck seines Lebens“ erachteten deutschen Antisemitismus, betrieb

von Leipzig aus die Geschäfte des Hammer-Verlages. Publikationen waren u. a. „Der

falsche Gott“, "Das Rätsel des jüdischen Erfolges“, „Mein Streit mit dem Hause

Warburg“, Die Sünden der Grossfinanz“; "Anti-Rathenau“. Mit dem im Jahre 1887

herausgegebenen Antisemiten-Katechismus; welcher später zu einem Handbuch der

Judenfrage expandieren sollte, versorgte der Hammer-Verlag die antisemitische

Bewegung Deutschlands von der wilhelminischen Ära bis hin zum Anbruch des "III.

Reiches" mit oftmals von Fritsch in Personalunion von Autor und Verleger vorgelegten

Bekenntnis- und Glaubensschriften.

 

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Frau Reich führt zum Beweis ihrer schlüssig vertretenen Theorie dezidiert ausgeprägten

Leipziger Lokalantisemitismus der 70ziger und 80ziger Jahre des 19. Jahrhunderts

Fakten heran, welche für sich sprechen: Andere Vorhaben, welche vergleichbar auf die

Spendenbereitschaft Leipziger Bürger reflektierten, kamen wesentlich zügiger voran. So

wurden im Jahre 1883 „recht hohe Summen“ für die Errichtung eines Leibnitz-Denkmals

sowie einer Reformationsgedenkstätte zum Gedenken an das Wirken Dr. Martin Luther

mit „verblüffender“ Schnelligkeit zusammengetragen.

 

Ein weiterer charakteristischer Vorfall ließ dass das Benehmen der Leipziger

Bourgeoisie, sich vom Stande emanzipierten jüdischen Grossbürgertums abzusetzen,

welchem ja auch die Familie Mendelssohn seit Jahrhundertbeginn angehörte,

demonstrativ erkennen.

 

Der in den Jahren 1882 – 1884 konzipierte und ausgeführte klassizistische

Repräsentationsbau eines neuen "zweiten" Gewandhauses wurde durchaus auch als

Mittelpunkt großbürgerlicher Selbstdarstellung im Allgemeinen wie individuellen

aufgefasst.

 

Er umfasste geschätzte Baukosten von 900 000 M und wurde nachhaltig von

Zuwendungen großbürgerlicher Familien finanziert, welche für ein Denkmal

Mendelssohns kaum aufkamen. Dies geht aus damaligen Spendenverzeichnissen

eindeutig hervor.

 

Um das Denkmalsvorhaben angesichts des Klimas latenten Antisemitismus nicht

dauerhaft zu gefährden, suchte das Komitee, dem auch prominente jüdische

Persönlichkeiten aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mendelssohns wie Ignaz

Moscheles und Ferdinand David sowie Salomon Jadasson angehörten, jedem Anschein

offizieller jüdischer Partizipation vorzeitig zu wehren. Somit kam eine Zusammenarbeit

mit der renommierten Mendelssohn-Stiftung zur Förderung begabter Pianisten und

Dirigenten, welche im Jahre 1863 von der Jüdischen Gemeinde ins Leben gerufen

wurde und bis 1933 bestand, nicht zustande.

 

Im Jahre 1889 – nach nunmehr 20 Jahren – waren schliesslich 40000 Taler

zusammengetragen, welche zur endgültigen Durchführung noch nicht ausreichten.

 

Das Komitee wandte sich mit der Bilanz an die Öffentlichkeit und beklagte dabei: "daß

die eingegangenen Beiträge ungefähr „zur Hälfte“ von auswärtigen Corporationen und

Privatpersonen eingesandt“ worden seien. Die fehlenden 5000 Taler wurden schliesslich

von der Stadtverwaltung beigesteuert.

 

3 Jahre später, am 26. Mai 1892, wurde das Denkmal, gleichsam die Erinnerung an

einen ungeliebten „Judensohn“ der Stadt, feierlich eröffnet. Die Honoratioren stellten

sich ein und hielten der Pflicht, dem Dank und der Tugend emphatische Laudates,

welche hinsichtlich einer wahrhaft fatalen Sammlungshistorie von 40000 Taler keinen

besonderen Kommentar benötigen:

 

„Leipzig möge es – und sie wird es behüten in Bestätigung des Dankes, welchen unsere

Stadt Ihm schuldet, dessen Namen wir nennen in Liebe und Verehrung“ (Leipziger

Tagblatt, Morgenausgabe, 27.5.1892) verkündete Otto Günther, der Vorsitzende des

Komitees und damalige Direktor des Konservatoriums.

 

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„Mit der Vollendung dieses Denkmals ist uns nun das drückende Gefühl vom Herzen

genommen, dass dem Manne, der uns so großes und Schönes gegeben hat, das

verdiente äußere Zeichen unvergänglichen Dankes noch nicht gewidmet sei. Dieses

Gefühl der Dankesschuld hat unsre Stadt auch als Gemeinwesen empfinden müssen

(...)

 

Die Stadt wird es sich deshalb auch, daran zweifle ich nicht, stets zur Ehrensache

machen, dieses Denkmal würdig zu erhalten, und ich nehme daher die mir

ausgesprochene Übergabe im Namen der Stadt und im ausdrücklichen Auftrag des

Rates mit herzlichen Dank hiermit an...“ (Otto Georgi; Reden und Ansprachen des

Oberbürgermeisters...; Lpz. 1899) beschwor Oberbürgermeister Georgi das

beiderseitige Vermächtnis.

 

Im Inneren des Gewandhauses, welches bereits seit nahezu zehn Jahren errichtet

stand, ehrte man Mendelssohn musikalisch. Auf der Violine, mit einer Interpretation des

erhabenen Konzertes Op. 64 legte der einstige Weggefährte Joseph Joachim ein wohl

wahrhaftigeres Plädoyer für den Mann des Tages ab.

 

Danach schwand das Denkmal aus dem Blickfeld allgemeiner öffentlicher

Wahrnehmung. Zwei kriminelle Gewaltakte, welches zum einen in den 20ziger Jahren

und zum anderen im Jahre 1936 des vergangenen Jahrhunderts auf den Bestand

desselben abzielten, brachte es einzig nachhaltiger in Erinnerung.

 

16. Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier...

Um 1879 herum prägte sich in den chauvinistischen Gesellschaften der bourgeoisen

Berliner Intelligenz die Moderne völkisch-rassistischen Antisemitismus endgültig heraus,

welche sich im 20. Jahrhundert schliesslich vermittels „Reichskristallnacht“, Deportation

und Genozid nachhaltig manifestieren sollte. Auch der neuzeitliche Begriff des

„Antisemitismus“ definierte sich erst in der um den Berliner Geistlichen Wilhelm Marr

entstandenen Gesellschaft und fand somit 1879 Eingang in die Allgemeinsprache.

 

Ab ca. 1880 fanden anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und

Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau über den Bayreuther Kreis um Richard

Wagner und nach dessen Tode um Cosima Wagner, den Schwiegersohn Houston

Stewart Chamberlain sowie Wagner Biograph Carl Friedrich Glasenapp verstärkt

Aufmerksamkeit in Deutschland. Gobineau hatte bereits in den Jahren 1853 -55 den 4bändigen

Essay "sur l`inegàlité des races humaines" herausgegeben, welcher die elitäre

Bevorrechtigung der „Arier“-Rasse und sozialdarwinistische Moralvorstellungen

konstatierte sowie die Vernichtung des „Weissrassigen“ durch Blutvermengung

vermittels Geschlechtsverkehr mit „Fremdrassigen" prophezeite. Der Essay war in

Deutschland bereits ab dem Jahre 1856 in einer Bearbeitung durch den Philologen

August Friedrich Potts unter dem Titel "Die Ungleichheit menschlicher Rassen;

hauptsächl. vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter bes. Berücks. von d.

Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke"; Lemgo 1856 ff. verfügbar.

 

Der Rassenfanatiker Houston Stewart Chamberlain paraphrasierte Gobineaus Theorien

in zahlreichen Schriften. So bestritt er im Hauptwerk seiner Rassenveranschaulichungen

"Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" vehement: „die Wahrscheinlichkeit das Jesus

(k)ein Jude war“ und behauptete ferner „das er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in

 

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den Adern hatte“; es käme vielmehr der Gewissheit gleich „das Jesus Christus... der

jüdischen Rasse nicht angehörte, kann als sicher betrachtet werden. Jede weitere

Behauptung bedeutet eine willkürliche Annahme,“

 

Jens-Malte Fischer erweitert die Sicht auf Chamberlain und seine diversen

antisemitischen Umtriebe in seiner Studie über Wagners „Das Judentum in der Musik“

folgendermaßen „Der Schwiegersohn Wagners, Houston Stewart Chamberlain, widmete

der Broschüre („Das Judentum in der Musik“; Anm. d. Verf.) in seinem Wagnerbuch, das

1895 erschien, hochtrabende Worte der Bewunderung:

 

Chamberlain schreibt also:

„Dagegen hat ein anderes Rassenthema Wagner von früh an viel beschäftigt: der

demoralisierende Einfluss einer dieser weißen Rassen auf die anderen, des Judentums

auf die nichtjüdischen Völker. Wagners Judentum in der Musik erschien zuerst 1850 in

Brendels Neue Zeitschrift für Musik; sodann als selbstständige Broschüre und mit

ausführlichen Vorrede versehen im Jahre 1869. Keine Schrift des Meisters ist vielleicht

 

– wenigstens dem Titel nach – so bekannt: der Ausdruck Verfasser des Judentums in

der Musik“ ist eine der beliebtesten Umschreibungen für „Richard Wagner“ (zitiert nach

der 3. Auflage bei Bruckmann 1904).

Darüber hinaus war Chamberlain ein führendes, maßgebliches Mitglied im Bayreuther

Kreis; eine Gruppe von Demagogen um Cosima und Winifred Wagner, welche sich

gänzlich dem Erhalt der Reinrassigkeit von Wagners musikdramatischen und

antisemitischen Ideologien im Bannkreise Wahnfrieds widmete.

 

Weitere Publikationen Chamberlains sind:

 

Rasse und Nation / von H. St. Chamberlain München : Lehmanns, 1918

 

Rasse und Persönlichkeit : Aufsätze / von Houston Stewart Chamberlain Aufsätze

München : Bruckmann. - 200 S

 

Arische Weltanschauung / Houston Stewart Chamberlain. -4. Aufl. München :

Bruckmann, 1917. - 94 S.,

 

Dilettantismus -Rasse -Monotheismus -Rom : Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen

des 19. Jahrhunderts / Houston Stewart Chamberlain, München : Bruckmann 1899

 

Im Jahre 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Premierleutnant

Liebermann von Sonnenberg als Repräsentanten der „deutsch-sozialen Partei“ die

Verbreitung einer antisemitischen Petition an Reichskanzler Otto von Bismarck. Diese

beklagte die Schädlichkeit der jüdischen Rasse für die Wohlfahrt und Kultur des

deutschen Volkes und forderte die Eliminierung der Juden aus Staats-und Schuldienst,

Zensus der jüdischen Bevölkerung und Einwanderungsbeschränkung. Sie wurde in

Berlin von 250 000 Bürgern unterzeichnet.

 

Im Jahre 1889 fand die neugotische Umgestaltung der Thomaskirche in Leipzig ihren

Abschluss. Im Zuge dessen waren farbige, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte wie

Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Gustav Adolph von Schweden zugeeignete

Memorialfenster ausgeführt worden. Auch der Bachrestaurator und

Gewandhauskapellmeister Mendelssohn sollte ursprünglich gewürdigt werden.

 

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Doch bald erhob ein sog. „Deutscher Reformverein“ seine Stimme so vehement gegen

das Vorhaben, „einen Juden in einer protestantischen Kirche ehren zu wollen“, das die

Realisierung des Mendelssohn-Fensters unterblieb. Erst das Jahr 1997 ließ das

Vorhaben, dank einer Schenkung der ehemaligen Thomasschüler Wolfgang und Klaus

Jentzsch, Wirklichkeit werden.

 

In den 90ziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden auch vom Auslande her erhebliche

Ressentiments von prominenter Seite in die Mendelssohn-Rezeption eingebracht.

 

George Bernhard Shaw war nicht nur ein bedeutender Dramatiker des europäischen

Theaters; er hatte sich mit der Zeit auch zu einem rückhaltlosen Bewunderer des

Wagnerschen Musik-Dramas und Verfechter Wagnerscher Kathederlehren entwickelt

und erwies sich antisemitischen Tendenzen gegenüber keineswegs verschlossen. Dem

grossen Vorbilde publizistisch entsprechend, betätigte sich auch Shaw als Autor

musikkritischer Rezensionen, welche unter dem Pseudonym „Corno di Bassetto“

herausgegeben wurden. Der bezüglich Mendelssohn-Rezeption gepflogene Ton war ein

herablassender, von jener Art beißender Häme, wie sie jedwedem Dilettantismus

viktorianischer Snobs in den Bühnenwerkens Shaws stets gewidmet ist.

 

Auch hier liegen die Gründe offensiver publizistischer Negierung von Mendelssohns

Ansehen im außermusikalischen, im Bereich gesellschaftskritischer Hinterfragung

repräsentativen Viktorianismus, auf welchen Shaw das Wirken des Komponisten

nachhaltig zu reduzieren trachtete.

 

Im Juli 1894 erschien in den Vereinigten Staaten von Amerika – in New York – im „The

Centuary Illustrated Monthly Magazine“ ein umfangreicher Aufsatz über Leben und

Wirken des großen Franz Schubert, den der gerade in Amerika weilende tschechische

Komponist Antonin Dvorak zusammen mit dem Publizisten Henry T. Finck geschrieben

hatte. Dvorak spart bei dem Bemühen, Schuberts allgemeine und besondere

Verdienste um die Symphonie darzulegen, nicht mit einigen Seitenhieben gegen Felix

Mendelssohn. Dabei war der stets im Stande der persönlichen und musikalischen

Integrität weilende Dvorak sicherlich kein expliziter Mendelssohn-Gegner und dies

schon gar nicht aus Gründen von Antisemitismus. Ob Dvorak als Zeitgenosse und

Gefolgsmann von Johannes Brahms dem demagogischen Bestreben der Neudeutschen

Schule und denen Kampagne gegen Mendelssohn eher fern stand, ist fraglich. Dass er

sich dennoch negativ über Mendelssohn geäußert hat, beweist nur mehr, dass er sich

auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe einer allgemein gegen Felix Mendelssohn

gerichteten Geringschätzung bewegte.

 

Dvorak schreibt also:

„In seiner (Schuberts) Kammermusik wie in seinen Symphonien finden wir häufig

wunderschöne Beispiele für polyphones Schreiben – siehe zum Beispiel die Andante

-Sätze des C-Dur-Quintetts und des D-Moll-Quartettes -,und obwohl seine Polyphonie

von der Bachs oder Beethovens verschieden ist, ist sie deshalb nicht weniger

bewunderungswürdig. Mendelssohn ist ohne Zweifel ein größerer Meister der

Polyphonie als Schubert, trotzdem ziehe ich Schuberts Kammermusik der Mendelssohn

vor.

 

Und dann wird Dvorak im Tonfall eindringlicher und aggressiver: „Auch von Schuberts

Symphonien bin ich ein enthusiastischer Bewunderer, so dass ich nicht zögere, ihn

neben Beethoven zu stellen, weit über Mendelssohn (..) Mendelssohn besaß etwas von

 

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Mozarts natürlichem Instinkt für Orchestrierung und von dessen Begabung für die Form,

aber vieles in seinem Werk hat sich als vergänglich herausgestellt“. Dvorak war wohl

der Friedrich Nietzsche nahe stehenden Meinung, das Mendelssohn ein Zwischenfall,

ein bereits von der Zeit überwundener Komponist war, dessen musikalische Mittel als

veraltet und überholt einzuschätzen seien.

 

Gleichsam in den 90ziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts zeichnet der

impressionistische Lyriker Detlev von Liliencron, vor ähnlichem Hintergrunde wie Shaw,

im Gedicht Reinigung die Karikatur eines Lieferanten sentimentaler Piècen

kleinbürgerlich-bildungsbeflissener Zerstreuung jüdischen Namens, dessen Vorbild

damals wie heute leicht zu erkennen ist:

 

"Es singt ein Lied von Felix Mendelmaier,

der lange Leutnant mit dem Ordensbändel;

das alte Fräulein brütet Rätseleier,

besorgt den Tee und duftet nach Lavendel.

(...)

Weh mir, wie langsam schwingt der Abendpendel!

Zu Ende. Gott sei dank: ich atme freier,

und bade mich daheim in Bach und Händel".

 

 

In seiner "Illustrierten Geschichte der Musik" aus dem Jahre 1903 dokumentiert der

Musikwissenschaftler Otto Keller folgerichtig die Geringschätzung jener Jahre

anschaulich:

 

”In den beiden Oratorien fehlt das Dramatische, das Leidenschaftliche, aber

Mendelssohn hatte nicht die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen. Und

trotzdem liegt in dieser Musik etwas Sonniges, das uns so angenehm berührt, wie ein

schöner Sommertag, weil sie in ihrer Einfachheit befriedigt und gar keine

Leidenschaften auslöst. Seine Kammermusik ist gänzlich verschwunden, seine

Klavierwerke gehen auch nicht tief, seine Lieder ohne Worte haben eine Ära seichter

Salonmusik heraufbeschworen, die besser ungeschrieben geblieben wäre. Sein ganzer

Lebenslauf war sonnig vom Urbeginne, er hatte nie Sorgen kennengelernt wie Mozart,

man darf sich daher auch nicht wundern, daß die Sonnigkeit seines Lebens auch in den

Werken zum Ausdruck kam”.

 

17. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut...

Im darauf folgenden Jahr legte die Muthsche Verlagshandlung in Stuttgart eine

Geschichte der Musik vor, die der Musikpublizist Dr. Karl Storck in

populärwissenschaftlichem, spürbar subjektivem Tonfall verfasst hatte. In der

repräsentativen Ausstattung vermittels Jugendstilprägung des Einbandes und

graphisch-allegorischer Textillustration sowie hinsichtlich eines Textumfanges von über

800 Seiten ist er der Illustrierten Geschichte der Musik Otto Kellers vergleichbar. Dr.

Storck trat des Weiteren auch noch als Verfasser von Opernführern hervor, welche bis

in die 40ziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nachgedruckt wurden.

 

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Storcks Referat über Leben und Musik Felix Mendelssohns setzt in der

Rezeptionsgeschichte inhaltlich keine neuen qualitativen Maßstäbe in negativer

Hinsicht; es wird lediglich der Katalog einschlägiger Stereotypen erneut repetiert.

 

Formell sprengt der entschieden polemische Tonfall Storcks allerdings den bis dahin

von einer um Seriosität bemühten Musikpublizistik vorgegebenen Rahmen. In Zeiten

nationaler Erhebung 10 Jahre vor dem Ersten Grossen Kriege verfällt Storck in eine

Sprechweise, deren Zielrichtung dezidierter Polarisierung sich erst in den Jahren ab

1933 vollendet herausbilden sollte. Des Weiteren stechen der Hang zu unausgesetzt

aufgestellter spekulativer Behauptung sowie gleichermaßen die Formulierung in der

negativen Superlative hervor.

 

Erwägungen wie jener Abgleich der Elemente Felix Nomen est Omen, früher Tod und

die Prophezeiung eines unzweifelhaften, gegebenenfalls noch in den Reife-und

Altersjahren Mendelssohns, also noch zu Lebzeiten erfolgenden Niedergangs seines

Renommees führen Storcks Darlegungen schliesslich in die Bereiche des Zynismus.

 

All dies versetzt nicht allein Storcks publizistisches Wirken insgesamt in ein

fragwürdiges Licht. Die unrezensierte Reflektion desselben in einem opulent

aufbereiteten bildungsbürgerlichen Musik-Familienhausbuch vermittelt eindringlich den

Geist, welcher die Jahre vor dem 1. Weltkriege zu prägen schien. Ob Dr. Storck dabei

von subjektivem Widerwillen gegen Person und Tonsprache Mendelssohns oder

antisemitischer Ereiferung angeleitet wurde, muss dabei offen bleiben.

 

Hier nun Storcks Mendelssohn-Vortrag in Auszügen.

 

Zu Werdegang und Rezeption:

"Zum Kreis der Romantiker wird auch Felix Mendelssohn-Bartholdy gerechnet. Ich

möchte da von einer Romantik aus Bildung sprechen. (...) Unsere deutsche

Kunstgeschichte wird überhaupt unter ihren bekannten Künstlern kaum noch einen

Mann nennen können, dessen Entwicklung so glatt verlief, so gar nichts von Kampf, von

problematischem zeigt, wie die seine. Das könnte ein Ideal sein, (...) wenn es nicht

leider Oberflächlichkeit bedeutete. Es werden immer wieder bei den ja recht selten

gewordenen Aufführungen Mendelssohnscher Werke Stimmen laut, die eine

Neubelebung seiner Kunst erhoffen. Im Ernst kann man daran kaum glauben, so leicht

begreiflich es auch ist, daß man (...) seine einfachen und auf das vornehme

Gesellschaftsleben abgestimmten Werke als Erholung empfinden kann. (...)

 

Zum Elternhause:

Felix Mendelssohn ist ein Enkel des jüdischen Reformators und Philosophen Moses

Mendelssohn (...). Es war schon dem Philosophen gelungen, aus der Armut zum

Reichtum zu gelangen, und unseres Felix Vater hatte den so vermehrt, daß er 1809 in

Berlin das noch heute blühende Bankgeschäft gründen konnte. (...) Keine Mühe, keine

Kosten wurden gescheut, jegliche Gabe, die sich bei dem Kinde zeigte, aufs sorgsamste

auszubilden(...)

 

Zum "Felixissimus":

Am 4. November 1847 erlag er einem Nervenschlag. Von künstlerischem Standpunkt

aus könnte man wohl sagen, daß auch in diesem frühen Tode sein Vornahme "Felix" die

glückliche Bedeutung für sein Leben behielt. Denn es wäre Mendelssohn kaum erspart

geblieben, daß er seinen Ruhm wohl bald überlebt gehabt hätte. (...)

 

65

 

 


 

Zu Werk und Musik:

Mendelssohns größtes Verdienst liegt zweifellos in seiner Hebung des öffentlichen

Konzertlebens; durch ihn sind die Werke der Klassiker in den Mittelpunkt desselben

gerückt worden. (...) Doch zeigt sich auch in dieser Tätigkeit die Schwäche

Mendelssohns, die freilich akademischen Naturen gar als Vorzug erscheinen mag.

Mendelssohn ist immer und überall der wohlerzogene Sohn des wohlhabenden, auf den

äußeren "Dekor" in jeglicher Lebenslage bedachten Hauses.

 

Wäre nicht die gründliche Bildung, man würde den Mangel jeder überschäumenden

Kraft, jedes persönlichen Hervortretens noch viel störender empfinden. Denn darüber

muss man sich klar sein: Mendelssohns Ruhe und Abgeklärtheit ist nicht die Ruhe nach

dem Sturm, sondern die eines Mannes, dem das äußere Leben jeden Kampf ersparte,

der auch innerlich niemals zum Ringen kam. (...) Sein Gefühl für das Volkstum blieb

doch recht äußerlich, was schon die Tatsache zeigt, daß Schumann in der schottischen

Symphonie die italienische vermuten konnte. Das Schaffen Mendelssohns ist doch im

Wesentlichen formal.

 

Der Inhalt (...) ist nirgends stark, aber es entsteht bei diesem gebildeten Mann doch

auch nie eine wirkliche Leere. Wie äußerlich sein Verhältnis zur Form aber doch oft war,

zeigt die Übernahme des Erzählers und des Gemeindechorals aus der alten Passion ins

Oratorium (...) wogegen in der Musik zur "Antigone" und dem "Ödipus" das

schwächliche Philologentum, wie man es geradezu nennen könnte, gegenüber dem

gewaltigen Empfindungsgehalt der Antike arg zurückbleibt.

 

Die um den 3. Februar des Jahres 1909 herum pflichtgemäß abgeleisteten

Gedächtnisfeierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages erregtenangesichts dessen wiederum nur Befremden in der europäischen Öffentlichkeit. Ernest

Walker kommentiert im "Manchester Guardian" vom 3. Februar 1909:

 

”Mendelssohn, einer der ehrlichsten Menschen, hätte es tausendmal vorgezogen, daß

sein Ruhm ungerechterweise untergegangen wäre, als daß er durch heuchlerische und

unwahre Mittel gerettet würde.”

 

18. Eine Lanze für Felix Mendelssohn

Die späten 90ziger Jahre, die Jahrhundertwende, aber auch die Jahre bis in die

Weimarer Republik hinein, brachten nichtsdestotrotz vermehrt Plädoyers namhafter

Persönlichkeiten kulturellen Lebens zugunsten Mendelssohns mit sich. So engagierten

sich die Komponisten Max Reger, Camille Saint-Saens, Ferruccio Busoni, und Alfredo

Casella, die Dichter Theodor Fontane und Romain Rolland, die Musiker Johannes

Brahms und Hans von Bülow, der der Musikwissenschaftler und Intendant des

Wiesbadener Staatstheaters Paul Bekker, der Musikhistoriker Heinrich Schenker sowie

der erste, quellenkritisch herangehende, seriöse Biograph Mendelssohns Ernst Wolff für

die ästhetische Neubewertung eines "feinsinnige(n), gemütswarme(n), grosse(n)

Meister(s)", der "fast vergessen, jedenfalls total unterschätzt wurde und wird" (Reger).

 

Max Reger empfahl des weiteren “all den verwirrten (...) jungen Übermenschen, bei

denen Musik überhaupt erst beim achten Horn, beim vierfachen Holz, bei

vierundsechzig Schlaginstrumenten (...) beginnt” eingehendere Beschäftigung mit “der

Vollendung des klaviertechnischen Materials” und “der absolute(n) Beherrschung des

musikalisch-formellen Elements” (Wirth, Max Reger, Reinbek 1973) Mendelssohnscher

Kompositionen.

 

66

 

 


 

Der Musikpublizist Adolf Weißmann befreite die musikalische Entwicklung Richard

Strauss und Max Regers aus dem übermächtigen Einflussbereich Wagners, in welchem

öffentliche Wahrnehmung sie bislang ansiedelte und führte den musikalischen Ursprung

derselben wieder stärker den eigentlichen Vorbildern Felix Mendelssohn und Johannes

Brahms zu.

 

Paul Bekker wiederum erkannte Felix Mendelssohn den Rang eines selbständigen

Nachfahren Beethovens zu.

 

Busoni ehrte Felix Mendelssohn nicht nur als ”einzigen wahren Schüler Mozarts neben

Rossini und Cherubini”. Mit dem formal-komplex polyphonen Tondrama Dr. Faust hatte

Busoni ein epochales Werk früher Moderne unvollendet hinterlassen und sich parallel

dazu, gegen Ende seines Lebens, die ”seichte Salonmusik” der "Lieder ohne Worte" zu

erneutem, intensivem Studium vorgelegt.

 

Die Jahre des 1. Weltkrieges; die Ernüchterung unabsehbar fortdauernden

Kriegsschreckens, brachten hingegen vermehrte Abkehr von allzu heroischsimplifizierenden

kulturellen Nationalismen in der Musik und auf der Bühne. Nicht von

ungefähr reduzierte sich somit auch die Aufführungszahl des bislang stilistisch

dominierenden Wagner-Werkes erstmals auf einen Gleichstand innerhalb gewohnten

Mischrepertoires.

 

19. Eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur

Der Komponist und Musikpublizist Max Chop, seinerzeit als Liszt-Autorität gewürdigt,

wurde Musikfreunden unserer Zeit hauptsächlich durch historische Veröffentlichungen

innerhalb der traditionsreichen Universal-Bibliothek des Hauses Reclam geläufig. In den

Jahren 1900 bis ca. 1920 legte er zahlreiche fundiert recherchierte Einzelstudien von

Standardwerken des Opernrepertoires und Komponistenbiographien vor. Ob ihm im

Zuge dessen auch die Erarbeitung eines Felix Mendelssohn-Portraits übertragen wurde,

wäre noch herauszufinden, aber keineswegs zu hoffen.

 

Ein von Max Chop im Jahre 1916 erstveröffentlichter Führer durch die Musikgeschichte

zumindest entwickelt bereits in der komprimierten Behandlung des Sujets einschlägig-

perfide Dialektik von neuer unvermuteter Qualität.

 

Der Wagnerianer Chop sucht die Person, den Menschen Felix Mendelssohn

nachhaltig zu minimieren, um – quasi vermittels eines Phänomens umgekehrter

Relativierung – das Idol des Musikdramatikers daran ins unermessliche zu erheben.

 

Nach dem klug disponierten Verweis auf Parteienstreit und musikalisch indifferente

Diffamie greift Chop selbst sogleich zu der zuvor angeprangerten Methodik.

 

Originäre Qualität entwickelt dabei eine Praxis inkriminierender Verfälschung

biographischer Fakten, Verkürzung und Umkehrung von Zusammenhängen, ja fiktiver

Behauptungen: musik-“wissenschaftlicher“ Methoden also, welcher sich einzig der

Nationalsozialismus noch vergleichbar bedienen sollte.

 

Daher seien für diesmal den demagogischen Wendungen auch Verweise auf die

eigentliche biographische, musikhistorische Sachlage entgegengestellt.

 

67

 

 


 

Das von Chop nachfolgend imaginierte Zerrbild eines kleinlichen, eifersüchtigen, eitlen

Musikfunktionärs, das beim zeitgenössischen Leser massiv hervorgerufene

Ressentiment gegenüber der Person des Komponisten, negiert die im Anschluss

dargelegte verhaltene, um Differenzierung bemühte, stellenweise bewundernde

Sichtweise auf dessen Musik denn auch erheblich.

 

„Die künstlerische Persönlichkeit (...) Felix Mendelssohns sachlich zu erörtern, ist (...)

eine nicht eben leichte Aufgabe, weil der Streit der Parteien und Meinungen schärfer

denn je um die Werke und deren ästhetische Werte entbrannt ist“. (...) Ohne Frage hat

(...) die tendenziöse Mache und Propaganda gewisser Kreise der ruhigen Abwägung

viel geschadet (...), indem (das ästhetische Sentiment) Mendelssohn gegen die

neudeutsche Kunst ausspielte und seine Stellung Wagner gegenüber ihm (...) zum

Vorwurf (machte). Gewiss: Mendelssohn liebte Wagner durchaus nicht, vielleicht, weil er

von der ersten Bekanntschaft (...) an, das ihn selbst in seiner Machtstellung

gefährdende, kunstrevolutionär gesonnene Genie erkannte.

 

Er dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause als „warnendes

Beispiel“ (...) und tröstete den Komponisten des „Fliegenden Holländers“ bei der

Dresdner Erstaufführung des Werkes durch den etwas schadenfrohen Zuspruch: Er

könne ganz zufrieden sein mit der Aufnahme, denn sie sei ja, alles in allem, kein

vollständiges Fiasko gewesen".

 

(Mendelssohn wohnte der Berliner Premiere des „Holländers“ im Januar 1844 bei und

„kam nach der Vorstellung auf die Bühne, umarmte mich und gratulierte mir sehr

herzlich.“ Richard an Minna Wagner; 8.1.1844)

 

"Indessen lagen solche Äußerungen in einer menschlichen Schwäche begründet, die

von jeher bei Musikern und Tondichtern fruchtbaren Boden gefunden hat. (...)

Mendelssohn (...) konnte es nicht verwinden, einen Künstler neben sich zu sehen, der

die öffentliche Aufmerksamkeit von ihm auf sich selbst ablenkte. Selbst für Robert

Schumann hatte er kaum ein freundliches Wort übrig,

 

(Uraufführung der 1. „Frühlings“-Symphony und der 2. „C-Dur“-Symphony Schumanns

durch Felix Mendelssohn im Gewandhaus)

 

Chopin bespöttelte er als „Chopinetto“ , Liszt war ihm gänzlich unsympathisch und

Berlioz nannte er „eine vollständige Karikatur ohne einen Funken von Talent“.

 

(Den Zeitgenossen Schumann, Wagner und Brahms vergleichbar sind ästhetische

Vorbehalte Mendelssohns gegen andere musikalische Auffassungen selbstverständlich

schriftlich belegt; Chopin, Liszt und Berlioz waren in den Jahren 1840 und 1843 als

Interpreten eigenen Repertoires Gäste des Gewandhauses. Integrität, menschliches,

musikalisches sowie -im Falle des Gewandhausskandales um Franz Liszt nahezu

extraordinär erwiesenes – organisatorisches Engagement des Gastgebers Felix

Mendelssohn sind jeweils in fundierteren Biographien und Autobiographien der

Genannten nachgewiesen.)

 

(...) Zwischen beiden (Wagner und Mendelssohn) bestand der (...) Unterschied, daß der

eine das (...) künstlerische Vermächtnis eines Bach, Händel, Beethoven (...) sich zu

 

68

 

 


 

eigen gemacht hatte, ohne (...) Konsequenzen in einem dem Zeitgeiste angepassten

Sinne zu ziehen, während beim anderen sich aus dem völligen Aufgehen in den

genannten Meistern heilige Feuer entzündeten, deren leuchtender Schein schon damals

seine Reflexe weit voraus warf.

 

(Wagners Bekenntnis zum Werk Beethovens ist verbürgt; eine Affinität zum

„akademisch“ und „historisch“ apostrophierten Werk Bachs und Händels bestand nicht.)

 

"Wohl die größten Antipoden...– selbst in der äußeren Gestaltung des Lebens, das dem

einen lachenden Sonnenschein und Anerkennung, dem anderen Kampf, Not und

Verkennung schickte! Mendelssohn eine weiche, zur Sentimentalität neigende Natur, Wagner

ein herber, kraftvoller, zäher, dem Explosiven zuneigender Charakter! (Max

Chop; Führer durch die Musikgeschichte, Berlin 1916, ebd. 1922)

 

Intermezzo III: und dirigierte Wagners "Tannhäuser"-Ouvertüre im Gewandhause...

 

Verwirrung gibt es auch um die Aufführung der „Tannhäuser"-Ouvertüre, welche am

12.2.1846 im Rahmen eines Sonderkonzertes zugunsten des Pensionsfonds des

Gewandhausorchesters als Werk zeitgenössisch-avantgardistischer Tonkunst

angesetzt und vom Publikum ausgezischt wurde. Es dirigierte Eric Werner und Stephan

Kohler zufolge nicht Mendelssohn, sondern Ferdinand Hiller.

 

Mendelssohn wirkte nachweislich als Pianist (Beethovens 32 Klaviervariationen in C-

Moll, Op. 36) an diesem Konzerte mit. Bedauerlicherweise verzichtete Werner auf einen

Verweis, woher er die Information eines Hillerschen Dirigates bezog und verwechselt

darüber hinaus Hiller möglicherweise mit einem der anderen als Stellvertreter

Mendelssohns tätigen Kapellmeister wie Gade.

 

Hiller dirigierte die Gewandhauskonzerte stellvertretend während des ersten Berliner

Engagements Mendelssohns, also von April des Jahres 1841 bis Oktober des Jahres

1842; nahm aber, nach vermeintlichem Zerwürfnis mit Mendelssohn, im Jahre 1844 eine

Verpflichtung als Kapellmeister in Dresden an. Möglicherweise dirigierte Hiller bis zum

Tode Mendelssohns oder gar darüber hinaus also niemals mehr am Gewandhause. In

der Saison 1845/ 46 indessen teilte sich Niels W. Gade nachweislich mit Mendelssohn

in die Leitung des Leipziger Konzertwesens.

 

Da gemeinhin Felix Mendelssohn als Dirigent der verunglückten Leipziger Vorstellung

genannt und darüber hinaus auch das Datum diffus gehandhabt wird (so nennt Karl-

Heinz Köhler fälschlicherweise März 1845), liegt möglicherweise der Lapsus einer

genuin aus der Wagner-Literatur hervor-und in die biographische Mendelssohn-

Rezeption übergegangenen, allgemeinhin tradierten Gleichsetzung von Ort und Person

vor.

 

Wagner selbst hatte von dem Konzert lediglich nachträglich aus zweiter Hand erfahren.

In seiner nahezu 20 Jahre später verfassten Autobiographie „Mein Leben“ gibt er

Mendelssohns Dirigat hingegen als Fakt wieder. Da Wagner in „Mein Leben“

zahlreichen Autographen der Jahre 1842-47 von seiner Hand (vor allem den an Felix

Mendelssohn gerichteten Briefen) offenkundig widerspricht, scheidet dieselbe als

seriöse Informationsquelle zu Leben und Werk Mendelssohns größtenteils aus.

 

69

 

 


 

Der spätere Dirigent Hans von Bülow hingegen wohnte als Augenzeuge jenem Konzerte

bei und berichtete 5 Jahre später darüber in dem Essay "Das musikalische Leipzig und

sein Verhältnis zu Richard Wagner" aus dem Jahre 1851. Auch er nennt den Dirigenten

nicht namentlich.

 

"Um sich nicht dem Vorwurfe eines grundlosen Verdammungsurtheils, d. h.

grundsätzlichen Ignorierens der Wagnerschen Musik auszusetzen, beschloss man

daher, die Ouvertüre zum Tannhäuser, als ein größeres, abgeschlossenes Tonstück,

das in Dresden Furore gemacht, in einem Concerte zu Gehör zu bringen.

 

Die Aufführung dieses sehr schwierigen, aber bei gehörigem Fleisse und Sorgfalt im

Einstudieren auch höchst dankbaren und unvergleichlich wirksamen Musikstückes, war

über alle Maßen unerquicklich, eine Execution , im besonderen Wortsinne.

 

Es hätte einer solchen (...) Verhunzung – nicht einmal bedurft, um die Composition

fallen zu lassen: die missmuthige Miene des Dirigenten autorisierte gewissermaßen

schon das Publikum zur Missfallensbezeugung. Mendelssohn hat durch jene herzlichen

Worte, welche er nach einer Aufführung des Tannhäuser in Dresden mit sichtlicher

Ergriffenheit an Wagner richtete, sich vollkommen von diesem trüben Flecken gereinigt;

von Leipzig würden wir es aber recht taktvoll gehandelt wissen, wenn es Wagner eine

réparátion d´honneur (...) nicht länger schuldig bliebe".

 

Nicht allein jenes im Nachsatz vorgebrachtes Resümee lässt wenig auf eine

Interpretationsverantwortung des Gewandhausdirektors für jenen Konzertteil schließen;

vielmehr widersprechen die Verweise auf offenkundig ermangelnden „gehörige(n)

Fleisse und Sorgfalt im Einstudieren“ respektive „unerquickliche“ Ausführung eigentlich

allen überlieferten musikalischen Prinzipien des Dirigenten Mendelssohn hinsichtlich

Sorgfalt in der Orchesterarbeit und unbedingter Aufführungsqualität.

 

Darüber hinaus verweisen auch die Originalrezensionen des Pensionsfondkonzertes in

den führenden Leipziger Fachpublikationen und die im Jubiläumsalmanach des

Gewandhauses vom 1898 enthaltene Konzertchronik nicht auf ein Mendelssohndirigat

der Ouvertüre.

 

Die Rezensionen in der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" aus Leipzig sowie in der

„NZfM“ schweigen sich über den Abenddirigenten vollkommen aus.

 

Das liesse, Mendelssohn am Pult vorausgesetzt, in beiden Fällen erheblich verwundern.

In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" zeichnete der Lokal-Rezensent L. R. in den

letzten Arbeitsjahren Mendelssohns für die Berichterstattung der Gewandhauskonzerte

alleinverantwortlich. Er ließ es sich zur Gepflogenheit werden, das Dirigat Mendelssohns

jeweils nicht allein dezidiert zu kommentieren, sondern dessen Namen in der Rezension

gar kursiv hervorzuheben. Das Unterschlagen einer musikalischen Leitung durch

Mendelssohn fiele bei diesem Rezensenten also vollständig aus dem Rahmen.

 

Einzig die Besprechung des berüchtigten Novemberkonzertes gleichen Jahres, mit einer

missglückten Uraufführung der C-Dur-Symphony Schumanns und darauf folgenden, auf

die Person Mendelssohns abzielenden „mosaischen“ Unterstellungen der Presse,

schweigt sich über den Abenddirigenten aus.

 

70

 

 


 

Allerdings erfolgte zwischen den beiden Ereignissen ein Redaktionswechsel in der

"Allgemeinen musikalischen Zeitung", der Rezensent der Gewandhauskonzerte wurde

fürderhin nicht mehr genannt und hatte möglicherweise gleichsam gewechselt.

 

Interessanter in diesem Zusammenhang ist eher noch die Besprechung der gleichen

Veranstaltung durch die „NZFM“, welche Franz Brendel höchstselbst vornahm. Auch

dieser lässt den Dirigenten unerwähnt. Nach allem, was bislang über die publizistische

Position Brendels im Leipziger Musikleben erörtert wurde, lässt sich kaum annehmen,

daß in einem renommierten "neudeutschen" Fachorgan die vermeintlich exemplarische

„Verhunzung“ eines wesentlichen Meilensteines der „Neudeutschen Schule“ durch den

führenden Kopf der Leipziger „Traditionalisten“ taktvoll unter den Tisch fallen gelassen

wurde.

 

Während die genannte Orchesterchronik die detaillierten Konzertberichte oftmalig mit

der Verlautbarung: Mendelssohn dirigierte, Hiller dirigierte abschloss, wird auch dort

kein musikalischer Leiter besagten Pensionsfondkonzertes genannt. Dies legt die

Vermutung nahe, daß sich, da Mendelssohn und Gade (Viola-Partie im Quartett-Konzert

für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Orchester von Ludwig Spohr) sich ja auch als

Instrumentalsolisten in das Konzert einbanden, beide möglicherweise als A-oder B-

Dirigenten des Gewandhauses in die Veranstaltung teilten.

 

Publikumsverstörung und Skandal rief die Aufführung der Ouvertüre in jenen Jahren

auch in anderen Musikstädten Europas hervor.

 

Als Generalmusikdirektor Franz Lachner das Werk am 1. November des Jahres 1852 im

Rahmen eines Odeon-Konzertes erstmalig in München vorstellte, wurde es vom

Auditorium einhellig ausgezischt. Hans von Bülow erhob die Stadt München in einer

umfassenden Kolumne polemischer Essays in der „NZfM“ daraufhin eilfertig in den

hohen Rang einer Ordensburg musikalischer Reaktion und eines Zentrums der

„Opposition in Süddeutschland“ („NZfM“, Nr. 22 – 26, 25.11. – 23.12.1853).

Auditoriumseklats infolge konzertanter und szenischer Darbietungen Wagnerschen

Werkes gab es auch in einem vom jungen Hans von Bülow selbst geleiteten Konzert

("Tannhäuser"-Ouvertüre), des gleichen in Wien (dito) und Luzern ("Der Fliegende

Holländer"). Eine im Jahre 1850 geplante Aufführung der "Tannhäuser"-Ouvertüre in der

Union Musicale in Paris scheiterte bereits im Vorfeld am Desinteresse des Orchesters.

 

20. Nur in einem Abstand zu nennen

Wie weitgehend der Einfluss der Wagnerschen Musik-und Rassentheorien sich auf das

Denken und Empfinden der Deutschen jener Zeit auswirkte, wie bindend und

folgerichtig dieselben sich amalgamisch zum Seelenkit der Menschen verdichteten,

dass sogar jüdischstämmige Komponisten die Wagnerschen Seeleninvektiven bewusst

verinnerlichten, beweist ein Brief Kurt Weills an seinen Bruder aus dem Jahre 1919: Er

bezweifelt darin in jugendlicher (und vielleicht auch in völkischer) Unsicherheit die

Eignung zum Komponisten.

 

„Ich war schon fast bei dem Entschluss angelangt, die Schreiberei aufzustecken und

mich nur auf die Kapellmeisterei zu werfen. Wir Juden sind nun einmal nicht produktiv,

 

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und wenn wir es sind, wirken wir zersetzend und nicht aufbauend; und wenn die

Jugend in der Musik die Mahler-Schönberg-Richtung für aufbauend, für

Zukunftsbringend erklärt (ich tue es ja auch!) so besteht sie eben aus Juden, oder aus

jüdelnden Christen. Niemals wird ein Jude ein Werk wie die Mondscheinsonate

schreiben können. Und die Verfolgung dieses Gedankenganges windet einem die Feder

aus der Hand.“

 

Als originärster Beitrag der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre zu stereotyper

Mendelssohn Negation in Schlagworten kann jenes des „Abstands“ gelten, die zahlreich

publizierte Behauptung: nur in einigem Abstand zu anerkannten Meistern der

europäischen Musikgeschichte könne Mendelssohn ja rezipiert werden.

 

So hebt Prof. Dr. Ludwig Schiedermeyer in der Monographie „Die Deutsche Oper“

(Quelle & Mayer, Leipzig 1930) gleich zu Beginn einer vergleichenden Darstellung

Schuberts und Mendelssohns als Problemkindern deutschsprachigen Musiktheaters

divergierende Rezeptionsebenen als quasi selbstverständlich und gottgegeben hervor:

 

"In einer gewissen Ähnlichkeit mit Schubert hatten auch Felix Mendelssohn-Bartholdy,

der nur in einem Abstand von diesem genannt werden darf, immer wieder Opernpläne

beschäftigt. (...) Das Missgeschick, das "Die Hochzeit des Camacho" trotz aller

Anerkennung der Mendelssohnschen Verwandtschaft bei der Erstaufführung im Berliner

Schauspielhause (1827) ereilte, enttäuschte den sensiblen, überempfindlichen Jungen

so schwer, daß er fortan nicht mehr ohne Voreingenommenheit (...) der Oper

gegenübertrat".

 

Auch im weiteren Verlaufe der Schiedermayerschen Nationaloperngeschichte wird

Mendelssohn als Maßstab der Mittelmäßigkeit angeführt, wenn es beispielsweise gilt,

Schwächen in der Tonsprache des jungen Richard Strauss zu indizieren.“

 

"Mit der musikalischen Umwandlung, der "Läuterung" der Salome, gelangt nun der

Täufer in den Vordergrund des Dramas, (...). Allein das Jochanaan-Drama setzt sich

nicht durch, da ihm musikalisch wohl gefühlsselige, pastorale Melodien der

Mendelssohnschen Sphäre zugeleitet werden, aber jene Charakterisierung (...) eine(s)

Felsen (in) der Umgebung allgemeiner Verderbnis (vorenthalten bleibt)".

 

Die Suggestion der Zwangsläufigkeit, Naturbedingtheit einer niederen Positionierung

Felix Mendelssohns, welche die Wortmacht Schiedermayers unwillkürlich hervorruft, ist

keineswegs als Marginalie oder Zufallsprodukt aufzufassen. Es bezeugt vielmehr die

komplexe Doppeldeutigkeit chauvinistischer Rhetorik in jener Zeit vor dem

Nationalsozialismus., auf welchen dieselbe bereits hinwies. Wenige Jahre später

mochte Dr. Ludwig Schiedermayer, Prof. der Musikwissenschaft an der Rheinischen

Friedrich-Wilhelm-Universität. Bonn Überzeugungen wie jene , eine Jude sei aus

rassischen, also biologischen Gründen „natürlich“ weit unterhalb des Ariers anzusiedeln,

unumwundener zum Ausdruck gebracht haben. Beauftragt, gemeinsam mit den

Kapazitäten Friedrich Blume, Gotthold Frotscher und Karl Hasse die Ausstellung

„Entartete Musik“ im Mai des Jahres 1938 wissenschaftlich zu betreuen, hatte er ja

exakt zu diesem und anderen Aspekten einschlägig Stellung zu nehmen.

 

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21. Wir können auf Objektivität nicht Verzicht leisten!

In den 20ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Musikpublizist

Walter Dahms bemerkenswerte Monographien über die Komponisten Franz Schubert,

Robert Schumann und Felix Mendelssohn. Diese erschienen in einer vom Verlag

Schuster & Loeffler in Berlin konzipierten „Sammlung“ von „Meister-Biographien“

hochrangiger Komponisten. Co-Autor der Reihe war u. a. der namhafte zeitgenössische

Musikschriftsteller Julius Kapp. Die Popularität der Sammlung bezeugt allein schon der

Fakt reichhaltiger Verfügbarkeit der Bände im aktuellen Antiquariat.

 

Die Veröffentlichungen Walter Dahms zeichnen sich durch einen verblüffenden

Ansatz kompetenter, umfassender Darstellung des jeweiligen Sujets auf der Grundlage

präziser Recherche aus.

 

Zeittypisch andererseits sind Einseitigkeit, mangelnde Objektivität in der Sichtweise

kontroverser, problematischer künstlerischer Standortbestimmungen des dargestellten

Komponisten. Die stilistische Einordnung des Schumannschen und Mendelssohnschen

Werkes erfolgt somit vornehmlich aus der nationalkonservativen Perspektive heraus.

 

Gleich zu Beginn der Mendelssohn-Monographie, im „Präludium“ sah sich der Autor

daher der obligaten Notwendigkeit einer „rassischen Einordnung“ Mendelsohnschen

Oeuvres ausgesetzt. Karl-Heinz Köhler nannte es im Jahre 1972 zutreffend: „den

merkwürdigen Versuch., auf antisemitisch-rassenbiologischer Grundlage von

Mendelssohns Werk zu retten, was zu retten ist“ und verweist auf den nachhaltig

hervorgerufenen Eindruck "daß hier ein positives Plätzchen für Mendelssohn gesucht

wird.“ Hauptinstrument des Konstruktes deutschnationaler Vereinnahmung der

Komponisten Mendelssohn (und Schumann) ist die gesuchte Absetzung dessen Werkes

von jenem Giacomo Meyerbeers; die Konstatierung, Mendelssohns Musik sei in

letztendlicher Betrachtung als „deutsch und rein“, das Werk Meyerbeers hingegen als

unverkennbar „jüdisch“ einzuordnen.

 

Dahms begibt sich somit voll Bedauerns in die Verpflichtung „nun von dem Judentum

Mendelssohns sprechen“ zu müssen, „nicht, wie um etwas Unangenehmes oder

Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muss, möglichst rasch zu erledigen,

sondern um von vornherein den richtigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu

gewinnen. (...) Wir wissen längst, daß das Jüdische keine Sache der Religion, sondern

der Rasse ist. Die Forscher auf beiden Seiten, der Juden und Nichtjuden (...) haben uns

genugsam belehrt (...) daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Objektivität

nicht Verzicht leisten.

 

Deshalb dürfen wir auch Richard Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht

ohne Vorbehalt unterschreiben und unerwähnt lassen. (...) Denn Wagner wusste

ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik unbeschadet der Würde der deutschen

Kunst und Kultur neben der seinen bestehen konnte (...). Denn Meyerbeers

musikalische Leichtfertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich,

um geleugnet zu werden. (...) Mendelssohn dagegen ist der einzige grosse und ernste,

für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der Musik geschenkt haben. Seine

Musik hat deutschen Charakter. Ihn aus der Reihe der „deutschen“ Meister

auszuschließen, wäre eine Verblendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung des

vielseitigen Wesens des Deutschtums zu erklären wäre.“

 

73

 

 


 

Nach einer durchaus zutreffenden Betrachtung und Herleitung der Mendelssohnschen

Entwicklung gänzlich aus der musikalischen Tradition sowie dem romantischem Ideal

heraus, konzentriert sich Dahms schliesslich auf die diskreditierende Analyse eines

semitisch-idiomatischen Konterparts, dem Mendelssohn keinesfalls zuzuordnen sei.

 

„Finden wir etwa in seinem Schaffen die von Nietzsche gekennzeichneten

Eigenschaften der Semiten: „die furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die

Freudenschauer, die Plötzlichkeit? (...) In seiner Stellung zur Romantik lässt sich (...)

vielleicht ein Mangel an typisch deutschen Eigenschaften finden. (...) Wir stoßen noch

einmal auf Nietzsche, wie er von Mendelssohn spricht, „an dem sie die Kraft des

elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt)t: das Talent der Juden des alten

Testaments) vermissen (...) Einem Meyerbeer gegenüber dürfen wir, Wagner Folge

leistend, unserem Unwillen freien Lauf lassen.

 

Aber wir müssen uns hüten, Erfahrungen, die wir in der Missgeburt der „großen“ Oper

mit „jüdischen“ Eigenschaften gemacht haben, (...) auf einen Meister wie Mendelssohn

zu übertragen. (...)

 

Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere jüdische Komponisten (möglicherweise

eine Anspielung auf Schönberg, Weill und Schreker, Anm. d. Verf.) dürfen uns den Blick

für Mendelssohns Reinheit und Seelengröße nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir

überhaupt ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu

untersuchen...wie es eben Wagner getan hat.“

 

Bemerkenswerterweise begibt sich Dahms im Versuch semtitisch-musikalischer Analyse

in eklatanten Widerspruch zur gängigen Sichtweise des „Judentums in der Musik“ im 19.

und frühen 20. Jahrhundert. In Bezug auf Nietzsche stellt er „furchtbare Wildheit, das

Zerknirschte, Vernichtete, die Freudenschauer, die Plötzlichkeit“ sowie „die Kraft

elementaren Erschütterns“, eines „Talentes des alten Testaments“ als wesentlichstes

Merkmal des semitischen Idioms heraus. Wie im Vergangenen ausgiebig dargelegt,

hieß es doch, das die Kraft „zu ergreifen, ja zu erschüttern“ sowie das „Dramatische,

das Leidenschaftliche“, also die Ekstase emotionaler Höhen und Tiefen der Musik

Mendelssohns hauptsächlich deswegen abgehe, weil „der Jude“, kosmopolitischer

Beseligung unzugänglich, leidenschaftslos, im Synagogalidiom befangen komponiere

und die Vorbilder europäischer Musik daher glatt und kalt kopiere.

 

Nun argumentieren Nietzsche und Dahms, das dem „Deutschen“ Felix Mendelssohn die

semitische Kraft, Emotion und Schroffheit vollständig fehle, sein Werk daher von

„marmorner, kalter Schönheit“ (Dahms) sei. Die von Nietzsche genannten

(alttestamentarischen) Idiome wiederum träfen sicher – unbesehen übernommen – in

grossen Teilen auf die Wagnersche „Ring des Nibelungen“-Musik zu, nicht nur in jenen

Momenten potentieller semitischer Karikaturen in den Personen Mime, Alberich etc.

 

Somit hätte der von Wagner dezidiert als Jude hervorgehobene "Deutsche" Felix

Mendelssohn unjüdische, der Vollender der Deutschen Oper wiederum „jüdische“ Musik

geschrieben?

 

Da Walter Dahms mit dieser Sichtweise schwerlich eine Neuerörterung des Problems

vermeintlicher musikalischer Idiome in Gang setzte, gibt er lediglich Zeugnis von der

 

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Fragwürdigkeit und Willkür derartiger Zuordnungen. Oder besser davon; das sich

Wagner, Nietzsche, Dahms u. a. offensichtlich den „Deutschen“ oder "Juden“

zurechtlegten, der ihren Zielen jeweils zuförderlichst war.

 

In den 20ziger Jahren trat auch der Komponist Hans Pfitzner mit antisemitischen

Schriften musikpublizistisch an die Öffentlichkeit. Pfitzner: ein in der damaligen

Musikwelt Deutschlands vereinsamt bestehender Komponist großer, bedeutsamer

Musik konservativer Prägung wie jener Monumentaloper über den Renaissance-

Komponisten Gian-Pierluigi da Palestrina; ein grandios gescheiterter , ja verkannter

deutscher Musiker jener Zeit. Im Jahre 1920 brachte er mit der Broschüre „Die neueÄsthetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom“ eine Denkschrift

heraus, welche im Sinne und Stile des Richard Wagner sich in das Wesen der

zeitgenössischen Kulturtheorien lautstark einbrachte. Pfitzner bezeichnet darin Wagners

„Das Judentum in der Musik“ als eine „ernste, liebevolle und tapfere Schrift“.

 

Der Komponist knüpft in seinem Pamphlet an die wagnerschen Antisemitismen an

und bringt jene erneut, als singulär im deutschen Blätterwald dastehend, zu einer

weithin ausgreifenden Verbreitung und Fortwirkung.

 

Nach 1921 veröffentlichte Professor Dr. Eugen Schmitz die populärgeschichtlich

gehaltene „Illustrierte Musikgeschichte“ des Komponisten, Kirchenmusikers und (von

1873 an) Dozenten am Dresdner Konservatorium Emil Naumann aus dem Jahre 1885 in

der sechsten Auflage. (Das Buch schweigt sich über die Drucklegung der aktuellen

Auflage aus, führt aber neben dem Vorwort zur sechsten Auflage noch das mit dem

Jahre 1921 signierte Vorwort zur fünften Auflage ins Feld.) Die Wiederveröffentlichung

des von 1885 – 1928 bis in die neunte Auflage nachweisbar en Suite herausgegebenen

Standardwerkes zeigt auf, das sogar in den modernistisch geprägten zwanziger Jahren

in der Weimarer Republik die von dem Buch betriebene rückwärtsgewandte

Mendelssohnverkleinerung der Hochzeit der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts

ungebrochen wiederaufgelegt und somit fortgeschrieben werden konnte. Wie groß der

Bedarf an solch reaktionärem Schrifttum in jenen Jahren gewesen sein muss, belegt

allein die Tatsache, dass das Buch von 1921 – 1928, also in weniger als zehn Jahren,

sage und schreibe viermal neu herausgebracht wurde.

 

Obgleich Naumann von 1842-1844 gar ein Schüler Mendelssohns u. a. am

Konservatorium in Leipzig war, fällt in der Gestaltung der „Illustrierten Musikgeschichte“

bereits Eingangs in Sachen Mendelssohns bezeichnenderweise auf, dass unter den

Komponistenartikeln des Buches, welche Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert,

Berlioz, Wagner, Brahms, Liszt und Richard Strauss, Bruckner und Hugo Wolff

gewidmet sind, dieser nicht mit einem eigenen Kapitel vertreten ist. Das Problem einer

wiederum tendenziös ausfallenden musikhistorischen Mendelssohn-Abwicklung findet,

gleichgesetzt der Darstellung von Leben und Werk diverser Kleinmeister wie Louis

Spohr, schliesslich hauptsächlich in dem Kapitel „Schubert und die Romantiker“ statt.

 

Naumann bezeichnet Mendelsohns Werk als epigonal, bezogen auf das Schaffen von

Komponisten wie Carl Maria von Weber, Bach und Händel. Er spricht dabei der so

genannten „Elfenmusik“ sowie den naturimpressionistischen Männerchören Mendelssohns

künstlerische Eigenständigkeit zugunsten einer behaupteten, eindimensional

direkten Nachfolge von Vorbildern Carl Maria von Webers ab, und stempelt darüber

hinaus die Oratorien „Paulus“ und „Elias“ als Früchte angeblich direkten Epigonentums

Bachs („Paulus“) und Händels („Elias“) ab.

 

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Immerhin gesteht Naumann Mendelssohn in Abrede eines wahrhaft markigen

deutschen Künstlertums verniedlichend die originäre Kreation orchestraler und

instrumentaler Capriccios, wie jenes „kleine, allerliebst für Pianoforte geschrieben

Rondo capriccioso“ zu.

 

Naumann behauptet weiterhin, dass Mendelssohn gegenüber „jenen Altmeistern (Bach

und Händel) an Größe der Empfindung und der Erhabenheit des Ausdrucks zurückstehe".

Nach einer Beschreibung sinfonischer und instrumental-kammermusikalischer

Phänomene in Mendelssohns Werk kommt Naumann schliesslich -wie könnte es auch

anders sein – auf die von Wagner geprägten Invektiven von Gefälligkeit und Glätte in

Mendelssohns Schaffen als Repetition eines allzu geläufigen Totschlagargumentes zu

sprechen: Es heißt dort genau: ...in manchen anderen seiner Instrumentalwerke aber,

namentlich in einem grossen Teil seiner Kammermusik tritt in bedenklicher Weise

äußerlich gefällige Formenglätte an die Stelle des tieferen geistigen Gehalts“.

 

Des Weiteren lesen wir noch: „Als Liederkomponist ist Mendelssohn weniger

bedeutend; (...) seine Sololieder, die namentlich harmonisch sehr dürftig sind, bedeuten

eher einen Rückgang auf den Standpunkt Zelters“.

 

In den Erörterungen der Musik des von Naumann als ein gescheiterter Kleinmeister arg

abgekanzelten Komponisten Robert Schumann schreibt der Autor in Bezug auf dessen

Streichquartette folgende Reprise des einschlägig bekannten Mendelssohn

-Hauptvorurteils fest: „Von Schumanns Kammermusik verraten die drei Streichquartette

mit ihrer fließenden und glatten Liebenswürdigkeit am entschiedensten den Einfluss

Mendelssohns;...“

 

An anderer Stelle beschreibt Naumann ausgiebig die Verdienste Mendelssohns um die

post Bachsche und Händelsche Klavier-und Orgelmusik sowie die post Webersche

Chormusik. In einer Fußnote aber macht er all das zuvor lobenswert gesagte mit einem

Satz wieder zunichte: „In diese Renaissancebewegung (um das Chorlied) trat

Mendelssohn ein; freilich von dem klanglichen Ausdrucksreichtum des Tonsatzes der

Alten (Haydn, Mozart, Schubert, Weber) ist er noch weit entfernt; erst Brahms hat hier

die früheren Vorbilder wieder annähernd erreicht.“

 

Im weiteren Verlaufe des Buches holt Naumann, in Betrachtungen des Lebens und

Werkes des Komponisten und Musikpädagogen Johann Joachim Raff, zum

Rundumschlag gegen Mendelssohns als glatt und gerundet diffamierte musikalischeÄsthetik aus. Er schreibt über Raffs anfängliche musikalische Orientierung an

Mendelssohn und seiner Schule, vor welcher akademischen Ausprägung ihn der später

ausgeübte Einfluss Liszts und seiner „Neudeutschen“ in Weimar augenscheinlich

„rettete“: „Veranlasste ihn das Mendelssohnsche Vorbild zu einem gewissen Kult des

formalistischen Elements, so verdankte er es wiederum den Jahren, die ihn den

geistigen Einwirkungen Liszts näher brachten, dass ihm der Wert einer geglätteten,

abgerundeten Form nicht in dem Grade alles wurde, dass ihm darüber Leidenschaft,

Stimmung und Ausdruck nebensächlich erschienen und ihn zum einseitigen

musikalischen Akademiker werden ließen“.

 

Auch dem Dirigenten Felix Mendelsohn verweigert Naumann dessen kongeniale

Bedeutung für Werden und Bestehen dieser heutzutage so wichtigen musikalischen

Profession.

 

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Mendelssohns musikalische Leitung der Gewandhauskonzerte kann mit Fug und Recht

als prototypisch für das Berufs-und Erscheinungsbild des modernen Dirigenten; ja des

eleganten Dirigierstars gar gelten.

 

War es in Leipzig vor Mendelssohns Zeiten üblich, dass nur Orchesterkonzerte mit

Vokalanteil von einem Taktschläger geleitet wurden, während das rein symphonische

Repertoire vom Konzertmeister am 1. Geigenpult dirigiert wurde, so übernahm

Mendelssohn sowohl bei der Vokalmusik als auch bei der Symphonik von einer Position

vor dem Orchester gelegen die musikalische und interpretatorische Gesamtverantwortung.

 

 

Nichts davon findet sich bei Naumann. Er erwähnt Mendelssohn lediglich in zwei

Aufzählungen dirigierender, als Vorläufer des modernen Dirigenten geltende

Komponisten (Lully, Jomelli, Spontini, Spohr, Mendelssohn) sowie (Johann Friedrich

Reichardt, Bernhard Anselm Weber, Spohr, C. M. v. Weber, Mendelssohn).

 

Den entscheidenden Verdienst an der Ausprägung des Typus eines modernen

Dirigenten spricht Naumann in Verfälschung der Tatsachen um Mendelssohns

bahnbrechende Verdienste auch auf diesem Gebiete – wie könnte das bei einem derart

parteilichen, einseitigen Text auch anders sein – ausschließlich den Vertretern der

zeitgenössischen musikalischen Moderne wie Berlioz und – natürlich – den

Neudeutschen Richard Wagner und Franz Liszt zu.

 

Im Jahre 1928 veröffentlichte ein Autor namens Anton Mayer in der Deutschen

Buchgemeinschaft GmbH, Berlin eine Geschichte der Musik. Diese war mit ca. 340

Seiten überschaubar gehalten und zeichnet sich dadurch aus, Musik und Wirken Felix

Mendelssohns mit keinem Wort zu erwähnen. Demgegenüber wird dem Schaffen

Richard Wagners die Ehre einer nahezu eigenständigen, umfassenden Abhandlung

über 30 Seiten hinweg eingeräumt. Also nahezu ein Zehntel des Umfanges einer Schrift,

welche die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur musikalischen Moderne

zur Darstellung zu bringen beabsichtigte.

 

In seiner im US-amerikanischen Exil vorgelegten Abhandlung "Größe in der Musik" legt

der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler und Mozartbiograph Alfred Einstein vom

Status Quo der deutschen Mendelssohn-Rezeption in der ersten Hälfte des 20.

Jahrhunderts trefflich Zeugnis ab:

 

„Was ist mit der Büste Mendelssohns? Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns

bemühen müssen, ihm die richtige Stellung zuzuweisen: die Überschätzung zu

vermeiden, die ihm zu Lebzeiten (...) in Deutschland und England zuteil geworden ist,

die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. Sie könnteheute zu einer neuen Überschätzung führen; aber sie wäre wohltätig, wenn sie zu einer

neuen Schätzung oder Wertung Mendelssohns führen würde, auf der Grundlage neuer

Kenntnis. Denn er ist heute einer der unbekanntesten Musiker der Vergangenheit. Man

kennt von ihm gerade das Unbedeutendste am besten, die Stücke, die von

mittelmäßigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlich-

romantischen Geist der Zeit am meisten entsprachen."

 

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Angesichts einer niederschmetternden Realität nahezu vollendeter Mendelssohn-

Verdrängung und Verleugnung der zwanziger bis vierziger Jahre musste Einstein mit

dieser (dem Wirken Mendelssohns gegenüber keineswegs unkritischen) Meinung somit

zwangsläufig ein einsamer Rufer in der Wüste bleiben -wenn er denn die Möglichkeit

gehabt hätte, in Deutschland im Jahre 1941 vernommen zu werden.

 

Wie weiland Kurt Weill im Jahre 1919 machte sich im US-amerikanischen Exil Arnold

Schönberg im Jahre 1935 Gedanken bezüglich der Relevanz Wagnerschen Denkens

über die Fähigkeit des Judentums zu Wort, Ton und Schrift. Er zementiert dadurch die

ungebrochen aktivierte, spezielle, fatale Fernwirkung von Wagners Judenmusikthesen

des Jahres 1869 im Denken exilierter Juden. Schönberg stellte also in einem, in Los

Angeles gehaltenen Vortrag, fest:

 

„Meine Damen und Herren, als wir jungen österreichisch-jüdischen Künstler

heranwuchsen, litt unsere Selbstachtung stark unter dem Druck einiger Umstände (...)

man konnte kein echter Wagnerianer sein, wenn man kein Anhänger seines

antisemitischen Aufsatzes über „Das Judentum in der Musik“ war“.

 

Schönberg dokumentiert damit unmittelbar, was nur wenige in dieser Konsequenz

erkannten und aufzeigten: „Es gibt keine Wagnermusik, getrennt von den zersetzenden

Judenfeindlichen und menschenverachtenden Theorien, welche aus der Musik und

damit aus dem musikalischen Ausdruck so reichhaltig hervorgehen, welche die Musik

wiederum so eindeutig inspirierten“.

 

Schönberg setzt fort: „Und das ist nun der Punkt, an dem man den schrecklichen

Einfluss der Rassentheorie nicht auf die Arier, sondern auf die Juden erkennen kann.

 

Letztere, ihres rassischen Selbstbewusstseins beraubt, bezweifeln die schöpferische

Fähigkeit eher als die Arier. Sie waren bestenfalls vorsichtig und glaubten nur dann,

wenn sie von Ariern bestärkt wurden, wie im Falle Einsteins oder Kreislers“

 

Schönberg verdeutlicht, wie schwach, wie eingeschüchtert in ihrem Selbstglauben die

jüdischen Intellektuellen vor einem monumentalen, mentalen demagogischen,

chauvinistisch-rhetorischen Judenvernichtungswerk Wagners also verblieben. Man

musste jenen quasi auf die Schulter klopfen und ermunternd ihnen bestätigen: „ Du

kannst doch auch etwas“. So wie freundlich gestimmte Erwachsene es gelegentlich mit

kleinen verängstigten, verzagten Kindern tun. Wie zahlreich sind die Berichte von

jüdischen Wagnerianern, welche Wagners Schaffen glühend verehrten und welche in im

Bewusstsein der vermeintlich eigenen Winzigkeit vor diesem musikalisch

monumentalem, massiven Gebirge sich in größter, bitterster Not selbst entäußerten:

„Ich bin ein Jude und ich liebe und verehre den Bayreuther Meister“.

 

Schönberg schließt seinen Text: „Aber im allgemeinen glaubten sie lieber an Arier,

sogar an mittelmäßige. Und leider führte der Mangel an Selbstvertrauen oftmals zur

Verachtung jüdischen Tuns.“

 

22. Eine „grosse Lösung“

In der Aufklärungsschrift an die deutsche Nation "Erkenne Dich selbst", als erste

Ausführung zur Schrift „Religion und Kunst“ im Jahre 1881 als Bestandteil der

sogemnannten „Regenerationsschriften“ in den Bayreuther Blättern veröffentlicht,

gemahnte Richard Wagner erneut eindringlich des Juden als “plastischen Dämons des

Verfalles der Menschheit in triumphaler Sicherheit.”

 

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Er geisselt darin des weiteren den Pluralismus eines Systems wiederstreitender

politischer Parteien als Verderber "ächten deutschen Instinkts" und heimlichen

Deckmantel prosperierenden jüdischen Lebens in Deutschland.

 

Er fordert die Deutschen daher auf, diesen Parteienstreit zu überwinden und sich, "im

Erwachen zu (...) einfach-heiliger" (nationaler) "Würde", vaterländisch einmütig

zusammenzuschliessen.

 

Abschliessend konstatiert er: "nur aber, wann der Dämon, der jene Rasenden im

Wahnsinne des Parteienkampfes um sich erhält, kein Wo und Wann zu seiner Bergung"

unter den Deutschen "mehr aufzufinden vermag, wird es auch keinen Juden mehr

geben". Den Deutschen könne somit "gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen,

nur eben unter uns wiederum denkbaren" (antisemitischen) "Bewegung" eine "grosse

Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht" sein, "sobald sie ohne Scheu, bis

aufs innerste Mark unseres Bestehens das Erkenne-Dich-selbst vollzögen, vor der

letzten Erkenntnis nicht zurückwichen". Wagner gibt am Ende des Textes zu bedenken:

 

"Dass wir, dringen wir hiermit nur tief genug vor, nach der Überwindung aller falschen

Scham, die letzte Erkenntnies nicht zu scheuen haben würden, sollte mit dem

Voranstehenden, dem ahnungsvollen angedeutet sein".

 

Ob aus diesen bedachtsam verschlüsselt vorgelegten Äußerungen Phantasien von

gewaltsamer Deportation der Juden oder Genozidhandlungen sprechen, ist Gegenstand

germanistischer und musikgeschichtlicher Erörterung. Daß Wagner im Gedanken eines

"Erwachen" Deutschlands im "Erkenne Dich selbst" die Ereignisse des Jahres 1933 Zerschlagung

des Parteienpluralismus sowie der parlamentarischen Demokratie und

triumphales Erstarken einer chauvinistisch-nationalen deutschen Erhebung ideologisch-

literarisch vorwegdenkt, geht aus der Lektüre des Traktates eindeutig

hervor.

 

Adepten des Bayreuther Meisters wussten dessen Gedankengänge denn auch

zielgerecht zu entsprechen, der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts schließlich

schwang sich zur "letzten Erkenntnis" empor und war zu der Realisierung einer "großen

Lösung" vermeintlicher Judenfrage auf politischem und kulturellem Gebiet bereit.

 

Am 3. April des Jahres 1929 hielt der Demagoge Adolf Hitler eine mehrstündige

Kampfrede im vollständig überfüllten Festsaal des Münchner Hofbräuhauses. Darin

richtete er sich gegen Pläne des Schauspieldirektors Max Reinhardts, an der

Veranstaltung Münchner Sommerfestspiele mitzuwirken.

 

Hitler sprach also u. a.: „Es handelt sich also um den Versuch, uns jüdische Kunst

aufzuoktroyieren (...) dieser Kunstwille entstammt jenem Volk, das aus sich heraus

überhaupt gar kein Kunstempfinden hat, das nicht, wie manche Mitglieder unseres

Münchner Stadtrates meinen, besonders groß ist im Kunstempfinden, sondern das

niemals überhaupt eine eigene Kunst gehabt hat, das grundsätzlich unproduktiv ist und

nur die Kunst anderer Völker zu annektieren in der Lage war, zu allen Zeiten! (...)

 

Jedenfalls hat das Judentum an sich überhaupt keinen ausgeprägten Kunstwillen,

sondern das Judentum sieht in der Kunst genau das, was es in allem sieht, nämlich eine

Geschäftsmöglichkeit. Es trennt sich von unserer Kunstauffassung meilenweit“.

 

Hitlers Rede reproduziert bis in kleinste Einzelheiten Wagners Kampfschrift „Das

Judentum in der Musik“ und bezog sich, Jens-Malte Fischer zufolge, überhaupt explizit

auf Richard Wagner.

 

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”Anders liegen meines Erachtens die Fälle von Felix Mendelssohn und Joseph Joachim,

die man kaum fremdvölkischen Musikgeschichten in dem Maße wie ihre vorgenannten

Rassengenossen zurechnen kann. Mendelssohns beste Werke (...) haben im

künstlerischen Weltbild deutscher Meister wie Schumann, Brahms, Bülow, Bruch und

Reger ausdrücklich eine Rolle gespielt, die zu den musikgeschichtlichen Tatsachen

jener Zeit gehört. (...)

 

Wenn also auch diese beiden seit 1933 praktisch für Deutschland ausfallen, so

jedenfalls mehr aus der staatspolitischen Notwendigkeit einer Gesamthaftung desJudentums für die versuchte Überfremdung deutscher Kultur, als wegen eines absoluten

Unwerts jener Werke und ihres praktisch-künstlerischen Bemühens. (...) Niemand hat

ihn wärmer bewundert als Schumann, Brahms, Bülow und Reger – das sollte jenen zu

Denken geben, die einen M. heute wegen seiner Rasse glauben herabmindern zu

müssen. “ (Hans-Joachim Moser 1938)

 

In den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes war der Umgang der

Repräsentanten deutschen Musikbetriebs mit dem als klassisch verstandenen Oeuvre

der nunmehr als jüdisch apostrophierten Komponisten Felix Mendelssohn, Gustav

Mahler und Jacques Offenbach von Unsicherheit geprägt. Es lagen vielerorts noch

keine Erfahrungswerte vor, was weiterhin gestattet sei oder nachhaltig zu unterbinden

wäre. So war schwerlich einzuschätzen, wie weit die Forderungen der Machthaber in

den Kontext traditionellen E-Musik-Repertoires einzugreifen beabsichtigten. Ob man

sich mit der Negation der Avantgarde und "Musikzersetzung" jüngeren und jüngsten

Datums befrieden, die rein von politischer Willkür betriebene Konterbewegung vor dem

Reiche der Tonalität zum Stillstand kommen würde.

 

Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Moser, legte somit im Jahre 1938 eine "Kleine

deutsche Musikgeschichte" vor. Mit Worten wie den soeben zitierten, tastete er sich

vorsichtig in vermeintliche Terra incognita vor, an das "Problem Mendelssohn", wie man

es hier einmal zu Recht benennen könnte, heran. In zahlreichen Fällen blieben Schriften

wie diese, Aufführungen Mendelssohnscher Werke gar, ohne Folgen für Autoren und

Musiker. In anderen Fällen erfolgte die Reaktion rasch und unmissverständlich, stellten

sich die Negativerfahrungswerte mit den Prämissen völkischer Kulturpropaganda

postwendend ein.